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Menschenrechte
Die Würde des Menschen ist antastbar

Vor 40 Jahren bekam die Menschenrechtsorganisation Amnesty International den Friedensnobelpreis. Als Durchbruch für die Idee der Menschenrechte verstand man das damals. Doch heute sind viele Aktivisten ernüchtert.

Von Burkhard Schäfers |
    Soldaten an einem Zaun aus Stacheldraht
    "Die große Zahl von Emigranten nährt die Forderung, die bisher wohl etablierten Schutzmechanismen der Menschenrechte wieder etwas zurückzubauen", erklärte Rechtsphilosoph Peter Koller im Dlf (picture alliance / dpa / Kostas Tsironis)
    Vor 40 Jahren, 1977, wurde die Menschenrechtsorganisation Amnesty International mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Ein Durchbruch für die Idee der Menschenrechte, dachte man damals. Und heute? Ingrid Bausch-Gall von Amnesty ist ernüchtert:
    "Wir sind jetzt in eine politische Situation weltweit geraten, die uns nicht verzweifeln lässt, aber die uns manchmal darüber nachdenken lässt, ob das überhaupt einen Sinn hat, was wir da tun. Und wir müssen uns immer wieder gegenseitig bestätigen: Nichtstun ist auch keine Alternative."
    In Europa gelten die Menschenrechte als etabliert. Sie sind in nationalen wie internationalen Erklärungen und Gesetzen verankert. Für mögliche Verstöße gibt es Gerichte, nicht zuletzt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Allerdings stelle die Flüchtlingsdebatte die Geltung der Menschenrechte zunehmend in Frage, sagt der Grazer Rechtsphilosoph Peter Koller.
    "Die große Zahl von Emigranten, Flüchtlingen, bringt natürlich auch unsere Gesellschaften unter Druck, und nährt bis zu einem gewissen Grad die Forderung, die bisher wohl etablierten Schutzmechanismen der Menschenrechte wieder etwas zurückzubauen."
    Die Wissenschaft kennt - grob unterteilt - liberale, Teilhabe- und soziale Menschenrechte. Geistesgeschichtlich führen manche die Idee bis in die Antike zurück, vor allem auf Cicero. Fundierte Theorien finden sich dann in der Neuzeit, etwa bei John Locke, Thomas Paine oder Immanuel Kant, erläutert Rechtstheoretiker Koller.
    Mitglieder von Amnesty International fordern auf Transparenten die sofortige Freilassung von Taner Kilic, dem Vorsitzenden von Amnesty in der Türkei 
    Protest gegen die Festnahme des Amnesty-Vorsitzenden in der Türkei, Taner Klic (AFP)
    "Allerdings wurden damals die Menschenrechte nicht als kodifizierte und einklagbare Rechte verstanden, sondern hauptsächlich als moralische Forderungen gegenüber dem Staat. Die Idee, solche Rechte bis zu einem gewissen Grad durch Einklagbarkeit verbindlich zu machen, ist erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgetaucht und hat eigentlich erst mit der Verfassungsgerichtsbarkeit im Recht radikalen Niederschlag gefunden."
    Missstände auch in Europa
    Wie verlässlich also sind das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Rechte auf Meinungsfreiheit oder Bildung heute? Stehen sie vor allem auf dem Papier, oder machen sie das Leben der Menschen tatsächlich besser? Zwar sprechen Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty regelmäßig von einzelnen Erfolgen, etwa wenn Staaten politische Gefangene freilassen. Zudem haben sich über die Jahrzehnte politische und rechtliche Strukturen entwickelt, die Menschenrechte sichern. Allerdings sieht Rechtsphilosoph Peter Koller Defekte in den Systemen - auch in Europa, wo die Menschenrechte nach verbreiteter Auffassung im weltweiten Vergleich am besten geschützt sind.
    "Man braucht eine kritische Zivilgesellschaft und eine kritische Öffentlichkeit, die diese Entwicklung verfolgt und bei Missständen sich auch rührt. Damit ist es noch nicht so weit her, wie es vielleicht sein sollte. Zumal diese Öffentlichkeit ja auch gespalten ist, wenn Sie nur an die Reaktionen auf Ungarn und Polen denken."
    Fehlende Gewaltenteilung, eine eingeschränkte Presse- und Wissenschaftsfreiheit: Die Entwicklung in Polen und Ungarn zeigt, dass selbst innerhalb der EU die Menschenrechte keineswegs als dauerhaft gesichert gelten können. Auch in Russland, der Türkei, Ägypten, Honduras oder Myanmar hätten es Menschenrechts-Aktivisten schwer, sagt Ingrid Bausch-Gall von Amnesty. Nichtregierungsorganisationen mussten Büros schließen, Aktivisten landeten aufgrund von Spionage- und Terrorvorwürfen im Gefängnis.
