Es ist ein historischer Tag, jener 26. November 1974, als Simone Veil, Gesundheitsministerin und erste Frau in einem französischen Kabinett, ihren Gesetzesentwurf zur Legalisierung der Abtreibung vorträgt. Vor einem Parlament, das 481 Männer und neun Frauen zählt.
"Es ist meine Überzeugung als Frau - und ich entschuldige mich, dass ich dies vor einer Versammlung sage, die fast ausschließlich aus Männern besteht - dass keine Frau leichten Herzens eine Abtreibung vornehmen lässt. Es genügt, den Frauen zuhören. Es ist stets ein großes Unglück."
Das Unglück, bestand für Simone Veil im Schicksal Hunderttausender Französinnen, die jährlich illegale Abtreibungen vornahmen. Wer es sich leisten konnte, fuhr nach England oder Holland, Länder, in denen der Schwangerschaftsabbruch bereits legalisiert war. Wer nicht das nötige Geld hatte, ließ die Abtreibung oft unter unsäglichen medizinischen und hygienischen Bedingungen durchführen. Die französische Gesellschaft war für die Thematik sensibilisiert, auch durch das sogenannte "Manifest der 343", ein im Nouvel Observateur 1971 veröffentlichtes Bekenntnis von 343 Frauen, darunter Catherine Deneuve und Simone de Beauvoir, die zugaben, illegal abgetrieben zu haben - ein Vorläufer der Stern-Initiative in Deutschland. Doch die Gegner waren auch im Frankreich der Postachtundsechziger noch zahlreich. In ihrem Buch beschreibt Simone Veil eindrücklich das Ringen um den Gesetzesentwurf und ihre Erschütterung angesichts gewisser Äußerungen der Parlamentarier:
Auch wenn ich mir inzwischen der Unterstützung der meisten Ärzte sicher war, fühlte ich mich umso einsamer, je mehr Anwürfe von der Tribüne herunterschallten. Einige von ihnen waren hasserfüllt und verleumderisch, andere vermittelten mir das Gefühl, vor ein Tribunal gestellt zu werden. Der schlimmste aller Zwischenrufe kam von Jean-Marie Daillet, der von in die Verbrennungsöfen geworfenen Föten sprach. Er hat sich im Nachhinein dafür entschuldigt.
Ein unsachlicher, skandalöser Angriff auf die Jüdin und KZ-Überlebende Veil, die in ihren Memoiren immer wieder eine kaum verhohlene Enttäuschung anklingen lässt über den Umgang Frankreichs mit dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung. Im Mai 1945 kehrt Simone Veil, damals 18 Jahre alt, aus dem Lager Bergen-Belsen zurück in ihre französische Heimat. Sie hat Auschwitz überlebt, die Todesmärsche. Sie hat ihre Mutter verloren, Vater und Bruder sind verschollen.
"Als wir zurückkehrten, war das sehr schwer für uns, viele Familien hatten große Verluste hinnehmen müssen und begriffen nicht, dass einige zurückkehrten, der Großteil aber nicht. Sie kamen mit dem, was wir erlebt hatten gar nicht zurecht, das war schwer zu vermitteln und was wir durchgemacht hatten, interessierte auch nicht. Wir sind daher sehr viel unter uns geblieben, da konnten wir über unsere Erfahrungen im Lager sprechen."
