"Rangatira" bedeutet in der Sprache der Maori "Anführer" oder "Chef", meint eine oder auch mehrere Personen gleichzeitig, männlich oder weiblich. Ihnen kommt eine besondere Rolle innerhalb einer Maori-Gemeinschaft zu. Diejenigen, die diesen Titel tragen, wissen, dass sie dementsprechend denken und handeln müssen.
"Das Wort steht für Verantwortung, Respekt und Würde. Über diese Themen wollte ich in meinem Buch schreiben. Und deshalb dachte ich, dass 'Rangatira' ein guter Titel für das Buch sein könnte."
Der gleichnamige Roman der neuseeländischen Schriftstellerin Paula Morris ist jenseits seines handlungsorientierten Ansatzes ein symbolhaftes Buch, in dem es um Identität und um unterschiedliche Arten des Kampfes um ein letztendlich verloren gegangenes Terrain geht.
"Rangatira" verknüpft Historisches mit Fiktion so geschickt miteinander, dass durch die Literatur eine Wahrheit offengelegt wird, die viel über den Menschen aussagt und die weit über den von Morris erzählten Zeitraum hinausweist und bis in unsere Gegenwart strahlt.
Der Roman spielt im Neuseeland und England des 19. Jahrhunderts. Die Hauptfigur ist Paratene Te Manu; ein Rangatira, ein Anführer des maorischen Stammes der Ngati-Wai, dem auch die Halb-Maori Paula Morris angehört. Fast zehn Jahre lang recherchierte die Autorin über ihren Vorfahren Paratene Te Manu, las seine Aufzeichnungen, sammelte Unmengen an historischem Material und formte daraus das eindringliche Porträt eines Mannes, anhand dessen die Geschichte der britischen Kolonialherrschaft in Neuseeland erzählt wird.
"Er verbringt sein gesamtes Leben damit, zu kämpfen. Als junger Mann in Stammeskonfrontationen mit Waffen und Gewehren. Als alter Mann kämpfte er um sein Land gegen die Kolonialherren vor Gericht. Das steht auch symbolisch für den Wandel in Neuseeland. Man kämpfte als Maori nicht mehr mit seinen Händen, sondern mit seinem Verstand, was eine viel komplexere Angelegenheit darstellt. Paratenes Clan verlor seine Heimatinsel, 'Little Barrier Island', die durch einen Parlamentsbeschluss zu einem Vogelreservat wurde. Ich habe die Insel nie besucht, denn man kann dort nicht einfach hin. Mein Roman ist auch eine Art Zurückforderung dieses Teils unserer Familiengeschichte. Ich habe nichts dagegen, dass die Insel immer noch ein Vogelreservat ist, besser als ein Wohnort für Reiche mit ihren Strandhäusern! Aber es fühlt sich komisch an, wenn man weiß, dass ein Teil deiner Geschichte für immer verloren ist. Vielen Menschen auf der Welt ergeht es so, dass sie ihr Eigentum nicht zurückfordern können. Aber es gibt eine Art emotionale Zurückforderung, die wahrscheinlich auch der Ausgangspunkt meines Buchs ist."
Die Romanhandlung nimmt im Jahr 1886 ihren Auftakt. Als alter Mann erinnert sich Paratene Te Manu an die Ereignisse des Jahres 1863, als er nach England aufbrach. Dort wartete die Bevölkerung, ja sogar Queen Victoria und ihr gesamter Hofstaat erwartungsvoll auf den exotischen Besuch aus Übersee. Paula Morris lässt ihren Romanhelden darüber in einer einfachen, aber rhythmisierten Sprache erzählen, was auch in der gelungenen deutschen Übersetzung von Marion Hertle nicht verloren geht.
