Ein wachsendes Interesse an Naturthemen ist in der literarischen Landschaft zu verzeichnen. Zahlreiche Autoren fallen unter diese Gattungsbezeichnung des Nature Writing, seitdem die hiesige Kritik den aus der angloamerikanischen Literatur entlehnten Begriff für sich entdeckt hat. Doch wovon schreibt, wer über Natur schreibt?
Esther Kinsky schreitet in ihrem Roman ,Am Fluss’ das Marschland an den nördlichen Ausläufern Londons ab, entrollt eine Kulturgeschichte dieser Wildnis entlang des River Lea. Der Ort ist durchdrungen von den Sedimenten menschlicher Existenz. Italienische Reisen eigener Art unternimmt die Ich-Erzählerin in ihrem jüngsten Buch ,Hain. Geländeroman’, in dem Landschaftsmeditation, Kindheitserinnerungen und Trauer zusammenkommen. Die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse begründete: „Was für ein stilles, kaum bewegtes, menschenarmes Buch. Was für eine Schule der Wahrnehmung. In der Reizreduktion zeigt sich jedes noch so unscheinbare Detail mit geradezu übersinnlicher Genauigkeit; die Tonlosigkeit steigert sich zum Gesang der Dinge.“
Esther Kinsky, 1956 in Engelskirchen geboren, lebt und arbeitet in Berlin. Sie schreibt Lyrik, Essays und Erzählprosa und wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Preis der SWR-Bestenliste (2015), dem Adelbert-von-Chamisso-Preis (2016) und dem Preis der Leipziger Buchmesse (2018).
(Wiederholung vom 28.1.2018)
Katharina Teutsch: Esther Kinsky, Ihr Roman "Hain" hat ja die Genrebezeichnung, die ungewöhnliche Genrebezeichnung "Geländeroman". "Gezeichnetes Gelände in gestundeter Seligkeit" heißt es in einem Ihrer Gedichte aus dem Band "Naturschutzgebiet" aus dem Jahr 2013. In fast allen Ihren Texten, Ihren Gedichten, Ihrer Prosa und auch Ihren Essays ist vom Gelände die Rede. Würden Sie das Gelände noch mal von der Landschaft abheben?
Esther Kinsky: Ja, auf jeden Fall. Ich benutze ganz bewusst deshalb nicht das Wort Landschaft, weil ich einfach dieses Unvoreingenommene, dieses Terrainartige haben möchte. Landschaft ist erstens mal ein etwas ja immer schon so zumindest aus dem Hinterland romantisch angehauchter Begriff, ein Begriff, der auch mit sehr vielen Erwartungen gefüllt ist. Und das ist bei Gelände, würde ich mal hoffen, nicht der Fall.
"Ein Naturschutzgebiet ist ein gestörtes Gelände"
Teutsch: Mir ist beim Lesen aufgefallen, dass Ihr Gelände immer ein Grenzgebiet zwischen Natur, Wildnis und eben auch den Sedimenten menschlicher Hinterlassenschaften, menschlichen Lebens, Urbanität ist. Es ist immer so ein Ineinandergreifen dieser beiden Elemente und das macht meiner Ansicht nach die Spannung all Ihrer Texte aus.
Kinsky: Für mich ist wirklich diese Art von Überlappungsgebiet, würde ich mal sagen, das Interessanteste. Also der Kernbegriff aus Naturschutzgebiet ist dieser Terminus "gestörtes Gelände". Das ist eigentlich wirklich ein naturkundlicher Begriff. Es geht um Gelände, das hieß früher "menschlich überprägt", auf Deutsch. Dieser Ausdruck "Disturbed Lands", wie es ihn auf Englisch gibt, hat dann mit der Zeit auf diese Art und Weise in der Übersetzung Eingang auch in den Gebrauch auf Deutsch gefunden. Und das ist für mich das, was mich interessiert. Also, eben nicht die sogenannte Natur, sondern das, was entsteht, auch als Schichtenbildung, wo menschliche Spuren sind, aber was für Natur sich dann eben dort wieder niederlässt, und dieses Kreisen auch um die Frage, was gehört denn alles zur Natur.
