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Menschenexperimente
Robert Koch und die Verbrechen von Ärzten in Afrika

Zu Kolonialzeiten war es üblich, dass Forscher skrupellos mit Afrikanern experimentierten, allen voran die Deutschen. Auch Robert Koch zwang kranke Menschen in Konzentrationslager und testete an ihnen neue Gegenmittel. Die Gräueltaten der kolonialen Tropenmedizin wirken bis heute.

Von Julia Amberger |
Robert Koch (sitzend) mit Mitgliedern der Expedition zur Untersuchung der Schlafkrankheit in Afrika; v.l.: Dr. Kudicke, Prof. Klein, Koch, Prof. Beck, Stabsarzt Pause, Feldwebel Sacher (Foto: Franz-Otto-Koch - 1897) Vor den Weißen hocken drei Schwarze auf den Stufen der Terrasse.
Robert Kochs Einbindung in das preußische Militär erleichterte ihm seine Forschungsexpeditionen - und weist zugleich auf ein wesentliches Motiv für die deutsche "Tropenmedizin" hin (picture alliance/ullstein bild/Haeckel Archiv)
Vor acht Jahren lebte Ahmat Hassan noch im Tschad. In Gouro, einem 8000-Einwohner-Dorf am Rande der Sahara, arbeitete er für das Bildungsministerium. Mittags trafen zwei Toyota-Pickups ein, den Kofferraum voller Spritzen und Fläschchen. Drinnen saßen zehn Männer, die vom Gesundheitsministerium angelernt worden waren, um die Kinder im Dorf gegen Meningitis zu impfen.
"Dieses Team hat etwa 500 Kinder zwischen einem und 15 Jahren geimpft. In kürzester Zeit sind drei Kinder krank geworden und ihr Zustand verschlechterte sich. Sie wackelten mit dem Kopf, übergaben sich, hatten Durchfall. Trotzdem haben sie bis zum dritten Tag weitergemacht."
106 von 500 Kindern: krank. 40 davon schwer. So berichtet es Hassan. Die Eltern brachten sie ins 250 km entfernte Krankenhaus. Zwei Wochen später kam der Präsident zu Besuch. Er ließ 38 Kinder in zwei Krankenhäuser der Hauptstadt N’Djamena bringen und sieben für weitere Untersuchungen nach Tunesien. Das belegt ein Dokument der Regierung. Doch statt den Ursachen auf den Grund zu gehen, habe der Präsident das Krankenhaus mit Militär umstellen lassen, erinnert sich Hassan.
"Als die Kinder im Krankenhaus in N‘Djamena ankamen, hat er Journalisten an der Berichterstattung gehindert. Damals dachten wir uns, er hat etwas zu verbergen."
Gab es 2012 tatsächlich einen Impf-Skandal in Gouro?
Hassan schrieb einen Artikel für die Bürgerzeitung "la voix". Eine Mail an die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, die die Impfkampagne unterstützt. Mails an die Regierung. Ohne Erfolg. Er vermutet, dass die Kühlkette des Impfstoffs MenAfriVac unterbrochen war und die Kinder deshalb erkrankten. Offiziell sind die Kinder längst geheilt. Ahmat Hassan sagt, sie sind es nicht.
Hassan lebt heute als Übersetzer in London. Für ihn ist das, was am 12. Dezember 2012 in Gouro geschah, ein Impfskandal. Er fragt: Warum musste sich niemand dafür verantworten? Gelten in Afrika andere Regeln als in Europa? Den offiziellen Verlautbarungen glaubt er nicht.
"Wir sehen es so, dass die WHO etwas zu verbergen hat und unsere Regierung – und das ist die große Überraschung - mitspielt. Mit welchem Interesse?! Sie ist dazu da, uns zu schützen, uns zu helfen, und wenn ein Impfskandal stattgefunden hat, braucht man Geld, Fürsorge, man muss der Ursache auf den Grund gehen, nach Lösungen suchen."
Das Vertrauen in Pharmakonzerne, in internationale Geldgeber und erst recht in die tschadische Regierung ist in Gouro nicht groß. Selbst einen illegalen Test eines nicht zugelassenen Impfstoffs traut man ihnen zu – obwohl es dafür keine Belege gibt.
Robert Koch hielt sich von 1896-1897 zur Erforschung und Bekämpfung der Rinderpest in Südafrika auf.
Robert Koch am Mikroskop in seinem Laboratorium in Kimberley in Südafrika im Jahr 1896. (ADN / dpa-Bildarchiv)