"Es war nicht einfach, aus der Ich-Perspektive zu schreiben, aber ich bin froh, dass ich mich dafür entschieden habe. Es war einfach eine größere Herausforderung für mich, denn ich musste mir ständig vorstellen, wie meine Hauptfigur die Welt wahrnahm. Ein alter Mann, der im 19. Jahrhundert lebt, der Maori ist und der in ein vorchristliches Neuseeland hineingeboren wurde. Ich musste seine Stimme, seinen Ton treffen, und das war sehr schwierig. Aber es schien die einzig mögliche Art und Weise zu sein, die Geschichte zu erzählen. Partene Te Manu hinterließ auch eigene Aufzeichnungen, sodass ich einen Anhaltspunkt hatte. Das recherchierte Material konnte ich aber nicht eins zu eins verwenden, weil ungefähr achtzig Prozent davon für die Erzählperspektive zweitrangig war."
Von britischen Kolonialherren überredet und von christlichen Missionaren auch später noch getauft, nimmt Paratene Te Manu mit anderen Rangatira die beschwerliche Reise auf sich. Zuhause hält ihn nichts mehr, nachdem sein Bruder und auch sein Sohn gestorben sind. Die Reise nach England ermöglicht dem Maori, seinem alten Leben entfliehen zu können. Letztendlich sind es auch große Neugierde und Naivität, die ihn antreiben und bewegen, die beschwerliche Überfahrt auf sich zu nehmen und bis zur Ankunft an der englischen Küste mit seinen mitreisenden Landsleuten unter Deck wie Vieh zu verharren.
Wasser, das in der Maori-Philosophie für Wahrheit steht, bringt die Häuptlinge nicht nur an ihr Ziel, sondern auch an das Ufer der Erkenntnis.
In England angekommen, offenbart sich ihnen ein Land, das von sozialer Ungerechtigkeit und bitterer Armut gezeichnet ist. Auf Paratene, der in seinem Selbstverständnis als Rangatira für seinen Clan immer vorausschauend und fürsorglich agiert, wirken diese Eindrücke schockierend und unerklärlich. Warum lässt ein Volk zu, dass es einem Teil der Bevölkerung schlecht ergeht?
"Das war eine der Fragen im Roman: Können nur die Maori etwas von den Briten lernen oder nicht auch die Briten etwas von den Maori? Über deren Sicht auf die Welt? Über deren Denkweise? Für die Maori hatte ihr einjähriger Aufenthalt in England in vielerlei Hinsicht etwas Bedrückendes. Denn nicht nur sie schauten sich um, sondern waren selbst unter ständiger Beobachtung. Sie sahen anders aus als die Engländer. Schaulustige folgten ihnen auf Schritt und Tritt und begafften sie während arrangierter Veranstaltungen. Man forderte sie auf, traditionelle Kostüme anzuziehen, was sie nicht mochten. Und diejenigen, die wie Paratene Te Manu ein Gesichtstattoo trugen, waren einfach nur Freaks. Sie fühlten sich als Outsider, außerhalb der vorherrschenden Kultur, mit dem Gefühl, nie richtig dazuzugehören. Und das interessiert mich sowohl in meinen anderen Büchern, die in der Gegenwart spielen, als auch in diesem hier."
In Paula Morris' Roman "Rangatira" geht es auf der einen Seite um das Bild, das sich Menschen voneinander machen und dabei nur das sehen, was sie sehen wollen. Der so entstandene Eindruck spiegelt eine subjektive Wahrheit wieder.
Auf der anderen Seite zeigt Paula Morris, dass nicht nur die Briten ihre Sicht der Dinge haben und dementsprechend denken und agieren, sondern auch die Maori. Paratene Te Manu filtert seine Reiseeindrücke gemäß seiner kulturellen Herkunft, die er als Leitbild in sich trägt. Paratene Te Manu äußerst in seiner Erzählung sein Unverständnis, da er beispielsweise nicht versteht, warum es in englischen Museen ausgestopfte Krokodile gibt, in denen die Maori wiederum Ahnen sehen, die unangenehme Botschaften zu verkünden haben.
In Zusammenhang mit diesem kulturellen Clash, diesem Zusammenprall verschiedener Kulturen konfrontiert Paula Morris ihren Maori-Häuptling mit dem Maler Gottfried Lindauer. Paratene Te Manu sitzt ihm im Roman Porträt und berichtet ihm über sein Leben und die Englandreise. Gottfried Lindauer gab es tatsächlich. Er war ein gefragter Porträtmaler des 19. Jahrhunderts und malte auch einige Maori-Häuptlinge, darunter Paratene Te Manu. Sein Porträt befindet sich heute im Besitz der Auckland City Art Gallery und wird selten gezeigt.