Teutsch: Sie haben ja an vielen verschiedenen Orten dieser Welt gelebt. Ich weiß von Kanada, ich weiß von London, wovon Ihr großer Roman von 2014 "Am Fluß" handelt. Sie haben im Grenzgebiet zwischen Ungarn, Rumänien und Serbien gelebt, sprechen viele, viele Sprachen - und sind dann irgendwann nach Berlin gekommen. Und mir ist beim Vorbereiten auf unser Gespräch eigentlich der Gedanke gekommen, dass Berlin die geradezu ideale Stadt für Sie gewesen sein muss. Ich weiß nicht, in welchem Jahr Sie hierhergekommen sind, aber das Berlin der '90er- und der '00er‑Jahre ist ja gerade ein Gelände, das genau nach Ihrem Geschmack sein müsste. Ein Beispiel ist das Tempelhofer Feld, der ehemalige Flughafen, in einem spektakulären Volksentscheid haben sich die Berliner dafür entschieden, dass dieses riesige Feld, diese riesige Wildnis im Grunde uneingehegt einfach so bestehen bleiben soll, es gibt dort Füchse, es gibt Nachtigallen, es gibt Urban‑Gardening‑Projekte, Menschen gehen hin, treiben alle möglichen Sportarten. Keine andere europäische Großstadt würde sich so einen Luxus, so eine Freiheit, so eine Wildnis leisten. Was haben Sie für eine Beziehung zu diesem Berlin?
Kinsky: Ja, meine Beziehung zu Berlin ist nicht besonders gut. Mich hat das Tempelhofer Feld interessiert zu einer Zeit, wo es noch weniger genutzt war. Also man sah sagenhafte Vögel dort, zum Beispiel Raubvögel, die auch ganz zahm fast wirkten, also Menschen sehr nahe rankommen ließen. Aber jetzt inzwischen ist es mir schon ein bisschen alles zu urbanisiert eigentlich durch die Benutzung. Aber es ist trotzdem mal, würde ich sagen, ein gutes Projekt. Mich interessieren aber mehr andere Dinge, die so abseits der Aufmerksamkeit existieren. Wenn ich sage, in Berlin hat mich nichts zum Schreiben eingeladen, ist das insofern falsch, weil dieser Text "Naturschutzgebiet", dieser ganze Gedichtzyklus handelt von einem ganz konkreten Ort in Berlin und das war das Oskar-Helene-Heim, der Park vom Oskar‑Helene-Heim. Das war ein, ich muss es leider in der Vergangenheit verwenden, weil es dieses Gelände nicht mehr gibt. Und ich stieß darauf durch eine Reihe von Zufällen, 2012, als es dabei war, zur Beseitigung markiert zu werden. Es befindet sich in, ich glaube, Zehlendorf ist das schon, es gibt ja auch noch diese U‑Bahn-Haltestelle. Aber heute ist das ein vollkommen mit Neubauten zugedecktes Gebiet, was sehr lange umstritten war in seiner Verwendung. Dieses Gelände war gewidmet von den Stiftern für medizinische Zwecke, ursprünglich eben als Jugendpsychiatrie angelegt, dann Rekonvaleszenzheim für Invaliden, psychisch und physisch aus dem Ersten Weltkrieg, und wurde dann aber Ende der '30er-Jahre mit Beschlag belegt durch die "Euthanasieabteilung", mal in Anführungsstrichen, unter dem Nationalsozialismus. Und nach dem Krieg ließ man es einfach brach liegen. Also ich weiß jetzt nicht so viel über die stadtpolitische Geschichte, aber es scheint mir so, dass die Stadt Berlin das wahrscheinlich immer mal gerne verkauft hätte, aber es war noch zeitweise in Gebrauch als Heim, dieses große Krankenhausgebäude, was zur Clayallee liegt. Es gab auch noch immer noch diese sehr schönen, an die Waldschulen des frühen 20. Jahrhunderts erinnernden kleinen Holzhäuschen, aber dazwischen eben unglaublich viel Wildnis, der man ansah, dass sie mal gestaltet gewesen war, also solche völlig versumpften Teiche, sehr hohe, alte Bäume. Und während ich dort aus bestimmten Gründen öfters hinfahren musste und Stunden hatte, um mich dort aufzuhalten, verschwand dieses Gelände so nach und nach. Die Bäume wurden gefällt und es wurde wirklich alles dem Erdboden gleichgemacht, um dann dieser Auflage zu entsprechen, mit so einem kleinen Neubauriegel medizinischer Einrichtungen, und in der Mitte aber, in diesem eigentlichen Park, gibt es jetzt nur Wohnbauten. Aber dieses Gelände war eben in dieser Umbruchsphase, in dieser Vernachlässigung so fruchtbar als Spurenterrain sozusagen, man sah das, was angelegt war, man sah diese alten, kleinen, zum Teil verfallenen, zum Teil etwas überwachsenen Gebäude, alles sprach von Dingen, die dort mal gewesen waren, aber gleichzeitig gab es eben auch einen sehr interessanten Prozess des Eingeholtwerdens von der Natur. Also man fand unglaublich viele Pflanzen, die alle in diesem Gedichtband auch benannt werden und zum Teil thematisiert werden.
