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Menschsein
"Wir sind unsere Haltungen"

Haltung hätte man gern, kämen da nicht dauernd Opportunismus, Pragmatismus und Kapitalismus dazwischen. Haltung gehe von Gesinnung und Contenance über Einstellung und Meinung bis zur Körperhaltung, sagte die Schriftstellerin Husch Josten im Dlf. Haltung sei wichtig, weil sie das Selbstverhältnis und den Weltbezug eines Menschen konkretisiert.

Husch Josten im Gespräch mit Christiane Florin |
    Die Evolution des Menschen
    Eine aufrechte Haltung muss erstritten werden, meint Husch Josten (picture alliance / dpa / De_Agostini/Photoshot)
    Christiane Florin: Haltung zeigen, Haltung bewahren, Haltung annehmen: Wenn Sie uns nicht gerade beim Joggen hören, dann haben Sie sich jetzt vielleicht etwas aufrechter hingesetzt. Schon das Wort Haltung flößt Respekt ein. Haltung hätte man gern, wenn da nur nicht dauernd Opportunismus, Pragmatismus und Kapitalismus dazwischenkämen. Bei mir im Studio ist die Schriftstellerin Husch Josten. Es ist ihr Beruf, Wörter sehr genau abzuhören. Und sie hat sich in den vergangenen Wochen - in den Wahlkampfwochen, genauer gesagt - das Wort "Haltung" vorgenommen. Was so alles beim Wort Haltung mitschwingt - und was das mit Glauben zu tun hat. Das ist das Thema dieser Sendung. Guten Morgen, Frau Josten.
    Husch Josten: Guten Morgen.
    Florin: Vermissen Sie Haltung?
    Josten: In den letzten Wochen begegnet uns die Haltung überall. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber in nahezu jedem Zeitungsartikel, in den politischen Debatten, im Fernsehen, überall hören wir immer wieder von Haltung. Wir werden mit verschiedensten Haltungen konfrontiert und - ja, geradezu energisch dazu aufgefordert, eine Haltung zu haben, Haltung zu zeigen. Aber die interessante Frage ist doch: Was ist denn überhaupt Haltung? Woraus beziehen wir sie?
    Wenn man mal - ganz simpel - im Duden nachschlägt, finden wir unter "Haltung" viele Begrifflichkeiten subsummiert. Es geht von Gesinnung und Contenance über Einstellung und Meinung bis zur Körperhaltung. Die Tierhaltung, die Fehlhaltung und - besonders schön - ein Begriff aus dem Sport, den man allerdings in Zeiten des Wahlkampfs auch anders denken könnte: Die Haltungsnote!
    Florin: Sie haben sich Hilfe geholt. Sie haben sich mit Leuten unterhalten, die hauptberuflich nachdenken und auch hauptberuflich darüber nachdenken, was die Gesellschaft zusammenhält.
    Josten: Das war sehr spannend und insofern auch interessant, als manche, die ich angesprochen habe, dem Thema auch ausgewichen sind und direkt gesagt haben: Puuh, okay, Haltung? Das ist jetzt aber schwierig.
    Die Kölner Journalistin und Schriftstellerin Husch Josten
    Die Kölner Journalistin und Schriftstellerin Husch Josten (Privat / Sandra Then)
    Florin: Und Sie haben aber dann Menschen gefunden, die mit Ihnen darüber sprechen wollten? Oder die sich Gedanken gemacht haben.
    Josten: Glücklicherweise habe ich einige aufgetan.
    Florin: Eine, die nicht ausgewichen ist, auch von Berufswegen schwierigen Fragen nicht ausweichen kann, ist Christiane Woopen, die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates. Wir hören mal hinein, was sie als Definition von Haltung vorschlägt.
    Christiane Woopen: "Eine Haltung zu haben bedeutet für mich, aus einer Grundüberzeugung heraus zu handeln, die die ganze Person umfasst, also ihren Körper, ihren Geist und ihre Gefühle. Eine Haltung besteht nicht aus einer konkreten Regel wie "Du sollst nicht töten", sie ist vielmehr eine Handlungsdisposition, die sich im Laufe des Lebens und Erlebens einer Person, also im individuellen Lebensvollzug, entwickelt. Die Grundüberzeugung lautet dann zum Beispiel, dass Leben etwas äußerst Wertvolles ist. Und das führt dann zur Handlungsdisposition, Leben zu schützen und zu bewahren, ohne vorher darüber jetzt eigens nachzudenken."