Genauso wie die Erinnerung einen blinden Fleck aufweise, sei Lindauers Porträt nicht präzise, meint Paula Morris, deren Roman ebenso keinen absoluten Wahrheitsanspruch erheben möchte.
"Ich weiß nicht, wie genau dieses Porträt wirklich ist. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass Lindauer Paratene nie getroffen hat und das Porträt nach einer Fotovorlage gemalt hat. Dass Paratene ihm Modell gesessen hat, habe ich erfunden! Im 19. Jahrhundert war es in Neuseeland üblich, dass die Porträts nicht für den Modellsitzenden selbst, sondern für weiße Reiche angefertigt wurden. Diese Auftragsarbeiten landeten dann in Privatsammlungen. Dabei veränderte der Maler Details, wie das Gesichtstattoo, auf Maori 'Moko' genannt. Damit wollte man das Bild gefälliger machen. Mokos erschienen somit geometrischer, gaben aber das tatsächliche Tattoo des Porträtierten nicht wieder. Man kann Lindauers Gemälde nicht wirklich trauen. Auf keinen Fall! Und diese Idee, dass man Geschichte nicht trauen kann, mochte ich sehr. Wir können den hinterlassenen Gemälden nicht trauen, auch nicht den verfassten Geschichtsbüchern, Briefen und Tagebüchern, weil jeder immer seine eigene Sicht der Dinge hat. Das gilt auch für die Briefe, die Paratene über seine Reise nach England schrieb, die ich gelesen habe. Er verfasste sie, weil ihn Missionare dazu aufgefordert hatten, um mit den Aufzeichnungen ein schlechtes Licht auf diejenigen werfen zu können, die die Rangatira nach England brachten. Also gab es auch da einen Hintergedanken und eine Taktik. Vielem kann man also nicht trauen. Aber für einen Schriftsteller ist das toll. Das macht Spaß."
Der Roman ist auch ein spannend inszenierter Ausschnitt der Geschichte. Dabei wirkt das neuseeländische Setting mit den in den Text eingeflossenen Maori-Worten auf Europäer exotisch und eröffnet eine neue Perspektive, die aber auch die kritische Hinterfragung der europäischen Kultur ermöglicht. Denn in "Rangatira" geht es auch um die Überwindung eines Überlegenheitsgefühls.
"Wie viele Maori spreche ich die Sprache nicht fließend. Aber wie die meisten Neuseeländer kenne auch ich viele Worte. Deshalb gibt es in der englischen Ausgabe des Romans auch kein Glossar. In der deutschen Ausgabe gibt es das natürlich. Das ist wichtig, denn in der Maori-Sprache stehen hinter den Worten auch Konzepte! Zum Beispiel das Wort 'Matua', was auf Maori sowohl Vater als auch Onkel bedeutet. Das offenbart viel darüber, wie die Maori Familienstrukturen verstehen. Sie sind nämlich viel fließender. So kann jemand eine sehr wichtige Rolle innerhalb einer Familie einnehmen, ohne gleichzeitig der Vater sein zu müssen. Sprache kann der Schlüssel dazu sein, jemandes Identität oder Wahrnehmung der Welt verstehen zu können. Es ist mir wichtig, verschiedene Fenster zu haben, mit denen ich in die Welt schauen kann. Das ist auch für Leser wichtig."
So ist Paula Morris' Roman "Rangatira" ein wahres Leseabenteuer. "Es gab keine Wechselwirkung, kein Gleichgewicht", erinnert sich Paratene Te Manu an seinen Englandaufenthalt. Doch Paula Morris vermag Letzteres in ihrem Roman herzustellen.
In ihrem literarischen Spiel zwischen Wissen und Vorurteil, Wunschvorstellung und Tatsache, Vergangenheit und Gegenwart stellt sie gekonnt ein Gleichgewicht zwischen Fiktion und Wahrheit her.