Wurzeln des Misstrauens liegen in der Kolonialzeit

Das mag auch an der Unzufriedenheit mit der Politik von Präsident Idris Deby liegen. Doch die Wurzeln des Misstrauens liegen tiefer. Während der Kolonialzeit haben Ärzte aus Europa Menschen in Afrika zu Forschungszwecken missbraucht – und erzielten so ihr Renommée.
Robert Koch, 1903, aus Bulawayo: "Bei uns zu Hause ist nun schon so gründlich aufgearbeitet und die Concurrenz eine so gewaltige, dass es sich wirklich nicht mehr lohnt, dort zu forschen. Hier draußen aber, da liegt noch das Gold der Wissenschaft auf der Straße. Wie viel Neues habe ich gesehen und gelernt, als ich zum ersten Male nach Afrika kam!"
"Am meisten hat mich bei diesen Forschungen überrascht, dass es vielen dieser jungen Ärzte gar nicht so sehr um die Verbesserung der Lebensbedingungen an der kolonialen Peripherie ging, sondern dass sie ehrgeizigere Pläne hatten, nämlich in die Forschung einzusteigen und Medikamente an der kolonialen Peripherie auszuprobieren. Das heißt also, afrikanische Forschung an der Peripherie für Präparate, die im Mutterland eingesetzt werden sollten."
Sagt Professor Wolfgang Eckart, ehemaliger Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg. Er war der erste deutsche Wissenschaftler, der die Gräueltaten deutscher Ärzte in den ehemaligen afrikanischen Kolonien rekonstruierte und 1997 publizierte, in dem Buch "Medizin und Kolonialimperialismus – Deutschland 1884 bis 1945".
Auf der Suche nach dem Erreger der Schlafkrankheit sezieren Robert Koch (rechts) und der Tropenmediziner Karl Kleine ein Krokodil auf den Sese-Inseln, 1906
Blutentnahme bei einem Krokodil-Kadaver (Robert-Koch-Institut)
Medizin spielte Schlüsselrolle bei der Ausbeutung Afrikas
"Es gab eine Reihe von Krankheiten, die erforscht werden mussten. Die Tropenkrankheiten, die das Überleben an der kolonialen Peripherie schwierig gestalteten, Malaria zum Beispiel, viele Arten anderer Fieber- und Infektionskrankheiten, die man in Europa so nicht gewohnt war. Dies alles stellte die Medizin vor neue Herausforderungen, um dann eigentlich ihrem Hauptzweck zu dienen: Nämlich die Ausbeutung der Kolonialschätze, wie man hoffte, so günstig wie möglich zu gestalten."
Die Medizin spielte bei der Kolonialisierung Afrikas also eine Schlüsselrolle. Ohne ihren Fortschritt hätte Afrika nie erkundet und ausgebeutet werden können. Die renommiertesten Tropenmediziner kamen damals aus Deutschland, allen voran der Nobelpreisträger Robert Koch. Schon als Junge träumte er davon, reisender Forscher zu werden wie sein Vorbild Alexander von Humboldt. Mit der Kolonialherrschaft wurde dieser Traum wahr. 1883, im Alter von 39 Jahren, begleitete er eine der ersten tropenmedizinischen Expeditionen auf der Spur einer tödlichen Seuche.
Robert Koch arbeitet im Laborzelt auf den Sese-Inseln bei der Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit
Robert Koch im Laborzelt auf den Sese-Inseln, 1905/06 (Robert-Koch-Institut)
Auf der Jagd nach dem Cholera-Bakterium
"Aus den Kolonialarchiven geht hervor, dass es im 19. Jahrhundert mehrere globale Ausbrüche von Seuchen gab. Mehrere Epidemiologen und Biologen wie John Snow, Louis Pasteur und auch Robert Koch suchten nach einer Therapie. Als in Ägypten Cholera ausbrauch, ging Robert Koch nach Alexandria, mit dem Ziel, das Bakterium zu isolieren."
Was ihm allerdings nicht gelang, sagt Dr. Edna Bonhomme vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Sie hat sich mit Robert Kochs Forschungsprojekten in den ehemaligen Kolonien befasst. Als die Cholera-Epidemie abebbte, zog Koch weiter nach Indien. Dort beschrieb er die Übertragungswege und festigte damit seinen Ruf als exzellenter Infektiologe. Aber auch als narzisstischer Forscher, getrieben von wissenschaftlichen Erkenntnissen, um jeden Preis.
