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Menschenrechtslage in Russland
Wenn Protest ins Gefängnis führt

Widerstand gegen den russischen Staat ist gefährlich geworden. Neue Gesetze verbieten es, die Wahrheit über den Krieg zu sagen. Kremlkritiker verlieren ihre Arbeitsstelle und Pressefreiheit existiert in Russland praktisch gar nicht mehr. Um die Menschenrechte steht es schlecht.

Von Florian Kellermann |
Roter Platz bei Abenddämmerung in Moskau. Links der Kreml, rechts die Basilius-Kathedrale.
Russland hat seit Kriegsbeginn mehrere Gesetze beschlossen oder verschärft, die gegen die russische Verfassung und gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen (picture alliance / pressefoto_korb / Micha Korb)
Mitte März, drei Wochen nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine. Im Lokalparlament des Moskauer Krasnoselskij-Bezirks treffen sich die Abgeordneten. Einer von ihnen soll über die im Stadtteil geplanten Veranstaltungen in den Bereichen Bildung und Sport berichten. Doch der Abgeordnete Alexej Gorinow, ein schmächtiger Mann mit grauem Haar, sagt etwas Unerhörtes. Ein Ausschnitt aus der offiziellen Aufzeichnung der Sitzung:

"Ich finde, dass wir diesen Plan nicht zu verabschieden brauchen. Um Unterhaltung oder Muße kann es doch derzeit gar nicht gehen. Wir leben in einer ganz neuen Wirklichkeit. In unserem Nachbarland wird gekämpft. Unser Land tritt dort als Aggressor auf. Wie sollen wir hier über einen Malwettbewerb für Kinder sprechen, oder eine Tanz-Vorführung zum Tag des Sieges, wenn in der Ukraine jeden Tag Kinder sterben und andere Kinder zu Waisen werden. Ich finde, alle Bemühungen der Zivilgesellschaft sollten sich jetzt darauf richten, dass der Krieg beendet und die russische Armee aus der Ukraine abgezogen wird."

Die anderen Anwesenden blättern zunächst betreten in ihren Sitzungsunterlagen. Dann aber machen drei weitere der insgesamt sieben Abgeordneten deutlich, dass auch sie den Krieg in der Ukraine verurteilen. Eine russische Protestbewegung lag in der Luft kurz nach Beginn des Krieges. Eine Petition im Internet mit dem Aufruf "Nein zum Krieg" unterzeichneten rasch über eine Million Menschen. In den großen Städten gingen Tausende auf die Straße. Aber damit war nach einigen Wochen Schluss.

Repressionsapparat des Kreml schlug nach Kriegsbeginn schnell zu

Peter Franck, Russlandexperte bei "Amnesty International" in Deutschland, ist in ständigem Kontakt mit Kremlgegnern in Russland. "Warum in Russland nicht protestiert wird stärker? Die Repressionsschraube spielt da eine ganz große Rolle. Und natürlich auch die Erfahrung, die Leute gemacht haben, die durchaus auch protestiert haben. Die ein, zwei, drei Mal rausgegangen sind und vielleicht sogar auch schon mehrfach Administrativstrafen dafür in Kauf genommen haben und sehen, dass sie doch relativ vereinzelt sind. Und da ist natürlich das schon eine individuelle Entscheidung: Gehe ich diesen Weg weiter, obwohl er eigentlich nichts bewirkt und es die Leute nicht gibt, die sich dem anschließen könnten." 

