Wenn ein Mensch geboren wird, schläft er ohne Regeln, ohne auf die Tageszeit zu achten. Und schon gar nicht acht Stunden am Stück. Aber schon bald wird er angepasst und passt sich an – an die Gesellschaft, in der er lebt.
"Diese Idee, dass wir acht Stunden am Tag schlafen, und zwar möglichst von 22 Uhr bis sechs Uhr, das ist das, was im 19. Jahrhundert in der bürgerlichen Gesellschaft verbreitet wird. Das ist tatsächlich was, was kulturell gewachsen ist und historisch gewachsen ist."
Sagt die Historikerin Hannah Ahlheim, Professorin für Geschichte an der Universität Gießen. In ihrem gerade erschienenen Buch "Der Traum vom Schlaf" hat sie beleuchtet, wie die Geschichte des Schlafs mit der Geschichte von Wissenschaft, Technik, Arbeit, Alltag und Krieg verknüpft ist. Körpergeschichte ist ein Spiegel der Zeitgeschichte.
"Es steckt 'ne Bandbreite drin. Man könnte, wenn man an Körpergeschichte denkt, zuerst an Geschichte von Gesundheit und auch Krankheit denken. Aber Körpergeschichte ist mehr."
Auch Schönheit ist ein Teil der Körpergeschichte, sagt die Historikerin Doktor Yvonne Robel, die die Vortragsreihe über Körpergeschichte an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg mit konzipiert hat.
"Schön, sicherlich auch ein Begriff, der an aktuelle Debatten sehr anschließt, also eher auf diese Wellness, Fitnessbereich hinweist, auf die Sorge um den eigenen Körper, das Kümmern um den eigenen Körper, das, was wir eigentlich alle so aus unserem Alltag kennen."
Und nicht zuletzt, konstatiert Yvonne Robel, soll der Körper ja auch produktiv sein – früher genauso wie heute. Wir sollen und wollen uns ständig selbst optimieren.
"Körpergeschichte ist politische Geschichte, ist Geschichte von Arbeit, ist Geschichte von Ökonomie. Das sind drei Begriffe, die in sehr unterschiedliche Richtungen weisen."
Seit Beginn der Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts sollte der menschliche Körper genauso funktionieren wie die Maschinen, an denen er tätig war. Wissenschaftler, so Hannah Ahlheim, forschten an Möglichkeiten die körperlichen Bedürfnisse in das Konzept der neuen Zeit einzubinden.
"Eine ganz entscheidende Veränderung ist die, dass das Nachtleben auf ne andere Art und Weise möglich wird. Seit dem 19. Jahrhundert beispielsweise elektrische Beleuchtung. Das ist natürlich ne ganz grundlegende Veränderung, die es jetzt möglich macht, nachts auch zu arbeiten. Nachtarbeit ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts."
Der Körper als Maschine
Elektrische Beleuchtung erlaubt den Menschen einerseits, über ihren Tag-Nacht-Rhythmus selbst zu bestimmen. Andrerseits öffnet ewiges Licht auch Möglichkeiten für Ausbeutung und Zwang.
"Wenn wir 24 Stunden lang arbeiten können, dann müssen wir am Ende auch 24 Stunden arbeiten. Das ist ganz klar. Und ich würde auch immer sagen, das, was unsere Schlafenszeit am deutlichsten bestimmt, das kennen wir alle aus dem Alltag, ist unsere Arbeitszeit. Unsere Arbeitszeit gibt uns die Möglichkeit zu schlafen, wann wir wollen oder eben auch nicht."
Wann jemand schlafen kann und wann nicht, hängt auch von der sozialen Position eines Menschen in der Gesellschaft ab. Davon wie fremdbestimmt seine Arbeit ist. Der Schichtarbeiter, so Hannah Ahlheim ist reglementierter als der Fabrikbesitzer.
"Die Art und Weise wie eine Gesellschaft den Individuen erlaubt zu schlafen, geht also ganz tief rein in ihre Existenzweise. Wie man mit seinem eigenen Körper aber eben auch mit seiner Psyche, mit seinen Träumen umgehen kann, umgehen darf, umgehen soll. Welche Regeln es dafür gibt."
Seit Beginn der Industrialisierung haben Wissenschaftler versucht herauszufinden, wie sich der Schlaf des Menschen optimieren ließe. Wie man störende Träume abstellen könne und ob Menschen nicht einfach schneller schlafen könnten.
"Also wenn wir nur ordentlich tief schlafen und die ganzen Leichtschlafphasen beiseitelassen, dann können wir vielleicht schneller schlafen und sind schon in vier Stunden durch mit der Schlafarbeit. So nennen die das auch."