Erst sehr viel später, am 16. Juli 1995, bekannte Präsident Jacques Chirac öffentlich, dass sich die Vichy-Regierung zum Mitstreiter der deutschen Besatzer gemacht hatte. Eine Aussage, auf die Simone Veil seit ihrer Rückkehr aus den deutschen Lagern gewartet hatte. Doch immer wieder betont sie auch ihre Dankbarkeit gegenüber ihrer französischen Heimat. "Und dennoch leben" teilt sich in zwei sehr gegensätzliche Teile: mitreißend, wenn auch nie allzu persönlich, beschreibt Simone Veil ihre Kindheit und ihre Erfahrung des Holocausts. Es folgt ein eher faktischer Teil, in welchem sie ihre berufliche Karriere nachzeichnet und ihr Privatleben kaum eine Rolle spielt. Simone Veil studiert Jura und schreibt sich, inzwischen Mutter von drei Kindern, an der Pariser Anwaltskammer ein. Von 1957 an arbeitet sie in der Strafvollzugsverwaltung des Justizministeriums und prangert die - bis heute, wie sie in ihren Memoiren anmerkt - katastrophalen Zustände in französischen Gefängnissen an. Schließlich gelangte Simone Veil, die nur für einige Jahre ein Parteibuch besaß, das der Zentrumspartei UDF - auf geradezu märchenhaftem Weg an die Regierung: Jacques Chirac, frisch berufener Premierminister unter Präsident Giscard d'Estaing, war auf die sie aufmerksam geworden.
Eines Abends, als wir bei Freunden zu Abend aßen, rief mich die Gastgeberin ans Telefon, jemand wolle mich in einer dringenden Angelegenheit sprechen. Dieser Jemand war Jacques Chirac, der mich fragte, ob ich gegebenenfalls bereit sei, Mitglied seiner Regierung zu werden. ( ... )So kam es, dass ich schon am folgenden Morgen mein Amt als Gesundheitsministerin antrat, wobei ich überzeugt war, dass ein Neuling wie ich schon bald irgendeine große Dummheit begehen würde, die ihm die baldige Rückkehr nach Hause bescheren würde.
Simone Veil bleibt fünf Jahre im Amt und wird 1993 ein zweites Mal berufen, diesmal als Gesundheits- und Sozialministerin. Für viele Französinnen ist sie bis heute eine Heldin. Viele Männer, besonders in ihrem politischen Umfeld, betrachten sie hingegen kritisch. Oft hört sie den Satz: "Meine Frau ist eine große Bewunderin von ihnen" aus dem Munde einer ihrer Kollegen, "was wiederum implizierte", schreibt sie ernüchtert, "dass er selbst das genaue Gegenteil dachte". Doch die Mächtigen sind weiterhin auf ihrer Seite: 1979 überredet Valéry Giscard d'Estaing sie, für die Europawahlen zu kandidieren und im Juni desselben Jahres wird sie erste Präsidentin des direkt gewählten Europäischen Parlaments. Von Anfang an engagiert sich die überzeugte Europäerin dafür, den Einfluss der noch jungen, nur aus neun Ländern bestehenden Gemeinschaft, zu vergrößern. Andererseits kritisiert sie bis heute die EU-Erweiterung auf 27 Länder und ist bekennende Gegnerin eines türkischen Beitritts. Als Parlamentspräsidentin bereist Simone Veil ganz Europa. Am 22. Januar 1981 ist sie zu Gast im Abgeordnetenhaus in Berlin.
"Um ernst genommen zu werden, muss Europa als strukturierte politische und wirtschaftliche Einheit auftreten. Hauptziel bleiben die von den Verträgen von Rom und Paris festgelegten Vorhaben: nämlich der Ausbau und die Vollendung unseres europäischen Hauses. Dass dieser Weg nach vorn von einer weltweiten Wirtschaftskrise erschwert wird, ist nur ein Grund mehr, sich nicht in theoretischen Konflikte zu verstricken, in denen einzig nationale Interessen zu dominieren scheinen."
Ihre Rede vor den Berliner Abgeordneten behält auch 28 Jahre später die gleiche mahnende Gültigkeit. Auch in einem erweiterten und höher entwickelten Europa, das inmitten der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit steckt. "Und dennoch leben" sind die Memoiren einer großen Europäerin, deren Engagement für das Bündnis auch im Alter von 82 Jahren nicht nachgelassen hat. Mit ihrem Namen aber wird jenes Gesetz verbunden bleiben, das schließlich am 29. November 1974 um 3Uhr30 morgens vom französischen Parlament angenommen wird. Man nennt es bis heute "la loi Veil", das Veil-Gesetz.