    Josten: Christiane Woopen hat hier mit "Grunddisposition" prägnant gesagt, dass Haltung also etwas ist, das in uns ist. Es ist ja so: Wer Denken und Fühlen als Gegensatz auffasst, verleugnet die grundsätzliche Gebrochenheit des Menschen - er ist immer auf alles zugleich bezogen: das Denken, das Fühlen, die Erfahrung. Macht das alles schon unsere Haltung aus - oder ist da vielleicht noch mehr nötig für eine innere Haltung? Dazu habe ich den Philosophen Professor Armin Wildfeuer befragt.
    Armin Wildfeuer: "Mit dem Begriff der Haltung ist das gemeint, was die Ethik seit Platon und Aristoteles Tugend nennt. Tugenden, wie übrigens auch Untugenden und Laster, entstehen demnach durch Gewöhnung. Man könnte Tugenden definieren als eine durch fortgesetzte Übung erworbene Lebenshaltung, eine Disposition oder einen Habitus der emotionalen und kognitiven Kräfte und Fähigkeiten, nämlich das als richtig und gut Erkannte zu verfolgen, sodass es weder aus Zufall, noch aus Zwang, sondern aus Freiheit, gleichwohl mit einer gewissen Notwendigkeit, nämlich aus dem Können und der Ich-Stärke einer sittlich gebildeten Persönlichkeit heraus geschieht. "
    Florin: Von Tugenden spricht der Philosoph Armin Wildfeuer, von Habitus und kognitiven Kräften. Das ist eine sehr abstrakte Ebene. Welche Definition von Haltung haben Ihnen Menschen gegeben, die täglich in Konfliktsituationen stehen, die nicht erst die ganze Philosophiegeschichte befragen können, sondern die schnell entscheiden müssen?
    Josten: Dazu habe ich mit der Geschäftsführerin des Sozialdienstes katholischer Frauen in Köln gesprochen, mit Monika Kleine. Und das ist eine Frau, die immer wieder Haltung an den Tag legen muss. Zu den verschiedensten politischen, sozialpolitischen Fragen, aber auch bei ganz persönlichen Schicksalen.
    Monika Kleine: "Menschen ohne Haltung gibt es für mich nicht. Das Rudimentärste ist, dass der Mensch sich selbst in den Mittelpunkt der Haltungsfrage stellt. Also das individuelle Bedürfnis die Haltung prägt. Die entscheidende Frage ist für mich: Gibt es über das Individuum als Mittel-, Dreh- und Angelpunkt der ethischen Ausrichtung hinaus eine gesellschaftliche Verständigung über allgemein gültige, anerkannte Werte. Von dieser kollektiven Vergewisserung können wir heute nicht mehr ausgehen. Das macht das Miteinander unberechenbarer und erschwert im Letzten auch Demokratie."
    Florin: Haltung hat also nicht nur Folgen für den Einzelnen, sondern sie ist gesellschaftlich relevant, demokratierelevant, sagt Monika Kleine vom Sozialdienst katholischer Frauen. Auch das klingt erst einmal gut. Schaut man sich aber die demokratischen Praxis an, stellt sich die Frage: Lohnt sich Haltung in der Politik überhaupt? Oder ist es besser, vor einer Entscheidung die Demoskopen zu befragen, um so sehen, woher der Wind kommt, in den man dann sein Fähnchen hängen kann? Also lohnt sich Haltung, Husch Josten?
    Josten: Ich würde die Frage gerne umdrehen: Kann man ohne Haltung Politik machen? Und vermutlich werden jetzt viele Zuhörer lächeln, wenn nicht laut lachen, und an den einen oder anderen ganz bestimmten Politiker denken. Aber die Sache ist ja die, wie wir eben in der Erklärung von Herrn Wildfeuer gehört haben: Haltung ist der reflektierende Selbstbezug, die philosophische Exposition der Urteilskraft. Es gibt also nichts ohne Bezug - ohne Haltung. Und das bedeutet: Wenn wir vielleicht meinen, Politiker auszumachen, die ohne Haltung Politik machen, ist eben genau dies deren innere Haltung: Beliebigkeit, Größenwahn, Impuls-Entscheidungen, die auf deren ureigenen Erfahrungen, Meinungen, Wissen, Gefühl beruhen. Das können wir gut oder schlecht finden. Das ist dann unsere Haltung dazu.
    Und andersherum: Es wird jede Menge Menschen geben, die am 24. September gar nicht, oder an die Wahlurnen gehen werden, ohne sich groß Gedanken gemacht zu haben, ohne ihre Haltung gewissenhaft überprüft zu haben. Auch darin drückt sich dann eine Haltung aus: vielleicht die einer gewissen Gleichgültigkeit. Dann reden wir aber nicht von Haltung im Sinne einer Überzeugung.
    Florin: Was ist so verwerflich an dieser Egal-Haltung? Welche gesellschaftlichen Folgen hat sie?