Paula Morris: Rangatira
Aus dem Englischen von Marion Hertle, mit Illustrationen von Laura Jurt, Verlag Walde + Graf, 2012, 272 Seiten. 22,95 Euro
"Das Wort steht für Verantwortung, Respekt und Würde. Über diese Themen wollte ich in meinem Buch schreiben. Und deshalb dachte ich, dass 'Rangatira' ein guter Titel für das Buch sein könnte."
Der gleichnamige Roman der neuseeländischen Schriftstellerin Paula Morris ist jenseits seines handlungsorientierten Ansatzes ein symbolhaftes Buch, in dem es um Identität und um unterschiedliche Arten des Kampfes um ein letztendlich verloren gegangenes Terrain geht.
"Rangatira" verknüpft Historisches mit Fiktion so geschickt miteinander, dass durch die Literatur eine Wahrheit offengelegt wird, die viel über den Menschen aussagt und die weit über den von Morris erzählten Zeitraum hinausweist und bis in unsere Gegenwart strahlt.
Der Roman spielt im Neuseeland und England des 19. Jahrhunderts. Die Hauptfigur ist Paratene Te Manu; ein Rangatira, ein Anführer des maorischen Stammes der Ngati-Wai, dem auch die Halb-Maori Paula Morris angehört. Fast zehn Jahre lang recherchierte die Autorin über ihren Vorfahren Paratene Te Manu, las seine Aufzeichnungen, sammelte Unmengen an historischem Material und formte daraus das eindringliche Porträt eines Mannes, anhand dessen die Geschichte der britischen Kolonialherrschaft in Neuseeland erzählt wird.
"Er verbringt sein gesamtes Leben damit, zu kämpfen. Als junger Mann in Stammeskonfrontationen mit Waffen und Gewehren. Als alter Mann kämpfte er um sein Land gegen die Kolonialherren vor Gericht. Das steht auch symbolisch für den Wandel in Neuseeland. Man kämpfte als Maori nicht mehr mit seinen Händen, sondern mit seinem Verstand, was eine viel komplexere Angelegenheit darstellt. Paratenes Clan verlor seine Heimatinsel, 'Little Barrier Island', die durch einen Parlamentsbeschluss zu einem Vogelreservat wurde. Ich habe die Insel nie besucht, denn man kann dort nicht einfach hin. Mein Roman ist auch eine Art Zurückforderung dieses Teils unserer Familiengeschichte. Ich habe nichts dagegen, dass die Insel immer noch ein Vogelreservat ist, besser als ein Wohnort für Reiche mit ihren Strandhäusern! Aber es fühlt sich komisch an, wenn man weiß, dass ein Teil deiner Geschichte für immer verloren ist. Vielen Menschen auf der Welt ergeht es so, dass sie ihr Eigentum nicht zurückfordern können. Aber es gibt eine Art emotionale Zurückforderung, die wahrscheinlich auch der Ausgangspunkt meines Buchs ist."
Die Romanhandlung nimmt im Jahr 1886 ihren Auftakt. Als alter Mann erinnert sich Paratene Te Manu an die Ereignisse des Jahres 1863, als er nach England aufbrach. Dort wartete die Bevölkerung, ja sogar Queen Victoria und ihr gesamter Hofstaat erwartungsvoll auf den exotischen Besuch aus Übersee. Paula Morris lässt ihren Romanhelden darüber in einer einfachen, aber rhythmisierten Sprache erzählen, was auch in der gelungenen deutschen Übersetzung von Marion Hertle nicht verloren geht.
"Es war nicht einfach, aus der Ich-Perspektive zu schreiben, aber ich bin froh, dass ich mich dafür entschieden habe. Es war einfach eine größere Herausforderung für mich, denn ich musste mir ständig vorstellen, wie meine Hauptfigur die Welt wahrnahm. Ein alter Mann, der im 19. Jahrhundert lebt, der Maori ist und der in ein vorchristliches Neuseeland hineingeboren wurde. Ich musste seine Stimme, seinen Ton treffen, und das war sehr schwierig. Aber es schien die einzig mögliche Art und Weise zu sein, die Geschichte zu erzählen. Partene Te Manu hinterließ auch eigene Aufzeichnungen, sodass ich einen Anhaltspunkt hatte. Das recherchierte Material konnte ich aber nicht eins zu eins verwenden, weil ungefähr achtzig Prozent davon für die Erzählperspektive zweitrangig war."
