Manche Verbrechen sind dem Verstand nicht mehr zugänglich. Und sie lassen sich kaum mehr schildern, ohne sie nicht entweder zu trivialisieren oder zu mythisieren. Je monströser die Taten eines Menschen, desto undurchschaubarer und geheimnisvoller das, was man sich über ihn erzählt. Als müsste man ihn, um seine Gräueltaten überhaupt ertragen zu können, in einen mythischen Bereich überführen - eine Fantasiegestalt aus ihm formen, ihn aus der Realität verbannen.
Über den Massenmörder Josef Mengele, den Lagerarzt von Auschwitz, gibt es viele Geschichten. Eine davon erzählte vor einigen Jahren der argentinische Historiker Jorge Camarasa: Er wollte Beweise dafür gefunden haben, dass Mengele in Brasilien sein Unwesen getrieben haben soll - in einer Kleinstadt sind Mitte der 60er-Jahre überdurchschnittlich viele Zwillinge geboren worden. Mengeles von der Rassenlehre beeinflusstes Studiengebiet war neben der Untersuchung von Kleinwüchsigen die Zwillingsforschung, und so war der Schluss einfach: Er experimentierte in der Fremde weiter und schenkte zwar nicht dem Führer Kinder im Doppelpack, dafür aber den Dorfbewohnern in der brasilianischen Provinz.
Die puren Fakten stellen die Lage ein wenig anders dar: Mengele flüchtete 1949 nach Buenos Aires, lebte - gut vernetzt mit Gesinnungsgenossen und teils sogar unter eigenem Namen - in verschiedenen Ländern in Südamerika und ertrank 1979 nach einem Schlaganfall beim Badeurlaub.
Es gibt nicht wenige Autoren, die aus diesem Material literarische Wiedergänger Mengeles geschaffen haben. Das neueste Kapitel in der Verwandlung des Massenmörders zur Romanfigur schreibt die Argentinierin Lucia Puenzo. Sie verknüpft die bekannten Mythen und Fakten und erzählt in "Wakolda" eine kleine Episode aus dem Jahr 1961, aus jener Zeit also, als der Mossad Adolf Eichmann aufspürte und nach Israel entführte und auch Mengele befürchten musste, seinen Verfolgern bald in die Hände zu fallen. José Mengele verlässt Buenos Aires, lernt auf dem Weg quer durch Patagonien eine Familie kennen, die ihn aus "wissenschaftlichem" Interesse fasziniert.
Er lächelte und sah auf. Für ihn, der genauer hinzuhören verstand, schwang in der Strenge einer Kinderstimme stets ein Hauch von Schrecken mit. In dieser Stimme hier klang noch dazu, kaum merklich, der missgebildete Körper an, zu dem sie gehörte; obgleich tiefer als vermutet, war sie doch zu nasal, zu hoch und brüchig.
Lilith, die Tochter, weist deutliche Merkmale der "Zwergwüchsigkeit" auf, wie Mengele das nennen würde; und die deutschstämmige jüdische Mutter ist erneut schwanger. Der "Forscher" leckt im wahrsten Sinne des Wortes Blut, er erschleicht sich das Vertrauen des Kindes und dann auch das der Eltern, geht einige Risiken ein, um seine wissenschaftliche Neugier zu stillen, malträtiert Mutter und Tochter mit Wachstumshormonen und kümmert sich um die schließlich zur Welt gekommenen Zwillinge, die ihm weitere Studien ermöglichen.
Dieser Doktor Frankenstein unterstützt obendrein noch den Vater des Hauses dabei, aus seiner Leidenschaft für das Basteln von Porzellanpuppen ein Geschäft zu machen. Die perfekten Puppen rühren Mengele, sie tragen ihren Ariernachweis sozusagen schon auf der glatten Oberfläche ihrer weißen Haut. Es gibt eine gespenstische Szene, ein Bild, das Puenzo entwirft und in dem sich vielleicht der ganze Roman fassen lässt: Mengele lagert die Einzelteile der Puppen in seinem Zimmer. Gliedmaßen, Rümpfe und lebensecht wirkende Augen liegen da herum, die an sein Schreckenskabinett in Auschwitz erinnern, an die Menschenexperimente, die Mengele keine 20 Jahre zuvor durchgeführt hat.
Das ganze Zimmer war vollgestopft mit Puppenteilen. Überall standen Taschen mit Köpfen, Armen und Beinen, die im Spiegel bis ins Unendliche vervielfacht schienen. Auf der Kommode lagen die blonden Haarschöpfe, auf dem Schreibtisch die Glasaugen... Jetzt, wo alles fertig war, hatte es keiner mehr eilig, die Puppen zusammenzubauen und zu verkaufen.
"Wakolda" ist die raffiniert konstruierte, beunruhigende Geschichte eines Fanatikers: Selbst als er gewiss sein kann, dass seine Häscher ihm auf der Spur sind, lässt Mengele von seinem Forschungsobjekt nicht ab. Puenzos ruhig, behutsam und ökonomisch erzählter Roman ist zudem eine krude Beziehungsgeschichte, die sich zwischen Lilith und Mengele entspinnt, eine Missbrauchsfarce in mehrfacher Hinsicht.
Die Literatur über den Holocaust hat sich ausführlich mit dem Todesengel von Auschwitz auseinandergesetzt, hat versucht, seine Rolle und seine Person zu deuten, aber gelungen ist das nie so recht - vielleicht auch weil die Fiktionalisierung dieser historischen Figur immer auch eine Verharmlosung darstellen muss. Lucia Puenzo möchte zum Wesen dieses Mörders vordringen. Zumindest etwas von der Unheimlichkeit und Brutalität ihres Protagonisten, die sich hinter den subtilen Gesten verbergen, vermag sie zu enthüllen.