    "Wenn man Menschenrechtler einer großen, weltweit agierenden Organisation wie Amnesty International verhaftet, dann haben kleinere Organisationen, die nicht so vernetzt sind, mehr Angst. Das dient dazu, um Menschenrechtlern Angst zu machen."
    Idee der Menschenrechte unter Druck
    Die Idee der Menschenrechte gerät also von verschiedenen Seiten unter Druck - manche sprechen gar von einer Erosion der Idee. Terror, Kriege, Hunger, Umweltkatastrophen und Flucht schwächen politische Systeme - und damit die Chancen, Rechte durchzusetzen. In manchen Regionen haben bewaffnete Milizen wie der sogenannte 'Islamische Staat' quasi das alleinige Sagen. Und auch die Digitalisierung könne ein zentrales Menschenrecht gefährden, die Meinungsäußerungsfreiheit, sagt Winfried Löffler, Professor für Christliche Philosophie an der Universität Innsbruck. Er hält verlässliche Informationen für maßgeblich.
    "Gerade im Kontext von Sozialen Netzwerken, von Fake News, dem großen Problem von Dirty Campaigning scheint mir zunehmend die Ressource einer freien, informierten und sachlichen Diskussion, die eine Voraussetzung für pluralistische, demokratische Gesellschaften ist, in Gefahr zu geraten. So dass dieses gute alte Recht der Meinungs-, Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit in seiner Zerbrechlichkeit nicht aus dem Fokus rücken sollte."
    Auch um die Religionsfreiheit stehe es nicht zum Besten, sagt der Theologe. Er verweist etwa auf politische Debatten in Europa darüber, was Muslime dürfen und was ihnen verboten werden soll.
    "Es gibt einige Anzeichen, die Religionsfreiheit wieder einzuschränken. Das ist aber eine schwierige Gemengelage aus der Zurückdrängung radikaler politischer Tendenzen. Hier werden meines Erachtens oft Probleme verwechselt oder man versucht, durch die Einschränkung von religiösen Betätigungsfreiheiten eigentlich staatspolitische Probleme zu lösen."
    Keine einmal gewonnene Selbstverständlichkeit
    In der gegenwärtigen philosophischen Debatte rücken auch die sozialen Menschenrechte stärker in den Fokus - etwa die Gleichberechtigung, das Recht auf Arbeit und das Recht auf Gesundheit. Diese Rechte seien wichtig, damit Menschen nicht nur irgendwie überleben, sondern anerkannt leben, ohne missachtet, gedemütigt und erniedrigt zu werden, sagt der politische Philosoph Arnd Pollmann von der Universität Magdeburg.
    Ein Umzugswagen wird begleitet von zahlreichen Polizisten.
    Unter massiven Sicherheitsvorkehrungen demonstrieren in Kiew Menschen für die Gleichberechtigung von Homosexuellen und Transgender. (AP)
    "Die sozialen Menschenrechte schützen uns in ganz elementaren Hinsichten unseres Lebens. Sie ermöglichen uns soziale Sicherheit, und mit dem Recht auf Arbeit, Bildung und auch Gesundheit unsere alltägliche Reproduktion. Und sind insofern vielleicht sogar wichtiger als so manches andere Freiheitsrecht. Wenn ich wählen könnte entweder dazwischen, zu verhungern, oder die Bundesregierung späht meinen Computer aus, dann ist es klar, wie man sich entscheiden würde."
    Die wachsende Schere zwischen Arm und Reich stehe im eklatanten Widerspruch zu den menschenrechtlichen Idealen einer aufgeklärten, hoch entwickelten Gesellschaft, so Pollmann.
    "Insofern sind wir, obwohl wir eigentlich das begrifflich-rechtliche Instrumentarium, im Sinne eines Fortschritts, der Einsicht in das, was menschenrechtlich geboten ist, bereits verfügbar hätten, realpolitisch, weltwirtschaftlich gesehen, ferner denn je von dem Ziel der Verwirklichung sozialer Menschenrechte entfernt. Das zeigt, dass wir auf der Bewusstseinsebene weit sind, auf der realpolitischen Ebene nicht."
    Das Fazit der Philosophen: Die Menschenrechte sind keine einmal gewonnene Selbstverständlichkeit. Sie müssen gerade jetzt stärker denn je verteidigt und durchgesetzt werden.