Von britischen Kolonialherren überredet und von christlichen Missionaren auch später noch getauft, nimmt Paratene Te Manu mit anderen Rangatira die beschwerliche Reise auf sich. Zuhause hält ihn nichts mehr, nachdem sein Bruder und auch sein Sohn gestorben sind. Die Reise nach England ermöglicht dem Maori, seinem alten Leben entfliehen zu können. Letztendlich sind es auch große Neugierde und Naivität, die ihn antreiben und bewegen, die beschwerliche Überfahrt auf sich zu nehmen und bis zur Ankunft an der englischen Küste mit seinen mitreisenden Landsleuten unter Deck wie Vieh zu verharren.
Wasser, das in der Maori-Philosophie für Wahrheit steht, bringt die Häuptlinge nicht nur an ihr Ziel, sondern auch an das Ufer der Erkenntnis.
In England angekommen, offenbart sich ihnen ein Land, das von sozialer Ungerechtigkeit und bitterer Armut gezeichnet ist. Auf Paratene, der in seinem Selbstverständnis als Rangatira für seinen Clan immer vorausschauend und fürsorglich agiert, wirken diese Eindrücke schockierend und unerklärlich. Warum lässt ein Volk zu, dass es einem Teil der Bevölkerung schlecht ergeht?
"Das war eine der Fragen im Roman: Können nur die Maori etwas von den Briten lernen oder nicht auch die Briten etwas von den Maori? Über deren Sicht auf die Welt? Über deren Denkweise? Für die Maori hatte ihr einjähriger Aufenthalt in England in vielerlei Hinsicht etwas Bedrückendes. Denn nicht nur sie schauten sich um, sondern waren selbst unter ständiger Beobachtung. Sie sahen anders aus als die Engländer. Schaulustige folgten ihnen auf Schritt und Tritt und begafften sie während arrangierter Veranstaltungen. Man forderte sie auf, traditionelle Kostüme anzuziehen, was sie nicht mochten. Und diejenigen, die wie Paratene Te Manu ein Gesichtstattoo trugen, waren einfach nur Freaks. Sie fühlten sich als Outsider, außerhalb der vorherrschenden Kultur, mit dem Gefühl, nie richtig dazuzugehören. Und das interessiert mich sowohl in meinen anderen Büchern, die in der Gegenwart spielen, als auch in diesem hier."
In Paula Morris' Roman "Rangatira" geht es auf der einen Seite um das Bild, das sich Menschen voneinander machen und dabei nur das sehen, was sie sehen wollen. Der so entstandene Eindruck spiegelt eine subjektive Wahrheit wieder.
Auf der anderen Seite zeigt Paula Morris, dass nicht nur die Briten ihre Sicht der Dinge haben und dementsprechend denken und agieren, sondern auch die Maori. Paratene Te Manu filtert seine Reiseeindrücke gemäß seiner kulturellen Herkunft, die er als Leitbild in sich trägt. Paratene Te Manu äußerst in seiner Erzählung sein Unverständnis, da er beispielsweise nicht versteht, warum es in englischen Museen ausgestopfte Krokodile gibt, in denen die Maori wiederum Ahnen sehen, die unangenehme Botschaften zu verkünden haben.
In Zusammenhang mit diesem kulturellen Clash, diesem Zusammenprall verschiedener Kulturen konfrontiert Paula Morris ihren Maori-Häuptling mit dem Maler Gottfried Lindauer. Paratene Te Manu sitzt ihm im Roman Porträt und berichtet ihm über sein Leben und die Englandreise. Gottfried Lindauer gab es tatsächlich. Er war ein gefragter Porträtmaler des 19. Jahrhunderts und malte auch einige Maori-Häuptlinge, darunter Paratene Te Manu. Sein Porträt befindet sich heute im Besitz der Auckland City Art Gallery und wird selten gezeigt.