"Eine möglichst wenig vorprogrammierte Welt"
Teutsch: Welcher Reiz liegt für Sie in diesem Spurenlesen? Sie gehen einer ganz ähnlichen Methode nach in dem Roman "Am Fluß", der spielt an zwei Flüssen, hauptsächlich aber in London am River Lea, in Nordlondon, wo die verwilderten Marshlands sozusagen Ihr Wandergebiet gewesen sind, auch dort finden Sie immer wieder Überreste menschlicher Existenzen, gesellschaftlicher Umbrüche und so weiter. Was ist der Reiz dieses Spurenlesens? Ist das ein melancholischer Grundpegel, mit dem Sie so durch die Welt streifen, Esther Kinsky?
Kinsky: Ich weiß nicht, wie weit das wirklich was jetzt ursprünglich mit Melancholie zu tun hat. Ich glaube, es geht vielmehr um den Wunsch, die Welt auf eine Art und Weise lesen zu können, die möglichst wenig vorprogrammiert ist oder sich vielleicht auch auf eine eigene, neue Art benennen lassen kann, weil sie noch weniger benannt ist als andere Gelände. Das …
Teutsch: Vielleicht auch die Freiheit, etwas selbst benennen zu können? Weil Sie das Tempelhofer Feld gerade erwähnten, das ist natürlich jetzt auch schon eine gezähmte Wildnis, also eine touristisch vermarktbare Wildnis. Wenn Sie jetzt aber auf so ein Terrain kommen wie das Oskar-Helene-Heim, wo wirklich kein Hahn danach kräht und sich niemand mehr seit Jahrzehnten drum gekümmert hat, dann ist es sozusagen in Ihrer eigenen Deutungsmacht, dort einen Sinn hineinzulesen oder auch Spuren herauszulesen, menschliche Schicksale. Sie haben es gerade angesprochen, Euthanasie, da geht ein ganzer Assoziationsraum auf einmal auf.
Kinsky: Ja, das interessiert mich natürlich viel mehr, als jetzt was zu betrachten, zu benennen, zu begehen, wovon schon jede Menge Namen existieren. Und "Am Fluß" zum Beispiel, der River Lea war damals, bevor die Entscheidung für die Olympiade fiel, wirklich ein totales Randgebiet, merkwürdigerweise eigentlich ein Randgebiet, was noch in der Stadt war, aber wo etwas abbrach und dann irgendwann weiter draußen wieder neuen Atem holte. Wobei ich auch sagen möchte: Wildnis ist eine schwierige Sache, aber es geht um, würde ich mal sagen, so was Verwildertes. Das interessiert mich.
Teutsch: Sie stellen sich in Ihrem Schreiben in eine Traditionslinie, die aus dem Angloamerikanischen kommt, mit "Nature Writing" richtig bezeichnet ist. Im Moment gibt es so eine Mode in den Feuilletons, alle reden jetzt über "Nature Writing", über den neuen Naturtrend in der Literatur, also anscheinend eine Hinwendung zu Naturthemen. Würden Sie dem zustimmen oder hat es das einfach schon immer gegeben, Leute, die sich mit der Existenz und der Natur auseinandersetzen?
Kinsky: Also erstens mal, denke ich, hat es das immer gegeben. Ich glaube, man muss da Dinge unterscheiden. Also ich denke, diese Hinwendung zur Natur als Idylle oder Lebensraum, in dem man sich auf eine bestimmte Art und Weise näher an der Natur und so weiter verwirklichen kann, das ist natürlich ein Wohlstandssymptom, das können sich auch nur wenige Leute leisten. Andererseits denke ich, die Natur, wie wir sie so definieren, ist auch was, was wir als sehr gefährdet empfinden. Insofern ist es ganz natürlich, dass man sich dem wieder mehr zuwendet.