Historisches Foto, um 1905/06: Robert Koch (mit Tropenhelm) steht als Teilnehmer der deutschen Expedition auf der Suche nach den Erregern der Schlafkrankheit in Ostafrika vor Booten mit Einheimischen; diese teilweise in Uniform.
1905/06: Expedition auf der Suche nach den Erregern der Schlafkrankheit (Robert-Koch-Institut)
Die Schlafkrankheit bedroht die koloniale Infrastruktur
Bald war Robert Koch die Hälfte seiner Zeit auf Reisen: Südafrika, Deutsch-Ostafrika, 1906 zog er im Auftrag der deutschen Reichsregierung für zwei Jahre auf die Sese-Inseln im Viktoriasee. Dort fand er einen Seuchenherd für die Schlafkrankheit, die in nur wenigen Jahren eine Viertelmillion Menschen im heutigen Uganda dahingerafft hatte. Edna Bonhomme:
"Es handelt sich um einen von Insekten übertragenen Parasiten, der nicht nur Menschen, sondern auch Tiere befällt und eine langsam voranschreitende Krankheit verursacht. Die Schlafkrankheit galt als mysteriös. Im frühen 20. Jahrhundert sprach man in Ost- und Zentralafrika von einer Epidemie. Damals gab es noch kein Gegenmittel. Die Krankheit kann auch tödlich enden, vor allem, wenn sie nicht behandelt wird. Deshalb war sie für einige Kolonialherren ein Thema, weil sie fürchteten, weniger Arbeiter zur Verfügung zu haben."
Die brauchten die Kolonialherren aber dringend für den Ausbau der Infrastruktur. Daher fürchteten auch die Kolonialmächte der angrenzenden Gebiete, dass eine Epidemie das koloniale Projekt in die Krise stürzen könnte. Die Sese-Inseln, benannt nach der Tsetse-Fliege, die die Schlafkrankheit überträgt, standen zwar unter britischer Herrschaft und die Kolonialmächte konkurrierten auch in der Medizin. Aber der Kolonialismus galt auch als europäisches Projekt. Deshalb half man sich.
Zwei weiße Ärzte nehmen eine Blutprobe bei einem liegenden Tsetse-Patienten, im Hintergrund die zuschauenden Dorfbewohner. Illustration aus dem Magazin La Nature vom 14.11.1903
Blutuntersuchung bei einem Schlafkrankheit-Patienten (www.imago-images.de/Collection KHARBINE TAPABOR)
Dosierungs-Tests mit dem arsenhaltigen Mittel Atoxyl
"Koch wurde von britischen Beamten eingeladen, er war schließlich ein weltberühmter Wissenschaftler. 1905 hatte er den Nobelpreis gewonnen. Er galt als weltweit bester und gefeierter Forscher. Wenn es ihm nicht gelingen sollte, ein Heilmittel gegen die Schlafkrankheit zu finden, wem dann. Er nahm seine Frau mit, eine Schauspielerin, und zahlreiche Assistenten. Koch hatte alle Ressourcen, die er brauchte, er war mächtig und privilegiert und er wurde von den britischen Kolonialministern respektiert."
Als Medikament testete er das arsenhaltige Mittel Atoxyl. Dass es in hoher Dosierung giftig ist, war bekannt. Trotzdem erhöhte er die Dosis schrittweise auf ein Gramm Atoxyl, spritzte in Intervallen von sieben bis zehn Tagen und nahm Schmerzen, Erblindung und den Tod tausender Menschen billigend in Kauf.
"Diese Experimente wurden in Deutschland an Tieren durchgeführt. An Menschen waren sie verboten. In Afrika hat Koch aber die Menschen als Forschungssubjekte benutzt, auf eine Art und Weise, in der es in Deutschland nie erlaubt gewesen wäre."
Glasflaschen mit dem von Robert Koch entwickelten und mit hohen Gewinnerwartungen propagierten Mittel "Tuberkulin".  Wie sich bald herausstellte, war die Substanz wirkungslos und für die Patienten hoch gefährlich. 
Auch in Deutschland führte Robert Koch völlig unverantwortliche Menschenexperimente durch - der Tuberkulin-Skandal ruinierte seinen Ruf gründlich (Robert-Koch-Institut)