Genauso wie die Erinnerung einen blinden Fleck aufweise, sei Lindauers Porträt nicht präzise, meint Paula Morris, deren Roman ebenso keinen absoluten Wahrheitsanspruch erheben möchte.
"Ich weiß nicht, wie genau dieses Porträt wirklich ist. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass Lindauer Paratene nie getroffen hat und das Porträt nach einer Fotovorlage gemalt hat. Dass Paratene ihm Modell gesessen hat, habe ich erfunden! Im 19. Jahrhundert war es in Neuseeland üblich, dass die Porträts nicht für den Modellsitzenden selbst, sondern für weiße Reiche angefertigt wurden. Diese Auftragsarbeiten landeten dann in Privatsammlungen. Dabei veränderte der Maler Details, wie das Gesichtstattoo, auf Maori 'Moko' genannt. Damit wollte man das Bild gefälliger machen. Mokos erschienen somit geometrischer, gaben aber das tatsächliche Tattoo des Porträtierten nicht wieder. Man kann Lindauers Gemälde nicht wirklich trauen. Auf keinen Fall! Und diese Idee, dass man Geschichte nicht trauen kann, mochte ich sehr. Wir können den hinterlassenen Gemälden nicht trauen, auch nicht den verfassten Geschichtsbüchern, Briefen und Tagebüchern, weil jeder immer seine eigene Sicht der Dinge hat. Das gilt auch für die Briefe, die Paratene über seine Reise nach England schrieb, die ich gelesen habe. Er verfasste sie, weil ihn Missionare dazu aufgefordert hatten, um mit den Aufzeichnungen ein schlechtes Licht auf diejenigen werfen zu können, die die Rangatira nach England brachten. Also gab es auch da einen Hintergedanken und eine Taktik. Vielem kann man also nicht trauen. Aber für einen Schriftsteller ist das toll. Das macht Spaß."
Der Roman ist auch ein spannend inszenierter Ausschnitt der Geschichte. Dabei wirkt das neuseeländische Setting mit den in den Text eingeflossenen Maori-Worten auf Europäer exotisch und eröffnet eine neue Perspektive, die aber auch die kritische Hinterfragung der europäischen Kultur ermöglicht. Denn in "Rangatira" geht es auch um die Überwindung eines Überlegenheitsgefühls.
"Wie viele Maori spreche ich die Sprache nicht fließend. Aber wie die meisten Neuseeländer kenne auch ich viele Worte. Deshalb gibt es in der englischen Ausgabe des Romans auch kein Glossar. In der deutschen Ausgabe gibt es das natürlich. Das ist wichtig, denn in der Maori-Sprache stehen hinter den Worten auch Konzepte! Zum Beispiel das Wort 'Matua', was auf Maori sowohl Vater als auch Onkel bedeutet. Das offenbart viel darüber, wie die Maori Familienstrukturen verstehen. Sie sind nämlich viel fließender. So kann jemand eine sehr wichtige Rolle innerhalb einer Familie einnehmen, ohne gleichzeitig der Vater sein zu müssen. Sprache kann der Schlüssel dazu sein, jemandes Identität oder Wahrnehmung der Welt verstehen zu können. Es ist mir wichtig, verschiedene Fenster zu haben, mit denen ich in die Welt schauen kann. Das ist auch für Leser wichtig."
So ist Paula Morris' Roman "Rangatira" ein wahres Leseabenteuer. "Es gab keine Wechselwirkung, kein Gleichgewicht", erinnert sich Paratene Te Manu an seinen Englandaufenthalt. Doch Paula Morris vermag Letzteres in ihrem Roman herzustellen.
In ihrem literarischen Spiel zwischen Wissen und Vorurteil, Wunschvorstellung und Tatsache, Vergangenheit und Gegenwart stellt sie gekonnt ein Gleichgewicht zwischen Fiktion und Wahrheit her.
Paula Morris: Rangatira
Aus dem Englischen von Marion Hertle, mit Illustrationen von Laura Jurt, Verlag Walde + Graf, 2012, 272 Seiten. 22,95 Euro