"Naturromantik geht eine Form von Entfremdung voraus"
Teutsch: Die Naturromantik ist natürlich auch ein sehr städtisches Phänomen.
Kinsky: Ja, sie ist ein städtisches Phänomen und jeder Art von Naturromantik geht natürlich auch irgendwie so eine Form von Entfremdung oder so ein Bedürfnis der Neudefinition voraus. Bewusst würde ich mich gar nicht mal so in eine bestimmte Tradition setzen. Der Autor, der auf mich einen unglaublich großen Eindruck gemacht hat, war Thoreau mit seinen "Journals". Ich mag seine anderen Bücher nicht sehr gerne, aber ich finde die "Journals" wirklich ein sagenhaftes Unterfangen, dieser Vorsatz, tagtäglich zu schreiben über das, was man sieht… Ich finde auch diesen Begriff "Nature Writing" eigentlich sehr irreführend, erst recht wenn der so im Englischen … ins Deutsche übernommen wird. Deshalb habe ich mich auch für mein neues Buch für diesen Terminus "Geländeroman" entschlossen, weil ich nicht in diesen "Nature Writing Pool" geworfen werden möchte.
Teutsch: Man muss sagen, das ist ein ziemlich großer Pool.
Kinsky: Ja, es ist ein großer Pool.
Teutsch: Im Vergleich zur deutschen Naturschriftstellerei oder Naturlyrik ist der "Nature Writing"-Begriff ja eigentlich offen für alle Genres. Also alles und nichts hat sozusagen darin Platz.
Kinsky: Ja.
Teutsch: Und, um das nur ganz kurz auch noch zu präzisieren: Thoreau, den Sie gerade erwähnten, ist dieser amerikanische Autor, der sich in eine Waldhütte zurückgezogen hat und dort sozusagen ein Lob der Wildnis geschrieben hat und versucht hat, autark zu leben, Mitte des 19. Jahrhunderts.
Kinsky: Ja. Aber "Walden", das Ergebnis dieses Versuchs ist ein Buch, was ich nicht besonders gut finde, weil es mit einem bestimmten Zweck geschrieben worden ist. Und er hatte natürlich auch, was sehr löblich war eigentlich, ein bestimmtes politisches Interesse, er war sehr gegen Konsum und so weiter eingestellt, er wollte zeigen, mit wie wenigen Mitteln man auskommen kann. Aber das ist jetzt für mich literarisch nicht interessant. Literarisch interessant oder als Muster interessant sind seine "Journals", in denen er wirklich jeden Tag schreibt über das, was er sieht. Die haben auch so einen wunderbaren Rhythmus des Gehens, er ist sehr viel gegangen, das hat mit der Zeit dann immer mehr seine Wahrnehmung auch bestimmt, dieser Rhythmus. Aber was ich sagen möchte, ich denke, interessant ist dieser Ansatz: schreiben, was man sieht! Und zwar, ohne jetzt unbedingt das in Muster einfügen zu wollen, Erklärungen bieten zu wollen oder ohne Zweck.
Teutsch: Es ist ein bisschen trügerisch, weil natürlich die Assoziationen, die Sie anbieten, die blühen dann natürlich im Leser. Um noch mal auf dieses Beispiel mit dem Kinderheim zurückzukommen: Wenn der Begriff "Euthanasie" fällt, dann geht natürlich ein ganzer Assoziationsraum auf und ich bin als Leser, als Leserin nicht davor geschützt, jetzt auch meine eigenen Klischees, alles, was ich über diese Zeit weiß oder über das Grauen glaube zu wissen, dort dann einzuspeisen. Also es hat auch was sehr Suggestives, diese Arbeitsweise.
Kinsky: Ja, aber das kommt ja nicht in dem Buch vor. Ich habe in dem Buch vermerkt, wo diese Texte und die Fotos entstanden sind, und habe einfach die Hoffnung, dass man sich auf die Texte einlässt und auf die Bilder einlässt und vielleicht dann selbst recherchiert. Und dann, natürlich, mit jeder Ebene der Recherche wird man sich auch diese Texte anders erschließen können. Das war in meiner schreibenden Auseinandersetzung und auch fotografierenden Auseinandersetzung mit diesem Gelände sehr, sehr wichtig.