Ein Kalkül, das nicht aufging
Weniger Schlaf, so die Rechnung der Experten, würde dann mehr Zeit zum Arbeiten ergeben. Ein Kalkül, das leider nicht aufging.
"Im Zweiten Weltkrieg merken vor allem Militärs, dass müde Soldaten und müde Arbeiter in den Fabriken ein Risiko sind. Die sind nicht mehr fähig, ihren Job gut zu machen, ihre Handgriffe, die sitzen nicht mehr. Die Soldaten an der Front brechen tatsächlich zusammen. Und es ist der Punkt, an dem Experten tatsächlich anfangen Schlafmangel als Gefährdung wahrzunehmen für das funktionierende Individuum."
Die Geschichte der Kalorie
Genauso wie der Schlaf sollte auch die Nahrungsaufnahme für mehr Produktivität des menschlichen Körpers optimiert werden. Wie viel muss ein Mensch überhaupt essen, um vernünftig arbeiten zu können? Eine Frage, die Politiker, Ernährungswissenschaftler und Fabrikbesitzer am Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte, sagt die Historikerin Doktor Nina Mackert, von der Universität Erfurt. Sie hat die Geschichte der Kalorie erforscht.
"Die Kalorie wurde erfunden als ein Mittel, um über die ökonomische Effizienz der Ernährung von Arbeiterinnen und Arbeitern nachzudenken. Mithilfe der Kalorie, die Essen auf ne Art und Weise quantifizierbar machte wie es vorher nicht war, konnte man denen sagen, iss nicht das teure Fleisch, iss nicht das grüne Gemüse, das ist kalorisch nicht dicht genug, iss die Haferflocken und Bohnen, dann brauchen wir auch nicht die Löhne zu erhöhen, denn dann werdet ihr satt, ohne dass ihr ein höheres Budget für Essen braucht."
Ernährungswissenschaftler experimentierten mit der Wirkung von Nahrungsmitteln auf die körperliche Leistungsfähigkeit. Zum Beispiel untersuchten sie, wie lange kann ein Mensch nach Verzehr eines einzigen Hühnereis oder einer Scheibe Brot Fahrrad fahren?
"Also sie suggerierte, eine ganz eindeutige Bestimmung des Verhältnisses von Ernährung und Leistung möglich zu machen."
Schlankheit als Ausdruck guter Staatsbürgerschaft
Aber nicht nur das Verhältnis von Ernährung und Leistung der arbeitenden Menschen rückte ins wissenschaftliche Interesse, sondern auch der fitte und schlanke Körper. Während der für wenig Lohn schuftende Fabrikarbeiter billige, kalorienreiche Haferflocken essen sollte, sollten die bessergestellten Bürger jetzt auf ihre Figur achten und keine Haferflocken, sondern Rinderfilet zu sich nehmen. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen die ersten Diätratgeber auf den Markt. Und, so Nina Mackert, das Körperfett, Jahrhunderte lang ein Ausweis für Wohlstand und Wohlergehen, geriet in Verruf.
"Schlankheit entwickelte sich zu viel mehr als einem Ausweis von Gesundheit, entwickelte sich zu einem Ausweis von produktiver Selbstführung, von guter Staatsbürgerschaft, von der Fähigkeit sich in der liberalen Ordnung selbst richtig führen zu können."
Sich selbst gesund und fit zu halten, ohne Zwang von außen. Freiwillig handeln, freiwillig Diät halten, sich selber für die Gesundheit verantwortlich fühlen, das waren die Ideen der neuen Zeit, resümiert Nina Mackert. Insofern ist die Geschichte der Kalorie
"Eine Geschichte davon, wie Gesellschaften in der Moderne funktionieren, nämlich über die freiwillige Einbindung von Menschen und nicht über in erster Linie disziplinarische Zugriffe."
"Schlankheit entwickelte sich zu viel mehr als einem Ausweis von Gesundheit, entwickelte sich zu einem Ausweis von produktiver Selbstführung, von guter Staatsbürgerschaft, von der Fähigkeit sich in der liberalen Ordnung selbst richtig führen zu können."
Sich selbst gesund und fit zu halten, ohne Zwang von außen. Freiwillig handeln, freiwillig Diät halten, sich selber für die Gesundheit verantwortlich fühlen, das waren die Ideen der neuen Zeit, resümiert Nina Mackert. Insofern ist die Geschichte der Kalorie
"Eine Geschichte davon, wie Gesellschaften in der Moderne funktionieren, nämlich über die freiwillige Einbindung von Menschen und nicht über in erster Linie disziplinarische Zugriffe."
Impfen als Werkzeug der Optimierung der Gesellschaft
Freiwillig handeln: Ein wichtiger Schritt für den modernen Staat und wichtiger Aspekt in der Kulturgeschichte des Körpers. Die Entdeckung von wirksamen Impfstoffen gehört dazu. Alle Bürger sollten freiwillig an der Volksgesundheit mitwirken, sagt der Historiker Malte Thießen, Professor an der Universität Münster.