Systematische Menschenversuche in "Konzentrationslagern"

Um pro Tag rund 1000 Patienten zu untersuchen, isolierte er vermeintlich Kranke in sogenannten Konzentrationslagern: Einer Ansammlung von Strohhütten und rudimentären Zelten, die bei Sturm umgeweht wurden. Es fehlte an allem: Decken, sauberem Wasser, zu essen gab es oft nur Mehl und Salz. Wie viele Menschen allein wegen dieser Zustände starben, weiß niemand. Konzentrationslager gab es nicht nur auf den Sese-Inseln, sondern überall, wo europäische Ärzte antraten, um Seuchen zu besiegen. Wolfgang Eckart fand heraus, dass viele die Gefangenschaft auch nutzten, um mit willkürlichen Injektionen zu experimentieren:
"Die Bevölkerung war misstrauisch und sie hatte auch Gründe, misstrauisch zu sein. Besonders bei der Schlafkrankheit war das so, in Westafrika vor allen Dingen, wo man afrikanische Menschen in großer Zahl, die man für mit Schlafkrankheit infiziert hielt, zusammenbrachte in solchen Lagern. Die man auch Konzentrationslager nannte, um an ihnen dort in einer Situation, die die Flucht unmöglich machte, Humanexperimente, sogenannte therapeutische Experimente durchzuführen. Und ein Arzt hat das mal so formuliert, uns geht es gar nicht so sehr darum, in erster Linie die Anzahl der Überlebenden zu steigern, sondern wir wollen sehen, wie die Dosis der Medikamente gestaltet werden muss, dass sie am besten zu ertragen sind. Und am wenigsten Menschen dabei sterben."
Historisches Foto: Schwarze Patienten mit Tsetse sitzen auf einer Bank. Beim Robert-Koch-Institut ist dieses Foto so betitelt: "Patienten, die an der Schlafkrankheit leiden, dämmern vor sich hin. Dann sterben sie."
Der Begleittext weist allerdings auf die "Schwersten Nebenwirkungen durch Atoxyl" hin und bezeichnet Kochs letzte Forschungsreise gleichzeitig als seine "unrühmlichste".
Schlafkrankheit-Patienten bei der Expedition 1905/06 - ging es um ihre Heilung oder um wissenschaftlichen Ruhm? (Robert-Koch-Institut)
Deutsche Ärzte erproben an Afrikanern, was sie später an Juden perfektionieren
Die Kolonialmedizin sollte nicht Menschen in Not helfen. Sie diente dem ökonomischen Aufschwung der Kolonie – und neuen Erkenntnissen für die deutsche Wissenschaft und die Pharmaindustrie. Deshalb haben die Kolonialärzte auch den Menschen ohne Grund extrem schmerzhafte Öl- und Salzlösungen gespritzt oder sie in der Wüste ausgesetzt, um zu sehen, wie lange sie dort überleben. Jahrzehntelang verbargen sich diese Horrorgeschichten hinter den Verbrechen des Naziregimes in den KZs. Derweil haben die deutschen Ärzte an Afrikanern erprobt, was sie später an Juden, Homosexuellen und politischen Gegnern perfektionierten. Eckart:
"Es gibt keine unmittelbaren Analogien zu den Vernichtungslagern im zweiten Weltkrieg, beziehungsweise während der nationalsozialistischen Diktatur. Aber wenn man sich die Struktur dessen ansieht, was dort geschah: Die Humanexperimente in einer Sondersituation der Unfreiheit, die vollkommene Abhängigkeit, die körperliche Abhängigkeit in ihrer absoluten Totalität, der Aspekt, dass Todesfälle in Kauf genommen wurden - dann muss man schon sagen, dass diese Lager den späteren Vernichtungslagern beziehungsweise den Konzentrationslagern in gewisser Weise glichen. Hinzu kommt, dass es personale Kontinuitäten gab."
Dachauer Kriegsverbrecherprozess: Der Angeklagte Dr. Claus Schilling (Lagerarzt, der Malariaexperimente durchgeführt hat) sitzt auf dem Angeklagten-Stuhl vor einem U.S.-Militärgericht, im Saal Zuschauer und Wachpersonal. Schilling wurde am 13.12.1945 zum Tode verurteilt und am 29.05.1946 gehängt. 
Der Angeklagte Claus Schilling vor dem U.S.-Militärgericht in Dachau (imago stock&people)