Zumal es nach zwei Administrativstrafen in der Regel schon zu einer kürzeren Haftstrafe kommt. Und dann sagt auch so mancher Arbeitgeber, selbst wenn er dem Krieg kritisch gegenüberstehen sollte: Von dieser Mitarbeiterin, von diesem Mitarbeiter trenne ich mich lieber. Nach Kriegsbeginn schlug der Repressionsapparat des Kreml zu, schnell und heftig. Widerstand wird hart bestraft. Die Zivilgesellschaft wird seit Kriegsbeginn systematisch unterdrückt, Bürger- und Freiheitsrechte werden immer weiter eingeschränkt.
Die Duma verabschiedete seit Februar eine ganze Reihe neuer repressiver Gesetze. Allen voran: das umgangssprachlich sogenannte Fakenews-Gesetz. Wer aus Sicht des Kreml Falschmeldungen über den russischen Krieg in der Ukraine verbreitet, kann zu einer Haftstrafe von bis zu 15 Jahren verurteilt werden. Ein Gesetz, das es in Russland eigentlich gar nicht geben dürfe, sagt der Jurist Pawel Tschikow. Seine Anwaltskanzlei vertritt rund 35 Personen, die bisher auf der Grundlage dieses Gesetzes angeklagt wurden. Insgesamt wurden über 90 Strafverfahren eröffnet.
"Das ist Zensur. Und Zensur verbietet die russische Verfassung. Als Falschinformation gilt es schon, wenn sich jemand auf eine Quelle beruft, die von der Staatsmacht als nicht glaubwürdig angesehen wird. Das ist ein direktes Verbot jeder Information, die von offiziellen Quellen abweicht. Der Staat erklärt, dass er ein Monopol auf die Wahrheit besitzt."

Menschenrechtsorganisationen zählen knapp 4.000 Verfahren seit Kriegsbeginn

Alexej Gorinow, der Abgeordnete in einem Moskauer Stadtteil-Parlament, der den Krieg verurteilt hatte, wurde von einem Moskauer Gericht zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt – in einer Strafkolonie mit besonders strengen Haftbedingungen. Aber nicht alle Fakenews-Verfahren endeten mit einer Gefängnisstrafe, sagt Anwalt Pawel Tschikow: "Ja, manchmal haben wir Erfolg. In manchen Strafverfahren gelingt es, dass die Leute nicht verhaftet werden, dass sie nicht ins Gefängnis kommen. Sie erhalten dann zum Beispiel nur eine Bewährungsstrafe. In manchen Fällen können wir den Beschuldigten dabei helfen, das Land zu verlassen, bevor sie ernsthafte Probleme bekommen."

Ein weiteres neues Gesetz verbietet es, die russische Armee – wie es heißt – "zu diskreditieren". Mit anderen Worten: Negative Meinungsäußerungen über den Krieg werden bestraft, mit bis zu fünf Jahren Gefängnis. Hier hat die Staatsanwaltschaft nach letztem Stand elf Strafverfahren eingeleitet. Kritische Äußerungen über die russische Armee können auch mit Geldstrafen geahndet werden. Menschenrechtsorganisationen zählen hier knapp 4.000 Verfahren seit Kriegsbeginn.
Andere Gesetze wurden nicht neu ausgearbeitet, sondern verschärft. So das "Gesetz über ausländische Agenten". Als ausländischer Agent gelten Medien, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen, wenn sie aus Sicht des Staates politisch tätig sind und angeblich Geld aus dem Ausland bekommen. So ist es bisher. Künftig soll es laut Gesetz genügen, wenn sie vom Ausland beeinflusst sind. Was das heißt, bleibt unklar, sodass Regierung und Behörden praktisch jeden Menschen willkürlich mit diesem Stigma belegen können.

Wasilij Piskarjow, Abgeordneter der Kremlpartei "Einiges Russland", machte in der Duma klar, dass dieses Gesetz nun vor allem gegen Kritiker des Kriegs gerichtet ist: "Diesen Status als ausländischer Agent bekommt, wer sich im Interesse eines anderen Staats politisch betätigt. Hier geht es um unsere Sicherheit und darum, unsere Souveränität zu verteidigen. Wir sind in einer schwierigen internationalen Situation. Lasst uns unserer Armee helfen, die an unseren Außengrenzen arbeitet – und wir arbeiten hier im Inneren."

Politologe Witalij Kowin: "Die Staatsmacht will uns loswerden"

Einer, der schon im vergangenen Jahr den Status "ausländischer Agent" bekommen hat, ist der Politologe Witalij Kowin. Aber bis Ende Februar, bis zum Kriegsbeginn, habe das kaum jemanden interessiert, erzählt er. Erst danach wuchs der Druck auf seinen Arbeitgeber, die Pädagogische Universität in Perm, der Millionenstadt am Ural. Vor Beginn des Wintersemesters wurde ihm gekündigt, mit einer offensichtlich vorgeschobenen Begründung.