"Urprobleme der romantisierenden Landschaftsbetrachtung"
Teutsch: Ihre Schriftstellerkollegin Brigitte Kronauer ist ja auch eine große Landschaftsschreiberin und eine Naturliebhaberin und sie spricht von Landschaften - nicht von Geländen - von Landschaften als einem herzbewegenden Geschenk. Und mir ist aufgefallen, dass auch in Ihrem Roman "Am Fluß" es einen Satz gibt, in dem das Wort "Herz" gleich mehrfach vorkommt. Ich darf ihn vielleicht mal kurz hier zitieren: "Ich hörte die Brachvögel, Drommeln und Kiebitze, Schwermutslaute aus untraurigen Kehlen, ich sah meine Großmutter wieder am Fenster stehen und diese Vogelrufe ausstoßen, sich einbildend, die Vögel wären zu täuschen, sie könnte es mittels ihrer Herzenstraurigkeit den Lauten aus den an sich ganz gleichmütigen Vogelkehlen gleichtun, die doch vom Herzzerreißenden ihres Klanges nicht das Geringste wussten. So geht jedem die Natur ans Leben - mit ihrem ungerührten Herzschlag, der an die herzbemannte Unruh aller Trauer rührt." Verlassen wir mit der Sprache des Herzens jetzt das Feld der Prosa in Richtung Transzendenz? Ich weiß es nicht, mir ist das ehrlich gesagt beim ersten Lesen gar nicht aufgefallen, dass so viel "Herz" in diesem Satz steckt, er hat mir unheimlich gut gefallen, ich habe ihn mir notiert und dann habe ich beim Wiederlesen gemerkt, da steckt vier- oder fünfmal das Wort "Herz" drin!
Kinsky: Ja, es geht da an dieser Stelle natürlich um diese Frage, man wird von etwas gerührt, was aber an sich natürlich überhaupt keine Intention des Rührens hat. Und das ist auch so ein bisschen natürlich dieses Urproblem in der romantisierenden Landschaftsbetrachtung. Es geht uns ans Herz, aber es hat selbst kein Herz sozusagen. Es gibt nie die Intention zu rühren. Was ist es, was uns so dazu bewegt, dieses Umfeld, das uns rührt, mit unseren eigenen, also unsere eigenen Gefühle, sagen wir mal, da reinzulegen, zu investieren? Das ist wahrscheinlich was ganz Menschliches, wir belegen mit unserem Gefühl und das ist eine Form von Aneignung, um es in Erinnerung behalten zu können auch natürlich. Aber hier geht es wirklich eigentlich um diese Frage, was ist Natur und wie können wir uns damit ins Benehmen setzen und wie hat man sich damit ins Benehmen gesetzt und wie viel Gefühl ist investiert, obwohl die Natur selbst eben gefühllos ist?
"Ein Vogel singt nicht, um in uns ein bestimmtes Gefühl zu erwecken"
Teutsch: Was auch nur eine Behauptung ist!
Kinsky: Nein, ich meine jetzt mal "gefühllos" in dem Sinne. Es gibt keine Intention, in uns Gefühle zu erzeugen, das ist so ein Gedanke. Ich würde um Gottes Willen nie sagen irgendwie, dass Geschöpfe oder auch Pflanzen, ich würde mir da kein Urteil drüber erlauben, wieweit da ein Gefühlsspektrum da ist. Tiere selbstverständlich, vielleicht auch Pflanzen, darum geht es nicht. Aber es geht überhaupt nicht um eine Intention. Ich glaube nicht, dass ein Vogel singt, um in uns ein bestimmtes Gefühl zu erwecken.
Teutsch: Ein wichtiger deutschsprachiger Autor, auf dem Sie sich immer wieder in Ihrem Werk beziehen, Esther Kinsky, ist Adalbert Stifter, dem man ja auch schon zu seiner Zeit - wir befinden uns in der Restaurationsphase - den Eskapismusvorwurf gemacht hat.
Kinsky: Ja, ich meine, natürlich kann man das Stifter vorwerfen, und seine späteren Sachen lese ich nicht gern. Ich habe jetzt noch mal den Versuch gemacht, den "Nachsommer" zu lesen, aber bin auch wieder daran gescheitert. Was mich an Stifter, an den Erzählungen sehr fasziniert, ist diese Art zu sehen. Und Stifter hat für mich in vielen Texten was Filmisches. Wenn man die Erzählung "Kalkstein" zum Beispiel betrachtet, dieses Schwarz und Weiß und die Flächen, die sich öffnen, und die Ausblicke, die sich öffnen, und die Beschreibung dieser steinernen Landschaft. Wenn man mal dieses ganze, ja, auch emotionsbezogene Beiwerk wegstreicht, ist das einfach ganz großartig als, ja, ziemlich handlungsloses Drehbuch für einen Film.
