Karin Fischer: In den vergangenen Tagen sind in Österreich, von Österreich und durch Österreich Tausende von Flüchtlingen ohne Vorwarnung oder Versorgung einfach nach Ostbayern durchgeschleust worden. Das hat dort zu so chaotischen Situationen geführt, dass Zeitungskommentatoren sich an düstere Gruselfilme erinnert sehen. Inzwischen hat die österreichische Regierung zugesagt, wieder zu einem geordneteren Verfahren zurückkehren zu wollen. Trotzdem bleibt das Bild eines Ausstiegs aus dem Solidaritätsgedanken. Nach dem Bild, das die Regierung des Nachbarlandes in dieser Woche abgibt, habe ich den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse vor der Sendung gefragt.
Robert Menasse: Ich glaube, es wird niemand widersprechen, wenn ich sage, das Bild, das Österreich abgegeben hat in dieser Situation, war ein sehr gespaltenes. Auf der einen Seite hat man ein massives Versagen der Politik beobachten können, und auf der anderen Seite ein enormes Engagement der Zivilgesellschaft und auch staatlicher Institutionen, wie zum Beispiel der österreichischen Bundesbahn. Und gleichzeitig war aber auch die österreichische Gesellschaft massiv gespalten, oder ist es, besser gesagt, weil auf der einen Seite wächst in beängstigendem Ausmaß Xenophobie, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und auf der anderen Seite Solidarität und Hilfsbereitschaft und Organisation der Zivilgesellschaft. Also es ist eine doppelt gespaltene Situation.
"Eine spezifisch österreichische Groteske"
Fischer: Wenn Sie die Xenophobie ansprechen: Österreich ist ein katholisch geprägtes Land, das lange ein Vielvölkerstaat war. Kann man diese Abschottungstendenzen historisch erklären, oder nur aktuell mit einem Rechtsruck im Land, den wir ja auch in anderen osteuropäischen Ländern beobachten?
Menasse: Ja, man kann es schon historisch erklären. Dafür ist die Sendung aber zu kurz. Aber auf alle Fälle zeigt sich darin eine spezifisch österreichische Groteske. Die Österreicher, vor allem die Ost-Österreicher, Wien und die östlichen Bundesländer, sind ja im Grunde eine Mischung aus allen möglichen Ethnien der ehemaligen Kronländer der Habsburger Monarchie, und es hat was Groteskes, wenn diese Mischung sich jetzt irgendwie zur Herrenrasse, zur eigenen Ethnie aufwirft und dann einen Schutz ihrer nationalen Identität fordert. Das hat was Komisches. Aber das größere Problem meiner Meinung nach, dass die zuständigen Politiker diese Stimmung statt aufzuklären, was da passiert, oder die Stimmung zu beruhigen, oder Sicherheit zu gewährleisten, diese Stimmung aufheizt. Zum Beispiel die österreichische Innenministerin hat ja noch im Mai dieses Jahres bei dem Ratsgipfel in Brüssel ein Veto eingelegt gegen eine gemeinsame europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik und sie ist zurückgekommen und hat gesagt, wir lassen uns von Brüssel nicht vorschreiben, wie viele Flüchtlinge wir aufzunehmen haben, und sie hat geglaubt, sie kann damit dieser rechtspopulistischen Partei irgendwie konkurrieren und die Wähler zurückholen von Strache. Aber das Gegenteil ist ja passiert. Die Wähler haben sich ja nur bestätigt gefühlt, dass Strache recht hat. Das heißt, es hat zur Lösung nichts beigetragen, aber zur Überhitzung der Situation.
"Jeder versucht, sozusagen einen nationalistischen Eigensinn durchzusetzen"
Fischer: Sie haben, Robert Menasse, vor einigen Jahren ein Buch über die europäischen Institutionen geschrieben mit dem Versuch, deren Effizienz und Wirksamkeit auch gegen eingefleischte Vorurteile zu beschreiben. Wie stellt sich die EU heute in der Flüchtlingsfrage für Sie dar? Solidarität steht ja da offenbar als Wert nicht an oberster Stelle.
Menasse: Was jetzt passiert beweist auf dramatische Weise meine These, was ich schon vor einem Jahr geschrieben habe. Ich habe geschrieben, dass es sozusagen ein Problem in der Verfasstheit der Europäischen Union gibt, das darin besteht, dass die mächtigsten Institutionen nach dem Lissabon Vertrag der Europäische Rat geworden ist, also die Institution, die die Interessen der Nationalstaaten verteidigt. Und es kann ja in der EU nichts beschlossen werden. Es kann die Kommission nichts machen, es kann das Parlament nichts beschließen, was nicht vorher der Rat erlaubt oder zugelassen hat. Und im Rat werden die nationalen Interessen verteidigt. Jeder versucht, sozusagen einen nationalistischen Eigensinn durchzusetzen, und so kann es ja nicht funktionieren. Aufgrund genau dieser Krise, die wir jetzt haben, die ist der schlagende Beweis dafür, dass der Europäische Rat dringend entmachtet werden muss, dass wir endlich zu einer europäischen demokratischen Verfassung kommen müssen, die das nicht mehr zulässt, dass nationaler Eigensinn über Gemeinschaftspolitik siegt.
"Das ist ja alles nurmehr unfreiwillige Parodie seiner selbst"
Fischer: Nun hält man sich im alten Europa ja einiges zugute auf einerseits christliche Werte, andererseits aufgeklärte Positionen wie Demokratie und Menschenrechte. Was sind denn aber, Robert Menasse, heute appellative Instanzen und wie viele Sorgen muss man sich machen, wenn ein Staat als Ordnungsmacht die Segel streckt?
Menasse: Na ja, die sagen, das christliche Abendland muss verteidigt werden und so weiter, oder die Werte der Aufklärung, das ist ja alles sehr zwiespältig, wenn Sie zum Beispiel bedenken, dass in Österreich ein Flüchtling, der Asylantrag stellt, ein Blatt in die Hand bekommt, wo die Werte aufgeschrieben sind, die er dann akzeptieren muss, unter anderem die Gleichstellung von Männern und Frauen oder von Frauen und Männern. Und dann nach den Wahlen in Oberösterreich wird eine Regierung gebildet ohne eine einzige Frau. Das ist ja alles nurmehr unfreiwillige Parodie seiner selbst. Und die Frage, wie damit umzugehen ist, mit diesen Flüchtlingsströmen, die muss einfach in doppelter Weise diskutiert werden. Das eine ist kurzfristig organisatorisch, dass man bei Achtung der Menschenrechte, auf die man ja insistiert, man sagt ja, wir sind der Kontinent, der auf der Basis der Menschenrechte funktioniert, dass also auch diese Flüchtlingsbewegungen auf der Basis der Menschenrechte organisiert werden, wie damit umzugehen ist.
Und auf der anderen Seite muss man sich fragen, was sind die Ursachen dieser Bewegungen. Ich möchte gern so viele Menschen oder noch mehr, die bei den Pegida-Demonstrationen auf die Straße gehen, auf der Straße sehen, die demonstrieren gegen die Waffenlieferungen von Deutschland oder Österreich und anderen oder Frankreich in die Kriegsregionen, von wo dann die Flüchtlinge hier herkommen - zurecht.
Fischer: Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse über die Flüchtlingspolitik Österreichs und die Instrumente der EU.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.