Witalij Kowin hatte eine Petition gegen den Krieg unterschrieben und sich auch in sozialen Netzwerken klar positioniert. "Jugendliche und vor allem Studenten sind die Gruppe in Russland, die Putin und die Ereignisse in der Ukraine am wenigsten unterstützt. Ich schätze, dass es nicht mehr als 30 Prozent von ihnen sind. Die Staatsmacht macht sich zurecht Sorgen, dass ihre Propaganda bei den jungen Leuten nicht ankommt. Solche Menschen wie ich, die eine gewisse Autorität haben, werden da als Gefahr wahrgenommen. Eine große Zahl an Studenten und Absolventen hat mir geschrieben und mir gedankt für meine Position. Deshalb will uns die Staatsmacht loswerden."

Die Jugendlichen seien vor allem deshalb gegen den Krieg, weil er sie persönlich betreffe, meint Kowin. Die Regierung hat die in Russland beliebte Internet-Plattform Instagram blockieren lassen. Musiker, die sich kremlkritisch geäußert haben, dürfen nicht mehr auftreten. Witalij Kowin geht davon aus, dass es der Geheimdienst FSB war, der die Maßnahmen gegen ihn ins Rollen brachte. Selbst in privaten Gesprächen müsse er vorsichtig sein, sagt Witalij Kowin: "Manchmal sind die Studenten in der Pause gekommen und haben mich nach meiner Meinung gefragt. Aber mir war klar, dass ich durch solche Gespräche in noch größere Schwierigkeiten kommen konnte. Es gibt auch Studenten, die die sogenannte Spezialoperation in der Ukraine unterstützen. Es gab einige Fälle, dass solche Studenten sich dann über ihren Dozenten beschwert haben. Solche Gespräche sind gefährlich."

Keine Möglichkeit, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden

Die russische Staatsduma hat seit Kriegsbeginn mehrere Gesetze beschlossen oder verschärft, die gegen die russische Verfassung und gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen. Juristisch überprüfen lassen können Russinnen und Russen das nicht. Im Inland gibt es keine unabhängigen Gerichte mehr. Und Mitte März wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen. Nach einer Übergangsfrist verlieren russische Bürger Ende dieser Woche die Möglichkeit, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu wenden.
Was die Mehrheit der Russinnen und Russen darüber denkt? Das schätzen Beobachter unterschiedlich ein. Die meisten stünden dabei hinter dem Kreml, weil sie auch den Krieg in der Ukraine befürworteten, sagt der Politologe Grigorij Golosow aus Sankt Petersburg: "Die meisten wissen nicht, was in der Ukraine wirklich passiert. Sie glauben der Propaganda: Dass die Ukraine kurz davor war, in die NATO einzutreten. Dass dann von dort eine Gefahr für Russland ausgegangen wäre. Dass die Ukraine selbst Russland angreifen wollte. Das galt es durch den Krieg zu verhindern, glauben die Menschen."

Witalij Kowin, der Politologe aus Perm, sieht die Sache etwas anders. Er traut den Meinungsumfragen nicht, die eine hohe Unterstützung für den Krieg signalisieren. "Die Menschen verstehen, dass es gefährlich sein kann, bei Meinungsumfragen ehrlich zu antworten. Deshalb weigern sich viele, überhaupt Auskunft zu geben. Oder sie geben die Antwort, die sie für die gewünschte halten. Niemand weiß, wie die Menschen in Wahrheit über das denken, was passiert."