"Sich in kritischen Zeiten auf ein Minimum zurückziehen"
Teutsch: Was mir auch bei der Vorbereitung auf unser Gespräch aufgefallen ist, um diesen Eskapismusbegriff noch mal ein wenig weiterzuführen: Es gab ja auch im deutschen Sprachraum immer schon Autoren, die etwas Ähnliches gemacht haben wie Sie, Esther Kinsky, die über Natur geschrieben haben, die die Natur erwandert haben. Zum Beispiel gibt es von Wilhelm Lehmann das "Bukolische Tagebuch", das ist ein Autor, der in den '20er-Jahren relativ bekannt war, inzwischen zu den vergessenen Klassikern des Genres gehört. Der hat sich in den '20er-Jahren, sozusagen in dem Moment, wo Kommunisten und Nazis sich auf den Straßen Kämpfe geliefert haben und die Weltwirtschaftskrise voll im Gang war, hat er den Vogelsberg erwandert und hat sich sozusagen entzückt am Anblick von Naturphänomenen. Und das geht weiter, es gibt Jürgen von der Wense, der dann in der Zeit des Nationalsozialismus 1.000 Wanderungen gemacht hat, also wirklich, tatsächlich 1.000 Wanderungen, die Amerikanerin Annie Dillard ist Mitte 20, als der Vietnam-Krieg in Amerika die Gesellschaft spaltet, und zieht sich an den Tinker Creek zurück, um dort auch eben in ihren Naturanschauungen zu versinken und ein Buch darüber zu schreiben, was im Übrigen sehr unsentimental ist. Und Adalbert Stifter, den wir zuletzt jetzt erwähnt haben, macht ja auch so ein bisschen beides, in dieser Zeit der Restauration dann sich so ganz der Naturbetrachtung zu widmen. Also ich möchte einfach noch mal auf den Eskapismusbegriff zurückkommen: Inwieweit bietet die Natur Zuflucht oder kann man auch ganz anders sagen, es ist eigentlich ein rebellischer Gestus, sich in Zeiten, in denen man sich vielleicht eher der konkreten Politik zuwenden sollte, das ganz andere in der Natur zu suchen, also ein rebellischer Gestus?
Kinsky: Ja, das sowieso. Ich kenne jetzt weder die Texte von Lehmann noch von Wense, aber ich glaube, es muss gestattet sein, dass man sich in kritischen Zeiten auf so ein Minimum, sagen wir mal, zurückzieht. Das gilt natürlich überhaupt nicht für Stifter und es ist bei ihm ja auch nicht nur die Naturbeschreibung, es ist, wie er beschreibt, was er sieht. Aber das sei jetzt mal dahingestellt. Und ich glaube, dass man in schwierigen Zeiten, politisch kritischen, schwierigen Zeiten nicht unbedingt flieht in die Natur, sondern vielleicht auch einfach daraus, aus diesem, ja, ich mag dieses Wort "kontemplativ" nicht, aber aus der Betrachtung und der Auseinandersetzung mit dem, was man da sieht an minimalem Geschehen in der Natur, kann auch so eine Stärke in der Einstellung zur Welt geschöpft werden, so kann ich mir das nur vorstellen. Ich habe zum Glück nie in solchen Zeiten bis jetzt gelebt, aber ich denke, dass es eher so eine Art Bedürfnis ist, sich auf etwas zu reduzieren. Wenn ich jetzt an Annie Dillard denke, das wäre eher so, wie ich das sehen würde. Ich hasse jede Art von Eskapismus und ich würde über meine eigenen Bücher sagen, dass sie überhaupt nicht unpolitisch sind. Ich sehe mich jetzt nicht als einen Stellungsbezieher, aber ein Text sollte für sich sprechen. Meine Texte zum Beispiel sind ja nicht aus der Zeit gefallen, und das glaube ich auch nicht, dass das für solche Leute wie Dillard zum Beispiel zutrifft. Man kann manchmal nicht anders, als sich auf so ein Minimum reduzieren, um einfach vielleicht Fragen der Menschlichkeit und der Grenzen von Menschlichkeit auch zu erkunden.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen./