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Menschheitsgeschichte
Der Siegeszug des Milchkonsums

Nur ein Drittel der Menschheit verträgt Milch. Dass das dafür nötige Enzym Laktase auch nach der Stillzeit noch produziert wird, verdanken wir einer zufälligen Mutation im Erbgut. In Mitteleuropa habe sie sich in nur wenigen tausend Jahren durchgesetzt, sagte der Pläogenetiker Joachim Burger im Dlf.

Paläogenetiker Joachim Burger im Gespräch mit Uli Blumenthal |
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Obwohl die Landwirtschaft der bronzezeitlichen Bevölkerung längst Alternativen bot, brachte das Enzym Laktase, das den Milchzucker spaltet, offensichtlich enorme Überlebensvorteile. (suze | photocase.de)
Ulrich Blumenthal: Ursprünglich konnten Menschen nach der Stillzeit keine Milch mehr verdauen. Dafür fehlte Ihnen das Enzym Laktase, das den Milchzucker spaltet. Aufgrund einer Genmutation verträgt inzwischen aber etwa ein Drittel der Menschheit auch im Erwachsenenalter Milch. Ein Team von Paläogenetikern kommt nach der Analyse von bronzezeitlichen Knochen zu dem Schluss: Die Milchverträglichkeit hat sich in Mitteleuropa in nur wenigen tausend Jahren durchgesetzt.
Federführend bei der Studie war Prof. Dr. Joachim Burger vom Institut für Organismische und Molekulare Evolutionsbiologie der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Für Ihre Studie haben Sie Erbgut aus Knochen von Menschen untersucht, die um das Jahr 1200 vor Christus herum in der Schlacht von Tollense gefallen sind – warum gerade diese Überreste?
Knochen vom Schlachtfeld Tollense
Joachim Burger: Das Datum ist einfach wichtig für uns, weil wir zuvor schon neolithische Knochen untersucht hatten, die 3000 bis 6000 Jahre älter sind, und haben da festgestellt, es gibt keine Laktasepersistenz bei diesen Individuen. Und die Theorie war, das Ganze kommt aber dann mit der Landwirtschaft und steigt in der Frequenz an. In der Bronzezeit sehen wir das dann. Und wir wollten sehen, wie weit denn die Evolution damit ist, und wir haben eigentlich erwartet, dass dann der größte Teil der Arbeit gemacht ist. Dann haben wir aber in diesem bronzezeitlichen Kollektiv festgestellt, dass da immer noch nicht viel los ist, was die Laktasepersistenz betrifft.
Blumenthal: Woran zeigt sich denn genetisch, ob man laktosetolerant oder laktoseintolerant ist?
Burger: Das ist eine ganz simple Mutation, die hat man oder die hat man nicht. Das funktioniert häufig so, dass nicht die eigentlichen Gene mutiert sind, die dann das Enzym kodieren, sondern das ist wie ein Schalter, der vor den Genen liegt, der diese Gene eben an beziehungsweise abschaltet. Das kann man sich wie ein Relais vorstellen. Der normale Zustand beim Menschen ist, dass es nach dem Abstillen keine Milch mehr gibt, weil die Muttermilch eben nicht mehr vorhanden ist. Und dann wird dieses Gen aus Sparsamkeitsgründen, kann man sagen, herunterreguliert. So ist das normal, so ist das bei den meisten Menschen weltweit – außer bei vielen Mittel- und Nordeuropäern heute und übrigens auch bei vielen Nordafrikanern.
Jeder Dritte weltweit ist heute laktosetolerant
Blumenthal: Und in welchem Zeitraum hat sich Ihren Untersuchungen und Studien zufolge nun diese Milchverträglichkeit durchgesetzt?
Burger: Also, vom Biologieunterricht kommend, würde man sagen, so etwas dauert ja zehntausende oder sogar hunderttausende Jahre. Wir haben eben nun festgestellt, dass sich das im Wesentlichen in Jahrtausenden, vielleicht sogar zwei bis drei Jahrtausenden in Europa verbreitet. Das stellt uns eigentlich doch vor gewisse Rätsel, weil das bedeuten würde, dass so ein starker Selektionsdruck auf dieses Gen gewirkt hat, ein starker Selektionsdruck, wie es ihn ansonsten im menschlichen Genom nicht mehr gibt.
Blumenthal: Was können die Gründe gewesen sein, dass quasi innerhalb von wenigen tausend Jahren sich sozusagen diese genetische Veränderung durchgesetzt hat?