NGO: Russische Strafgefangene als Kanonenfutter für das Militär

Es sind nicht nur die ausdrücklichen Putin-Kritiker, deren Rechte seit Kriegsbeginn eingeschränkt werden. Es trifft auch eine der schwächsten Gruppen in der russischen Gesellschaft – die Strafgefangenen. Eine 41-Jährige aus dem südrussischen Bezirk Rostow, die hier zu ihrem Schutz als Maria bezeichnet werden soll, erzählt: "Mein Mann ist zur Spezialoperation in die Ukraine aufgebrochen. Das haben mir Verwandte von Mithäftlingen aus dem gleichen Gefängnis erzählt. Jetzt habe ich seit Wochen nichts mehr gehört. Ich habe Anfragen gestellt, an die Gefängnisverwaltung, die Polizei, die Staatsanwaltschaft. Jetzt warte ich auf die Antworten, um irgendetwas unternehmen zu können."
Stacheldraht vor blauem Himmel
7.000 Strafgefangenen seien illegal eingezogen worden, um an vorderster Front in der Ukraine zu kämpfen, so eine russische NGO (picture alliance / Russian Look / Maksim Konstantinov)
Maria hat also keine Information, wo genau sich ihr Mann aufhält und unter welchen Umständen er in den Krieg in der Ukraine gebracht wurde. In ihrem letzten Gespräch hatte er ihr versprochen, sich nicht einziehen zu lassen. Im Oktober hätte sie ihn das nächste Mal besuchen dürfen. Nur eines weiß die Frau: "Das ist alles auf keinen Fall legal. Dem Gesetz nach darf ihn die Gefängnisverwaltung nur in eine andere Haftanstalt innerhalb des Bezirks Rostow verlegen. Er darf keinesfalls das Land verlassen. Ich habe keine Ahnung, ob ihm das nicht irgendwann einmal als Flucht angelastet wird. Ich habe keine Antwort auf diese Fragen."

Vor allem hat Maria Angst, dass ihr Mann im Krieg fällt. Er wäre nicht der erste russische Strafgefangene, der in der Ukraine an vorderster Front ohne gründliche Ausbildung eingesetzt wird. Kanonenfutter seien diese Menschen für das Militär, meint Olga Romanowa von der Nicht-Regierungsorganisation "Rus Sidjaschtschaja", die sich um die Rechte von Strafgefangenen kümmert. Schon 7.000 seien illegal eingezogen worden, sagt sie – mit dem Versprechen auf einen Sold von umgerechnet 4.000 Euro im Monat. Zudem sollen ihre Familien eine hohe Abfindung erhalten, falls sie sterben. Und nach einem halben Jahr werde ihnen ihre Haftstrafe erlassen, heißt es.

NGO: "Jeder Ort auf der Welt ist besser als ein russisches Gefängnis"

Formal schließen sich die Kriegsgefangenen einer Privat-Armee an, der sogenannten Wagner-Gruppe. Diese ist jedoch eng mit dem Kreml verbunden. Ohne die Zustimmung von Präsident Putin wäre es ohnehin undenkbar, dass die Wagner-Gruppe in Gefängnissen rekrutiere, sagt Olga Romanowa. Ob die Strafgefangenen freiwillig an die Front gehen?

"Nach Kriegsbeginn, im April, hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das auf dem Papier gegen Folter in Haftvollzugsanstalten gerichtet ist. Aber bei uns wird das Schwarze ja gern weiß genannt und umgekehrt. Das Gesetz erlaubt de facto Folter im Gefängnis. Es ist kaum mehr möglich, vor Gericht gegen Folter vorzugehen. Das ist mit der Werbung von Häftlingen für die Armee verbunden. Sie sind bereit, in den Krieg zu gehen, weil sie täglich erfahren: Jeder Ort auf der Welt ist besser als ein russisches Gefängnis."

Viele der Strafgefangenen sterben schnell an der Front, sagt Olga Romanowa. Von den 68, die sich im Gebiet Nowgorod vor einigen Monaten als erste verpflichtet hätten, seien nur noch wenige am Leben. Nicht-Regierungsorganisationen wie "Rus Sidjaschtschaja" versuchten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Zivilgesellschaft in Russland zu entwickeln. In den vergangenen Jahren wurde das immer schwerer. Sie wurden als "ausländische Agenten" abgestempelt, vielfach auch verboten, wie im vergangenen Jahr die Menschenrechtsorganisation "Memorial".
Jetzt, mit dem Krieg, komme für sie ein weiteres Problem dazu, sagt Olga Romanowa. Westliche Partnerorganisationen zögerten, sie weiterhin zu unterstützen. "Sie sagen uns: 'Wieso sollten wir noch Menschenrechtsorganisationen in Russland unterstützen? Das haben wir doch schon gemacht – und es ist immer nur schlimmer geworden. Jetzt hat Russland die Ukraine angegriffen, da unterstützen wir lieber die Ukraine.' Was soll ich darauf antworten? Ich kann nur weiterarbeiten. Wir haben immerhin in einer Woche 25 Strafgefangene davor bewahrt, in den Krieg geschickt zu werden. Und sie haben dadurch eben auch keine 25 Ukrainer erschießen können."