Personale Kontinuitäten von "Tropenmedizinern" zu NS-Verbrechern

Zum Beispiel mit Claus Schilling: Bis 1905 betrieb er in Togo eine Praxis für Einheimische und führte an ihnen fragwürdige Experimente durch. Später hat er Geisteskranke in Italien und über 1000 Häftlinge im KZ Dachau mit Malaria infiziert, um ein Medikament gegen die Tropenkrankheit zu finden. Obwohl er bis zuletzt behauptete, seine brutalen Versuche dienten einem guten Zweck, wurde er im Prozess gegen die Dachauer Wachmannschaften 1945 zum Tode verurteilt.
"Er hat zunächst seine Unschuld beteuert und gesagt, dass all diese Dinge doch einem guten Zweck gedient hätten, aber als dann plötzlich seine Versuchsprotokolle auftauchten und die ganze Brutalität seiner Versuche ganz offensichtlich wurde, dann hat er vor Gericht einen Wutanfall bekommen und damit ganz offensichtlich gezeigt, dass hier doch ein Schuldbekenntnis und eine Schuldfähigkeit vorhanden waren und dafür ist er dann eben auch bestraft worden."
Oder der Rassenhygieniker Eugen Fischer, Gründer des Kaiser-Wilhelm-Instituts. Er war beim Anblick der Kinder weißer Kolonialherren und schwarzer Frauen in Nigeria so geschockt, dass er sie zwangssterilisieren ließ. 1937 hat er dann im Rheinland 500 bis 800 Kinder von deutschen Frauen und französischen Soldaten gegen ihren Willen auf brutale Art und Weise unfruchtbar gemacht. Obwohl das in Deutschland schon damals illegal war.
Oder Ernst Rodenwaldt, auch er ein Rassentrennungsfanatiker und Wortführer der nationalsozialistischen Bewegung.
"Und wenn man dann noch bedenkt, dass Ernst Rodenwaldt auch nach 1945 als Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine Sektion geleitet hat, die sich mit globalmedizinischen Fragen beschäftigte, dann wirkt das heute wie ein Hohn."
Bis zu seinem Tod 1965 war er auch als Berater für den Sanitätsdienst der Bundeswehr und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Entwicklungshilfe tätig.
Deutsche Kolonialbeamte im westafrikanischen Lome (in Togo), um 1905 am Esstisch, dahinter stehen einheimische Jungen. Das Foto stammt aus dem Album eines Kolonialbeamten.
Kolonialbeamte im westafrikanischen Lome (Togo), um 1905 (picture-alliance / akg-images)
Pockenimpfungs-Desaster in der deutschen Kolonie Togo
Von 1909 bis 1913 hat er in der damaligen deutschen Kolonie Togo Pockenmassenimpfungen schlampig durchgeführt. Hunderte von Menschen, rund fünf bis zehn Prozent aller Geimpften, starben 1911 beim nächsten Ausbruch, da der Erreger im Lebendimpfstoff oft nicht wirksam war. Eckart:
"Das hat ihm einen relativ schlechten Ruf in der kolonialen Peripherie eingebracht und eine Impfmüdigkeit, ja für eine Impffeindlichkeit in der afrikanischen Bevölkerung gesorgt, die schon beispiellos war. Das passte sehr gut hinein in die große Skepsis gegenüber der westlichen Medizin, die man doch eher als feindliche Medizin und nicht als hilfreiche Medizin betrachtete. Und hatte vielfach den Eindruck zu Recht, dass an den Körpern der Afrikanerinnen und Afrikanern erprobt werden sollte, was ganz anderen Zwecken diente."
Dabei waren der Pockenimpfstoff und seine Tücken gut erforscht. Im Reichsgebiet galt seit 1874 eine Impfpflicht gegen Pocken. Anfang 1900 wurde der Impfstoff aus dem Königlichen Institut in Dresden bis nach Togo verschifft. Bei seiner Ankunft war er meist verfallen. Deshalb begannen die Kolonialärzte ab 1902, den Lebendimpfstoff aus Kälberlymphe vor Ort selbst zu züchten. Sie taten das aber über zwanzig Generationen hinweg, so dass die Impfung am Ende wieder keine Wirkung erzielte. Die vorgeschriebene Wirksamkeitsprüfung ließen sie einfach sein. Als Grund für die vielen Todesopfer unter den Geimpften gaben sie einfach vor, es handle sich um eine besonders hartnäckige biologische Varietät des Erregers. Das Vertrauen der Einheimischen hatten sie zu diesem Zeitpunkt längst verspielt. Während die anfangs vor den rudimentären Impfstationen Schlange standen, haben die Kolonialärzte sie später zum Impfen gezwungen.
Einwohner der Provinz Natal; Frauen, Männer und Kinder warten in einer Schlange auf ihre Impfung, vorne erhält gerade eine junge Frau die Injektion von einem weißen Arzt. Der Titel der historischen Photographie lautet: "Vaccination in Natal: A brave patient in a native location"
"Tapfere Patientin" bei der Pockenimpfung in Natal 1904 - die Kolonialregierung hatte eine allgemeine Impfung angeordnet (picture alliance/Everett Collection)

Erzwungene Behandlung auch beim Ebola-Ausbruch?