Tilla Fuchs über Simone Veil: "Und dennoch leben", Aufbau Verlag, Berlin 2009, 22,95 Euro.
"Es ist meine Überzeugung als Frau - und ich entschuldige mich, dass ich dies vor einer Versammlung sage, die fast ausschließlich aus Männern besteht - dass keine Frau leichten Herzens eine Abtreibung vornehmen lässt. Es genügt, den Frauen zuhören. Es ist stets ein großes Unglück."
Das Unglück, bestand für Simone Veil im Schicksal Hunderttausender Französinnen, die jährlich illegale Abtreibungen vornahmen. Wer es sich leisten konnte, fuhr nach England oder Holland, Länder, in denen der Schwangerschaftsabbruch bereits legalisiert war. Wer nicht das nötige Geld hatte, ließ die Abtreibung oft unter unsäglichen medizinischen und hygienischen Bedingungen durchführen. Die französische Gesellschaft war für die Thematik sensibilisiert, auch durch das sogenannte "Manifest der 343", ein im Nouvel Observateur 1971 veröffentlichtes Bekenntnis von 343 Frauen, darunter Catherine Deneuve und Simone de Beauvoir, die zugaben, illegal abgetrieben zu haben - ein Vorläufer der Stern-Initiative in Deutschland. Doch die Gegner waren auch im Frankreich der Postachtundsechziger noch zahlreich. In ihrem Buch beschreibt Simone Veil eindrücklich das Ringen um den Gesetzesentwurf und ihre Erschütterung angesichts gewisser Äußerungen der Parlamentarier:
Auch wenn ich mir inzwischen der Unterstützung der meisten Ärzte sicher war, fühlte ich mich umso einsamer, je mehr Anwürfe von der Tribüne herunterschallten. Einige von ihnen waren hasserfüllt und verleumderisch, andere vermittelten mir das Gefühl, vor ein Tribunal gestellt zu werden. Der schlimmste aller Zwischenrufe kam von Jean-Marie Daillet, der von in die Verbrennungsöfen geworfenen Föten sprach. Er hat sich im Nachhinein dafür entschuldigt.
Ein unsachlicher, skandalöser Angriff auf die Jüdin und KZ-Überlebende Veil, die in ihren Memoiren immer wieder eine kaum verhohlene Enttäuschung anklingen lässt über den Umgang Frankreichs mit dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung. Im Mai 1945 kehrt Simone Veil, damals 18 Jahre alt, aus dem Lager Bergen-Belsen zurück in ihre französische Heimat. Sie hat Auschwitz überlebt, die Todesmärsche. Sie hat ihre Mutter verloren, Vater und Bruder sind verschollen.
"Als wir zurückkehrten, war das sehr schwer für uns, viele Familien hatten große Verluste hinnehmen müssen und begriffen nicht, dass einige zurückkehrten, der Großteil aber nicht. Sie kamen mit dem, was wir erlebt hatten gar nicht zurecht, das war schwer zu vermitteln und was wir durchgemacht hatten, interessierte auch nicht. Wir sind daher sehr viel unter uns geblieben, da konnten wir über unsere Erfahrungen im Lager sprechen."
Erst sehr viel später, am 16. Juli 1995, bekannte Präsident Jacques Chirac öffentlich, dass sich die Vichy-Regierung zum Mitstreiter der deutschen Besatzer gemacht hatte. Eine Aussage, auf die Simone Veil seit ihrer Rückkehr aus den deutschen Lagern gewartet hatte. Doch immer wieder betont sie auch ihre Dankbarkeit gegenüber ihrer französischen Heimat. "Und dennoch leben" teilt sich in zwei sehr gegensätzliche Teile: mitreißend, wenn auch nie allzu persönlich, beschreibt Simone Veil ihre Kindheit und ihre Erfahrung des Holocausts. Es folgt ein eher faktischer Teil, in welchem sie ihre berufliche Karriere nachzeichnet und ihr Privatleben kaum eine Rolle spielt. Simone Veil studiert Jura und schreibt sich, inzwischen Mutter von drei Kindern, an der Pariser Anwaltskammer ein. Von 1957 an arbeitet sie in der Strafvollzugsverwaltung des Justizministeriums und prangert die - bis heute, wie sie in ihren Memoiren anmerkt - katastrophalen Zustände in französischen Gefängnissen an. Schließlich gelangte Simone Veil, die nur für einige Jahre ein Parteibuch besaß, das der Zentrumspartei UDF - auf geradezu märchenhaftem Weg an die Regierung: Jacques Chirac, frisch berufener Premierminister unter Präsident Giscard d'Estaing, war auf die sie aufmerksam geworden.