Wer protestiert, kommt ins Gefängnis

Die russische Gesellschaft ist seit Februar unfreier geworden. Neue Gesetze verbieten es, die Wahrheit über den Krieg zu sagen. Wer protestiert, kommt ins Gefängnis. Kremlkritiker verlieren ihre Arbeitsstelle. Strafgefangene werden dazu genötigt, sich an die vorderste Front zu begeben. Zudem hat der Staat die Daumenschrauben in manchen Bereichen noch weiter angezogen. So bei der Pressefreiheit. Rund 7.000 Internetseiten hat die zuständige Behörde seit Kriegsbeginn blockieren lassen, auch die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter. Inzwischen gibt es in Russland gar keine unabhängigen landesweiten Medien mehr.
Der Fernsehsender "Doschd" ist nach Lettland ausgewichen. Radio "Echo Moskwy" gibt es nicht mehr. Und der Zeitung "Nowaja Gasjeta" wurde die Lizenz entzogen. Auch das eine Folge des Kriegs, so der Politologe Grigorij Golosow aus Sankt Petersburg. "Radio 'Echo Moskwy' und die Zeitung 'Nowaja Gasjeta' haben im vergangenen Jahr noch keine allzu heftige Kritik an der Regierung geübt. Aber den Krieg nun mussten sie klar verurteilen, alles andere hätten ihre Hörer und Leser nicht verstanden. Und darauf hat die Staatsmacht dann mit Repressionen geantwortet.“

Die Staatsmacht verfolgt auch oppositionelle Politiker immer konsequenter. Allen voran Alexej Nawalnyj. Der Gegenspieler von Präsident Wladimir Putin kehrte Anfang des vergangenen Jahres nach Russland zurück. Zuvor hatte er sich in Deutschland von einer Vergiftung erholt. Sofort nach seiner Rückkehr kam er in Haft, ursprünglich für dreieinhalb Jahre. Kurz nach Kriegsbeginn fiel ein weiteres Urteil: Diesmal erhielt er neun Jahre Lagerhaft. Angeblich habe er Gelder seiner inzwischen aufgelösten Stiftung veruntreut.

Gründer der Oppositionspartei "Jabloko": "Wir sind kein Rechtsstaat"

Wie wenig die Opposition noch ausrichten kann, zeigen nicht zuletzt die Regionalwahlen, die gerade zu Ende gingen. Noch vor fünf Jahren schaffte es eine ganze Reihe von Politikern, die Präsident Putin ablehnen, in die Stadtteil-Parlamente von Moskau und Sankt Petersburg. Diesmal gelang das nur noch vereinzelt. Rund 80 Kandidaten der Oppositionspartei "Jabloko" wurden erst gar nicht zugelassen.

Grigorij Jawlinskij, Gründer von "Jabloko", kommentierte deshalb schon im Vorfeld: "Bei uns gibt es keine Gesetze. Wir sind kein Rechtsstaat. Alle Entscheidungen bei uns sind Politik, im Kleinen und im Großen. Wer etwas tun kann, weil er die Macht hat, der tut es. Warum wir als Partei noch nicht verboten sind? Das kann morgen passieren oder auch schon heute. In jeder beliebigen Minute."

Ein Ereignis wie im März, als sich in einem Moskauer Stadtteilparlament der Abgeordnete Alexej Gorinow gegen den Krieg aussprach, dürfte also bald nicht mehr vorkommen. Der Kreml habe alle Regungen von Protest erfolgreich unterdrückt, so die Einschätzung der meisten Beobachter. Das könne sich nur dann ändern, wenn mehr Menschen den Krieg zu spüren bekämen, etwa durch eine Generalmobilmachung, meint der Politologe Grigorij Golosow: "Das würde in großen Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung stoßen. Deshalb gehe ich auch nicht davon aus, dass das in der nächsten Zukunft geschieht. Eine Generalmobilmachung wäre für die russische Regierung wirklich gefährlich."

Wohl auch deshalb ließ Präsident Putin vor wenigen Tagen das Moskauer Stadtfest feiern, als ob es keinen Krieg gäbe. Er weihte das größte Riesenrad Europas ein. Das Signal an die Bevölkerung: Entspannt Euch, wir haben alles unter Kontrolle.