Chernoh Bah ist einer, der glaubt, Fälle wie diese wirkten bis heute fort: "Selbst beim letzten Ebola-Ausbruch im Kongo gab es eine Situation, in der sich Menschen beschwerten, sie seien zu einer Behandlung gezwungen worden."
Der Soziologe aus Sierra Leone gehört zu einer Generation junger Afrikaner, die nachgräbt. Er ist im ehemaligen britischen Protektorat Sierra Leone aufgewachsen, wo einst Mediziner des Liverpool Instituts Tropenkrankheiten wie Malaria und Gelbfieber erforschten und Medikamente gegen die Seuchen Europas testeten. Während des Ebola-Ausbruchs 2014/2015, als Forscher, Ärzte und Freiwillige aus dem Westen nach Sierra Leone strömten, erlebte er, wie sehr die Vergangenheit die Menschen bis heute emotional prägt. Und wie schnell Misstrauen entsteht:
"Ich weiß von einer Situation in einem Behandlungszentrum in Freetown, wo Ebola-Patienten angeblich das Herzmedikament Amiodaron verabreicht wurde, um sie zu heilen. Später protestierten die Ärzte und Krankenpfleger. Sie behaupteten, dass viele Menschen in diesem Zentrum starben, weil sie die falsche Behandlung bekommen hatten."
Zwei Personen in gelber Schutzkleidung heben eine in schwarze Plastikfolie verpackte Leiche in ein Grab
In Freetown, Sierra Leone, wird 2014 ein Ebola-Toter begraben. (AFP / Florian Plaucheur)
Therapieversuche mit für Ebola nicht zugelassenem Medikament
Das Medikament, das normalerweise bei Herzrhythmusstörungen eingesetzt wird, hatte in einer deutschen Labor-Studie in Hannover auch gegen Ebola gewirkt: Möglicherweise hinderte Amiodaron das Virus daran, in die Zellen einzudringen. Aber dies war nicht einmal an Ratten überprüft worden. Deshalb setzte die WHO und die Regierung in Sierra Leone das Präparat auch nicht auf die Liste von Medikamenten, die gegen Ebola verabreicht werden durften, solange es noch kein wirksames Gegenmittel gab.
Das Behandlungszentrum Lakka wurde von der italienischen NGO "Emergency" betrieben. Die Pfleger waren Freiwillige aus Großbritannien. Sie brachten die Versuche ans Licht, weil die Injektion hoher Dosen bei einigen Patienten zu Atemwegserkrankungen und Entzündungen führten – und zu einer Sterberate von 67%. In anderen Behandlungszentren starben im Durchschnitt 50 bis 60% der Ebola-Infizierten.
Emergency stoppte daraufhin die Tests, das war es. Keine Ermittlung, kein Gerichtsverfahren, keine Entschädigung. Deshalb hätten die Leute den Eindruck, sie würden missbraucht, sagt Bah – wie damals von den Kolonialärzten. Der Überzeugung, die weißen Forscher und Ärzte wollten den Afrikanern und Afrikanerinnen nicht helfen, sondern von ihnen profitieren, sei tief in der Psyche vieler Menschen verwurzelt. Insbesondere dort, wo aktuelle Fälle von Missbrauch an solche aus der Vergangenheit erinnern.