Ein Siegeszug in wenigen tausend Jahren
Burger: Ja, das leider steht dann nicht mehr in unseren Daten. Wir können feststellen, dass es passiert ist, das heißt, dass in jeder Generation auf 100 Nichtmerkmalsträger 106 Kinder das Erwachsenenalter erreicht haben, die Merkmalsträger waren. Das ist schon enorm. Woran das dann lag, können wir eben nur spekulieren. Am Anfang dachten wir, gut, die Leute kommen neu nach Europa, die kommen irgendwo aus der Ägäis, bringen die Landwirtschaft mit, da sind kleine ernährungsphysiologische Vorteile wie der, den die Milch erzeugt, von großem Vorteil. Gerade in Zeiten des Mangels gibt es dann mal Hungersnöte. Und die, die Milch haben, dort sterben eben die Kinder nach dem Abstillen weniger. Nun ist es aber inzwischen so: In der Bronzezeit zählen diese Argumente nicht mehr so, denn wir haben eine gut etablierte Landwirtschaft in Europa, wir haben eigentlich eine relativ große Bevölkerung. Für alles, was die Milch bietet, scheint es auch andere ernährungsphysiologische Quellen zu geben, vor allem eben das Getreide, aber auch die Viehwirtschaft. Also ist es erstaunlich, dass die Milch offensichtlich noch diesen Vorteil bietet. Und jetzt müssen wir überlegen, was ist der Unterschied der Milch zu anderen Vitamin-D- oder Kohlenhydratquellen? Und da komme ich persönlich zu dem Schluss, dass es eine Flüssigkeit ist, also eine unkontaminierte Flüssigkeit, die vielleicht in Zeiten, wo Wasser kontaminiert ist, zur Verfügung steht und zusätzlich eben auch noch Energie liefert.
Der beschädigte Schädel eines Mannes wurde auf dem Schlachtfeld im Tollensetal gesichert und ist  in der neuen Ausstellung "Blutiges Gold - Macht und Gewalt in der Bronzezeit" im Museumsgebäude des Archäologischen Freilichtmuseums Groß Raden (Mecklenburg-Vorpommern) in der Nähe von Sternberg zu sehen.
Auf einem Schlachtfeld im Tollensetal wurden zahlreiche Knochen, Schädel und Artefakte aus der Bronzezeit gefunden. (dpa / Jens Büttner)
Blumenthal: Also das war quasi der Überlebensvorteil, dass ich Milch dann trinken konnte als Ersatz für verseuchtes Wasser oder für fehlende andere Flüssigkeiten?
Burger: Ja, wenn wir in Europa traditionelle landwirtschaftliche Gesellschaften anschauen, die vermeiden in der Regel das Wassertrinken, das geht noch bis ins 20. Jahrhundert hinein, wo im Süden und im mittleren Deutschland kleine Kinder sehr früh anfangen, Apfelwein zu trinken. Wasser, diese Selterskultur, die wir haben, die gab es früher nicht. Wasser wurde gemieden, wohl aus eben diesen Gründen der Kontaminationsgefahr. Und diese kleinen Kinder haben eben den Apfelwein nicht getrunken, weil der so schön beschwipst macht, sondern weil der eben eine unkontaminierte, flüssige Nahrungsquelle darstellt – und dasselbe gilt meines Erachtens für Milch.
Der Vorteil: Milch ist flüssig
Blumenthal: Diese Schlacht an der Tollense, die war 1200 vor Christus, aber 4000 Jahre zuvor hat sich quasi die Landwirtschaft in Europa etabliert. Warum hat es dann diese 4000 Jahre gedauert, bis auf einmal dann diese Genmutation stattfand. Da ist ja 4000 Jahre lang kein Grund gewesen, Milch trinken zu müssen und zu können.
Burger: Wir haben errechnet, dass dieser Selektionsdruck vorher schon auch da war, wir können ihn nicht so gut schätzen, deswegen ist es jetzt auch wichtig, dass wir aus der Bronzezeit mal Daten haben. Aber der Selektionsdruck war vorher schon da, aber es braucht eben eine gewisse Zeit, bis Sie überhaupt zu sichtbaren Frequenzen kommen. So ist das im Grunde mit allen Neumutationen, die passieren. Die meisten Mutationen haben gar keine Chance, sich nach oben zu schaukeln, sondern verschwinden wieder – nicht aber eben mit unserer, weil eben dieser positive Selektionsdruck drauf war.
Blumenthal: Sie haben in einer Studie 2009 gesagt, wir gehen jetzt davon aus, dass die Milchverträglichkeit vor etwa 7500 Jahren im Gebiet des heutigen Ungarn, Österreich oder der Slowakei aufgekommen ist. Ist das jetzt eine Korrektur, die Sie vornehmen müssen durch die neuen Daten, die Sie vom Tollense haben?
Keine neuen Befunde zum Ursprung der Mutation
Burger: Nein, der tatsächliche Ursprung, wir haben weiter danach gesucht und können das weder revidieren, noch bestätigen. Es gab inzwischen von Kollegen die Idee, dass diese Milchverträglichkeit mit einer großen Migration aus Osteuropa zu uns gekommen ist. Und wir haben eben nicht nur diese Tollense-Kriege untersucht, sondern auch noch mal zahlreiche Individuen aus Osteuropa, der Ukraine, Rumänien, Bulgarien, aber auch Südosteuropa, in Serbien, und haben überall niedrige Frequenzen des Merkmals gefunden bis hin zu null ganz im Osten. Also, wir können nicht wirklich bestätigen, was wir damals gesagt haben, aber wir haben auch keine bessere Lösung anzubieten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.