"Dass man bei Debatten um das Impfen, zum Beispiel im 19. und 20. Jahrhundert immer sehen kann, da geht es nicht nur um die Gesundheit des Einzelnen, sondern immer auch um Vorstellungen des großen Ganzen. Also um die Volksgesundheit oder eben den Volkskörper oder eben die Volkswirtschaft, die immer wieder als Argument bei Impfdebatten mitschwingt."
Jahrhundertelang mussten Ärzte, Fürsten und Politiker dem Massensterben bei Pest, Cholera und anderen Epidemien hilflos zusehen. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatten Naturwissenschaftler und Regierende zum ersten Mal das Gefühl, direkt in die Natur eingreifen zu können. Der neue Sozialstaat machte Impfprogramme zu seiner Sache, um Krankheiten staatlich zu besiegen. Ein fantastischer Fortschritt.
"Es ist aber auch ein zweiter Aspekt, dass das Impfen auch als eine Art Werkzeug zur Optimierung der Gesellschaft gesehen wird. Indem man Infektionskrankheiten kontrolliert, ausschaltet, ausmerzt, wie es damals heißt, wird die Nation produktiver, gesunder, das Bevölkerungswachstum wächst. Man hat also das Gefühl, man kann durch das Impfen den Nationalstaat optimieren, stärken, gesünder, besser machen."
Krankheit als Stigma
"Dass man bei Debatten um das Impfen, zum Beispiel im 19. und 20. Jahrhundert immer sehen kann, da geht es nicht nur um die Gesundheit des Einzelnen, sondern immer auch um Vorstellungen des großen Ganzen. Also um die Volksgesundheit oder eben den Volkskörper oder eben die Volkswirtschaft, die immer wieder als Argument bei Impfdebatten mitschwingt."
Jahrhundertelang mussten Ärzte, Fürsten und Politiker dem Massensterben bei Pest, Cholera und anderen Epidemien hilflos zusehen. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatten Naturwissenschaftler und Regierende zum ersten Mal das Gefühl, direkt in die Natur eingreifen zu können. Der neue Sozialstaat machte Impfprogramme zu seiner Sache, um Krankheiten staatlich zu besiegen. Ein fantastischer Fortschritt.
"Es ist aber auch ein zweiter Aspekt, dass das Impfen auch als eine Art Werkzeug zur Optimierung der Gesellschaft gesehen wird. Indem man Infektionskrankheiten kontrolliert, ausschaltet, ausmerzt, wie es damals heißt, wird die Nation produktiver, gesunder, das Bevölkerungswachstum wächst. Man hat also das Gefühl, man kann durch das Impfen den Nationalstaat optimieren, stärken, gesünder, besser machen."
Krankheit als Stigma
Die Einführung einer Impfpflicht im Jahr 1874, die alle Deutschen verpflichtete, ihre Kinder im Alter von einem und zwölf Jahren gegen die Pocken impfen zu lassen, machte es möglich, die Bevölkerung systematisch zu erfassen und sich ein Bild vom Gesundheitszustand der gesamten Nation zu machen. Das nützte nicht nur der Gesundheit, sondern auch der staatlichen Kontrolle. Die Menschen wurden registriert. Und sie waren jetzt verantwortlich auch gegenüber ihren Mitmenschen, sagt Malte Thießen. Wer sich nicht impfen lässt und krank wird, kann andere anstecken.
"Tatsächlich kann man beobachten, dass mit dem Impfen, mit dieser Möglichkeit der Selbstoptimierung von Gesundheit eben auch ein neuer Druck einhergeht. Gesundheit war früher oft eine Frage des Schicksals oder höherer Mächte. Und mit den Möglichkeiten, die Gesundheit selbst in der Hand zu haben, selbst gestalten zu können, erhöht sich natürlich auch der Druck, genau das zu tun.
"Tatsächlich kann man beobachten, dass mit dem Impfen, mit dieser Möglichkeit der Selbstoptimierung von Gesundheit eben auch ein neuer Druck einhergeht. Gesundheit war früher oft eine Frage des Schicksals oder höherer Mächte. Und mit den Möglichkeiten, die Gesundheit selbst in der Hand zu haben, selbst gestalten zu können, erhöht sich natürlich auch der Druck, genau das zu tun.
Das heißt, umgekehrt wird Krankheit auch sehr viel schneller als Stigma oder eben als fahrlässiges Verhalten gesehen. In einer Zeit, in der wir scheinbar die Möglichkeit haben, alles selbst zu gestalten, ist das Unverständnis über krankes Verhalten umso größer."