Misstrauen reicht bis in die Covid-19-Zeiten

"Heute kursieren in Westafrika, in Guinea, Sierra Leone, Liberia, Geschichten; Zeugen erzählen, wie Familien während des Ebola-Ausbruchs gestorben sind, weil sie Versuchsmedikamente erhalten hätten, die nicht geeignet gewesen seien, Ebola-Patienten zu behandeln. Die Betroffenen werden in Zeiten von Covid sehr misstrauisch sein, wenn sie erfahren, dass Ärzte aus dem Westen – nicht, dass es dort keine anständigen Ärzte gibt – aber allein die Erinnerung an all diese Dinge hat auch eine Auswirkung darauf, wie die Menschen mit Leuten aus anderen Teilen der Welt interagieren."
2015, nach dem großen Ebola-Ausbruch in Westafrika, wurde Chernoh Bah zum Wissenschaftler. Er reiste entlang der Infektionskette bis zum vermutlich ersten Infizierten im Nachbarland Guinea. Führte Interviews mit 2000 Menschen. Und er schrieb ein Buch, in dem er das Vorgehen der Forscherinnen und Helfer aus dem Westen und das seiner Regierung kritisiert. Während seiner Lesungen in den USA wurde ein Professor der Northwestern University auf ihn aufmerksam. Er bot ihm an, bei ihm zu promovieren. Seit 2016 lebt er mit seinem Sohn in Chicago.
"Jetzt arbeite ich an der Geschichte medizinischer Versuche in Gefängnissen und der Anwendung tropenmedizinischer Forschung. Ich beschäftige mich mit Experimenten, die in Sierra Leone und Teilen Westafrikas von britischen Wissenschaftlern durchgeführt wurden, aber auch von anderen europäischen Ärzten, die in die transnationalen Studien über Erreger und den Ursprung von Krankheiten involviert waren."
Portraitfoto von Sir Ronald Ross (1857-1932) in britischer Armeeuniform. Ross erhielt 1902 den Nobelpreis für Medizin. 
Der englische Nobelpreisträger Ronald Ross identifizierte die Anopheles-Mücke als Überträgerin der Malaria (www.imago-images.de/John Short)
Experimente der "Liverpool School of Tropical Medicine" an Häftlingen
Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf Sierra Leone während des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Die Briten übten dort ihre Macht mittels einheimischer Herrscher aus. Sie exportierten Palmöl, Kaffee und Kakao, ab den 30er Jahren auch Diamanten. Und sie entdeckten Sierra Leone als Labor: 1899 fand der Tropenmediziner Ronald Ross dort heraus, dass Malaria von der Anopheles-Mücke übertragen wird. 1921 eröffnete Alfred Jones, der Gründer des britischen Pendants zum Robert-Koch-Institut, in der Hauptstadt eine Zweigstelle.
"Die Liverpool School hatte ein Labor in Sierra Leone und Wissenschaftler aus Liverpool waren an einigen Experimenten beteiligt, die die Schlafkrankheit, Flussblindheit und Schwarzwasserfieber betrafen."
Die Experimente führten sie in erster Linie an Gefängnisinsassen durch, die regelmäßig unter Ausbrüchen von Tropenkrankheiten litten. Sie hatten auch mit Darmkrankheiten wie der roten Ruhr zu kämpfen, die damals auch in Europa verbreitet war. Das kam der britischen Regierung in Europa gelegen. Als der Chemiker Harrison Martindale das Gegenmittel Emitin entwickelte, testeten es die Ärzte der Liverpool School in Sierra Leone – an afrikanischen Soldaten, die während des ersten Weltkriegs für das Empire in Kamerun und Togo gegen die Deutschen kämpften. Die Nebenwirkungen; Übelkeit und Herzprobleme, nahmen sie in Kauf und führten die Tests später an Häftlingen fort.
Vergleichende Versuche an inhaftierten Menschen - und Hühnern
Anhand der Gefängnisakten von 1914 bis 1964 rekonstruiert Chernoh Bah jetzt, welche Versuche auf dem Gefängnisareal, auf dem heute Hotels stehen, einst noch durchgeführt wurden. Besonders perfide ein Beispiel aus den Jahren vor dem NS-Vernichtungskrieg in Europa, als sich die Einteilung der Menschen in höher- und minderwertige Rassen durchsetzte:
"Die Forscher haben Versuche an Individuen durchgeführt und dann an Kaninchen, Ratten und Hühnern wiederholt. Sie machten auch eine Studie mit Hühnern, um herauszufinden, welche Art von Training für Gefangene, die keine Arbeit haben, besser ist. Es ging um die Beziehung zwischen Ernährung und sportlicher Aktivität im Gefängnis, das sie studierten, indem sie Menschen mit Hühnern verglichen."
Wenn ihrer Gesundheit Schaden zugefügt wurde, könnten die Nachkommen der Betroffenen theoretisch heute noch vor Gericht ziehen. Sie könnten Großbritannien in ihrem Heimatland oder in Europa verklagen – wegen der Verletzung ethischer Prinzipien. Aber keiner habe das je getan. Die meisten wüssten gar nicht über die Versuche Bescheid, sagt Bah. Er war der erste, der nach Liverpool reiste und 21 Kisten aus Sierra Leone im Keller des Instituts öffnete. Sie waren voll mit Protokollen über den Gesundheitszustand der Häftlinge, über die Krankheitsausbrüche im Gefängnis und die Medikamente, die die Kolonialherren verabreichen ließen.

Grenze zwischen vertretbaren oder unzulässigen Experimenten nicht geregelt

"Auf internationaler Ebene gibt es natürlich ein Quorum, das besagt, man solle Menschen keinen Schaden zufügen. Aber die Frage der Experimente ist nicht unbedingt kodiert wie eine UN-Initiative für Menschenrechte. Wenn jemand mit jemand anderem experimentiert, würde das unter eine Art freie Rubrik fallen, aber international verbindlich gibt es keine explizite Regel, die medizinische Versuche per se betrifft."
Die Medizinhistorikerin Edna Bonhomme glaubt: ein Konsens, was ein Experiment und was problematisch ist, sei international schwer zu finden. Sie nennt ein Beispiel aus Simbabwe aus den 70er Jahren: Damals wurde das Verhütungsmittel Depo-Provera klinisch an Frauen getestet. Nach der Zulassung wurde es von der Kolonialregierung verteilt. Allerdings nicht auf freiwilliger Basis:
"Farmbesitzer haben die Frauen unter Druck gesetzt, die Pille einzunehmen. Das führte dazu, dass sie oft nicht wussten, was diese Pille mit ihnen macht. Das Beispiel eines Medikaments, das mit Zwang verteilt wird, um schwarze Frauen auf dem afrikanischen Kontinent daran zu hindern, sich fortzupflanzen, mag für manche Leute nicht so schlimm sein, nach dem Motto, es gebe ja zu viele Menschen. Aber andere Menschen, die weiterdenken, würden sagen, dass das eine Art erweiterte Form von Versuch ist, Afrikanerinnen Medikamente aufzuzwingen.
USA 1972: Ein kleiner schwarzer Junge bekommt eine Impf-Injektion. In einer Reihe daneben warten schwarze und weiße Kinder, begleitet von ihren Müttern. Die Szene wurde in der fiktiven "Dixon Tiller County" verortet, einer Modellgemeinde der US-Gesundheitsbehörden - und wurde als Lehrmaterial für Impfaufklärung verwendet
Schwarze und weiße Kinder werden gemeinsam geimpft - eine Szene mit didaktischer Absicht (imago stock&people/CDC/Reuel Waldrop)