Eines Abends, als wir bei Freunden zu Abend aßen, rief mich die Gastgeberin ans Telefon, jemand wolle mich in einer dringenden Angelegenheit sprechen. Dieser Jemand war Jacques Chirac, der mich fragte, ob ich gegebenenfalls bereit sei, Mitglied seiner Regierung zu werden. ( ... )So kam es, dass ich schon am folgenden Morgen mein Amt als Gesundheitsministerin antrat, wobei ich überzeugt war, dass ein Neuling wie ich schon bald irgendeine große Dummheit begehen würde, die ihm die baldige Rückkehr nach Hause bescheren würde.
Simone Veil bleibt fünf Jahre im Amt und wird 1993 ein zweites Mal berufen, diesmal als Gesundheits- und Sozialministerin. Für viele Französinnen ist sie bis heute eine Heldin. Viele Männer, besonders in ihrem politischen Umfeld, betrachten sie hingegen kritisch. Oft hört sie den Satz: "Meine Frau ist eine große Bewunderin von ihnen" aus dem Munde einer ihrer Kollegen, "was wiederum implizierte", schreibt sie ernüchtert, "dass er selbst das genaue Gegenteil dachte". Doch die Mächtigen sind weiterhin auf ihrer Seite: 1979 überredet Valéry Giscard d'Estaing sie, für die Europawahlen zu kandidieren und im Juni desselben Jahres wird sie erste Präsidentin des direkt gewählten Europäischen Parlaments. Von Anfang an engagiert sich die überzeugte Europäerin dafür, den Einfluss der noch jungen, nur aus neun Ländern bestehenden Gemeinschaft, zu vergrößern. Andererseits kritisiert sie bis heute die EU-Erweiterung auf 27 Länder und ist bekennende Gegnerin eines türkischen Beitritts. Als Parlamentspräsidentin bereist Simone Veil ganz Europa. Am 22. Januar 1981 ist sie zu Gast im Abgeordnetenhaus in Berlin.
"Um ernst genommen zu werden, muss Europa als strukturierte politische und wirtschaftliche Einheit auftreten. Hauptziel bleiben die von den Verträgen von Rom und Paris festgelegten Vorhaben: nämlich der Ausbau und die Vollendung unseres europäischen Hauses. Dass dieser Weg nach vorn von einer weltweiten Wirtschaftskrise erschwert wird, ist nur ein Grund mehr, sich nicht in theoretischen Konflikte zu verstricken, in denen einzig nationale Interessen zu dominieren scheinen."
Ihre Rede vor den Berliner Abgeordneten behält auch 28 Jahre später die gleiche mahnende Gültigkeit. Auch in einem erweiterten und höher entwickelten Europa, das inmitten der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit steckt. "Und dennoch leben" sind die Memoiren einer großen Europäerin, deren Engagement für das Bündnis auch im Alter von 82 Jahren nicht nachgelassen hat. Mit ihrem Namen aber wird jenes Gesetz verbunden bleiben, das schließlich am 29. November 1974 um 3Uhr30 morgens vom französischen Parlament angenommen wird. Man nennt es bis heute "la loi Veil", das Veil-Gesetz.
Tilla Fuchs über Simone Veil: "Und dennoch leben", Aufbau Verlag, Berlin 2009, 22,95 Euro.