Lucia Puenzo: "Wakolda". Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Rike Bolte. Wagenbach Verlag. Berlin 2012. 192 Seiten. 18,90 Euro.
Über den Massenmörder Josef Mengele, den Lagerarzt von Auschwitz, gibt es viele Geschichten. Eine davon erzählte vor einigen Jahren der argentinische Historiker Jorge Camarasa: Er wollte Beweise dafür gefunden haben, dass Mengele in Brasilien sein Unwesen getrieben haben soll - in einer Kleinstadt sind Mitte der 60er-Jahre überdurchschnittlich viele Zwillinge geboren worden. Mengeles von der Rassenlehre beeinflusstes Studiengebiet war neben der Untersuchung von Kleinwüchsigen die Zwillingsforschung, und so war der Schluss einfach: Er experimentierte in der Fremde weiter und schenkte zwar nicht dem Führer Kinder im Doppelpack, dafür aber den Dorfbewohnern in der brasilianischen Provinz.
Die puren Fakten stellen die Lage ein wenig anders dar: Mengele flüchtete 1949 nach Buenos Aires, lebte - gut vernetzt mit Gesinnungsgenossen und teils sogar unter eigenem Namen - in verschiedenen Ländern in Südamerika und ertrank 1979 nach einem Schlaganfall beim Badeurlaub.
Es gibt nicht wenige Autoren, die aus diesem Material literarische Wiedergänger Mengeles geschaffen haben. Das neueste Kapitel in der Verwandlung des Massenmörders zur Romanfigur schreibt die Argentinierin Lucia Puenzo. Sie verknüpft die bekannten Mythen und Fakten und erzählt in "Wakolda" eine kleine Episode aus dem Jahr 1961, aus jener Zeit also, als der Mossad Adolf Eichmann aufspürte und nach Israel entführte und auch Mengele befürchten musste, seinen Verfolgern bald in die Hände zu fallen. José Mengele verlässt Buenos Aires, lernt auf dem Weg quer durch Patagonien eine Familie kennen, die ihn aus "wissenschaftlichem" Interesse fasziniert.
Er lächelte und sah auf. Für ihn, der genauer hinzuhören verstand, schwang in der Strenge einer Kinderstimme stets ein Hauch von Schrecken mit. In dieser Stimme hier klang noch dazu, kaum merklich, der missgebildete Körper an, zu dem sie gehörte; obgleich tiefer als vermutet, war sie doch zu nasal, zu hoch und brüchig.
Lilith, die Tochter, weist deutliche Merkmale der "Zwergwüchsigkeit" auf, wie Mengele das nennen würde; und die deutschstämmige jüdische Mutter ist erneut schwanger. Der "Forscher" leckt im wahrsten Sinne des Wortes Blut, er erschleicht sich das Vertrauen des Kindes und dann auch das der Eltern, geht einige Risiken ein, um seine wissenschaftliche Neugier zu stillen, malträtiert Mutter und Tochter mit Wachstumshormonen und kümmert sich um die schließlich zur Welt gekommenen Zwillinge, die ihm weitere Studien ermöglichen.
Dieser Doktor Frankenstein unterstützt obendrein noch den Vater des Hauses dabei, aus seiner Leidenschaft für das Basteln von Porzellanpuppen ein Geschäft zu machen. Die perfekten Puppen rühren Mengele, sie tragen ihren Ariernachweis sozusagen schon auf der glatten Oberfläche ihrer weißen Haut. Es gibt eine gespenstische Szene, ein Bild, das Puenzo entwirft und in dem sich vielleicht der ganze Roman fassen lässt: Mengele lagert die Einzelteile der Puppen in seinem Zimmer. Gliedmaßen, Rümpfe und lebensecht wirkende Augen liegen da herum, die an sein Schreckenskabinett in Auschwitz erinnern, an die Menschenexperimente, die Mengele keine 20 Jahre zuvor durchgeführt hat.
Das ganze Zimmer war vollgestopft mit Puppenteilen. Überall standen Taschen mit Köpfen, Armen und Beinen, die im Spiegel bis ins Unendliche vervielfacht schienen. Auf der Kommode lagen die blonden Haarschöpfe, auf dem Schreibtisch die Glasaugen... Jetzt, wo alles fertig war, hatte es keiner mehr eilig, die Puppen zusammenzubauen und zu verkaufen.
"Wakolda" ist die raffiniert konstruierte, beunruhigende Geschichte eines Fanatikers: Selbst als er gewiss sein kann, dass seine Häscher ihm auf der Spur sind, lässt Mengele von seinem Forschungsobjekt nicht ab. Puenzos ruhig, behutsam und ökonomisch erzählter Roman ist zudem eine krude Beziehungsgeschichte, die sich zwischen Lilith und Mengele entspinnt, eine Missbrauchsfarce in mehrfacher Hinsicht.
Die Literatur über den Holocaust hat sich ausführlich mit dem Todesengel von Auschwitz auseinandergesetzt, hat versucht, seine Rolle und seine Person zu deuten, aber gelungen ist das nie so recht - vielleicht auch weil die Fiktionalisierung dieser historischen Figur immer auch eine Verharmlosung darstellen muss. Lucia Puenzo möchte zum Wesen dieses Mörders vordringen. Zumindest etwas von der Unheimlichkeit und Brutalität ihres Protagonisten, die sich hinter den subtilen Gesten verbergen, vermag sie zu enthüllen.
Lucia Puenzo: "Wakolda". Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Rike Bolte. Wagenbach Verlag. Berlin 2012. 192 Seiten. 18,90 Euro.