Impfskepsis auch bei US-AfroamerikanerIinnen deutlich erhöht

Bei ihren Recherchen auf dem afrikanischen Kontinent hatte Edna Bonhomme den Eindruck, dass die Menschen insgesamt den Wert westlicher Medizin heute anerkennen. Sensibel reagierten sie allerdings, wenn Pharmafirmen im Spiel seien, wenn sie über Nebenwirkungen nicht informiert oder zu einer Behandlung gedrängt würden. Dann käme sofort wieder das Gefühl hoch, ein Spielball der Mächtigen zu sein.
Das gilt nicht nur in Afrika selbst: Einer Studie des Pew Research Centres vom September zufolge würden sich in den USA nur 32 Prozent aller Afroamerikaner gegen Covid-19 impfen lassen – im Vergleich zu 52 Prozent der Weißen. Obwohl sie besonders häufig am Coronavirus erkranken. Als Grund gaben sie systematischen Rassismus an und Missbrauch von Schwarzen während der Tuskegee-Syphilis-Studie. 399 afroamerikanische Landpächter wurden zwischen 1932 bis 1972 Opfer eines Experiments des US-Public Health Service. Ohne informierte Einwilligung, ohne Behandlung, auch als bereits eine Heilmethode zur Verfügung stand. Es werde nicht leicht, das Vertrauen wieder herzustellen, glaubt Bonhomme:
"Die Leute müssen sehen, dass die Welt, in der sie leben, nicht anti-black ist. Im US-Kontext bedeutet das: Für einige Menschen ist es schwierig, zu glauben, dass eine Impfung oder ein Impftest für Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner nur das Beste will. Weil sie in anderen Bereichen benachteiligt werden. Für Menschen auf dem afrikanischen Kontinent könnten wir auch sagen: Warum können die Afrikaner nicht genauso einfach nach Europa reisen, wie die Europäer auf den afrikanischen Kontinent? Das sind die Dinge, die die Leute vorbringen. Wenn es Beweise dafür gibt, dass die Menschen gleichbehandelt werden, basierend auf der Funktionsweise von Grenzregimen, Entschädigungen, Ressourcen, Macht und Bewegungsfreiheit, denke ich, dass die Menschen auch der Wissenschaft vertrauen."
Aktivistinnen in traditioneller Kleidung Demonstrieren in deutschland.
OvaHerero- und Nama-Aktivistinnen protestierten schon mehrfach in Deutschland für eine Wiedergutmachung (Rauten Strauch Joest/Joachim Zeller CC BY-ND 2.0)
Medizin-Gräuel in Afrika treten erst allmählich ins Bewusstsein
Wieviele Menschen wurden in den letzten hundert Jahren in Afrika Opfer der Medizin? Zahlen über die Versuche im Auftrag der Kolonialregierungen und wie viele Menschen daran starben, gibt es nicht. Jahrelang standen die Verbrechen der NS-Zeit im Vordergrund. Erst jetzt dringen die Gräuel in den ehemaligen Kolonien allmählich ins Bewusstsein der Täter. Für Edda Bonhomme und Chernoh Bah geht es bei der Aufarbeitung um Gerechtigkeit und Wissen.
"Die Geschichte des medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritts ist nicht frei von Problemen und fortwährenden Experimenten. Um sicherzugehen, dass sich diese Erfahrungen nicht wiederholen, müssen wir wissen, was damals passiert ist."
Die einzigen Nachkommen afrikanischer Volksgruppen, die während der Kolonialzeit Opfer von Menschenexperimenten wurden und jemals vor Gericht zogen, sind die traditionellen Führer der Herero und Nama aus Namibia. 2017 verklagten sie Deutschland in den USA für den Völkermord, den deutsche Truppen Anfang des 20. Jahrhunderts an ihnen begingen. In der Klageschrift steht auch, dass deutsche Ärzte an lebenden Herero-Gefangenen medizinische Experimente in Konzentrationslagern durchgeführt hätten. Dafür fordern sie bis heute Entschädigung. Die Völkermord-Klage lehnte das US-Gericht 2019 ab.