    Josten: Ich denke schon, dass Haltung gesellschaftliche Folgen hat, denn in Haltungen sind die Selbstverhältnisse und Weltbezüge von Menschen kristallisiert und konkretisiert. Man kann sagen: Wir sind unsere Haltungen. Und das hat natürlich Konsequenzen für die Gesellschaft. Ein kleines Beispiel: Ich war kürzlich bei der Einschulung meines Sohnes in die weiterführende Schule, das hat mit einem Gottesdienst begonnen. Ich kam ein kleines bisschen zu spät. Hinten in der Kirche unterhielten sich viele Eltern, als wäre es das Sommerfest auf dem Schulhof. Sie taten das eine Stunde lang ohne Unterbrechung. Und weil ich mich eben in den letzten Wochen so sehr mit der Haltung beschäftigt habe, dachte ich: Welche Haltung zeigt sich darin? Was soll uns das jetzt mitgeben? Sie ist, davon gehe ich aus, völlig unbedacht, sie ist gar nicht böse oder respektlos gemeint. Man muss nicht gläubig sein, man muss damit nichts anfangen können - aber wenn ein Schulchor Lieder für den Gottesdienst probt und dann geht der Auftritt im Wiedersehensplausch der Eltern unter, was ist das für eine Haltung gegenüber den singenden Kindern, gegenüber dem Chorleiter? Und gegenüber den Eltern und Kindern, denen der Gottesdienst vielleicht etwas bedeutet?
    Florin: Zuspätkommen ist auch nicht gerade ein Ausdruck von Respekt. Interessant, dass Sie das Beispiel eines Gottesdienstes gebracht haben. Warum kommen wir eigentlich so schnell zur Religion, wenn wir über Haltung sprechen?
    Josten: Weil wir vor allem in den religiösen Traditionen Haltungen zur Welt finden. Yoga, Achtsamkeit und Meditation etwa waren mal - das hat Daniel Herbststreit in der "Zeit" geschrieben - das Handwerkszeug Religiöser, um eine bestimmte Haltung zum Leben und zu Gott zu kultivieren. Die Liebe zu sich selbst und zu allen Lebewesen, die Verbindung zu Gott. Heute ist das einstige Handwerkszeug Religiöser für viele Menschen Ausdruck ihrer Haltung oder ihres Haltungswillens - nur ohne Gottesbezug.
    Florin: Wie viel Gott darf's denn sein? Ich kann mir vorstellen, dass dies der strittigste Punkt in Ihren Gesprächen war?
    Josten: Ja. Es sind sich zwar alle einig, dass es feste Überzeugung braucht für die Haltung. Aber ob die feste Überzeugung im Glauben an Gott begründet sein muss, darüber gehen die Meinungen sehr weit auseinander.
    Florin: Und was sagen die Experten? Was sagt zum Beispiel Christiane Woopen vom Europäischen Ethikrat über den Zusammenhang von Religion und Haltung?
    Christiane Woopen: "Man braucht vermutlich keinen konkreten Glauben, um eine Haltung zu haben. Aber ich bin davon überzeugt, dass man keine Haltung entwickeln kann, ohne sich zumindest mit der Frage des Glaubens auseinanderzusetzen."
    Florin: Haltung geht nicht ohne ernsthaftes Ringen mit den Fragen der Religion, sagt Christiane Woopen. Also man muss nicht selbst glauben, aber sollte sich mit dem Glauben anderer auseinandergesetzt haben. Aber was ist mit denjenigen, die religiös sind, die von sich sagen: Ich bin gläubig. Vielleicht sogar: Ich bin fromm. Wie frei sind sie für eine Auseinandersetzung, die ja auch Gewissheiten ins Wanken bringen kann?
    Josten: Ich habe mit der Berlinerin Frauke Kurbacher, die an verschiedenen Universitäten lehrt und über "Haltung" promoviert und habilitiert hat. Sie hat gerade auch ein Buch herausgebracht - mit dem Titel "Was ist Haltung" gesprochen. Sie sagt zum Verhältnis von Glauben, Haltung und Freiheit:
    Frauke Kurbacher: "Auch im christlichen Glauben ist der Mensch als freier gedacht. Gott erschafft Menschen, und keine Gläubigen an sich. Wir sind nicht festgelegt, etwas bestimmtes anzunehmen oder zu glauben, wir können es kritisch prüfen und uns zu etwas entscheiden. Und das ist etwas, was aus meiner Sicht Gläubige und Nichtgläubige durchaus eint, weil das Zweifeln konstitutiv zum Glauben gehört."
    Florin: Frauke Kurbacher akzentuiert stark die Freiheit des Christenmenschen. Haltung heißt demnach auch für religiöse Menschen: hinterfragen. Und gerade nicht: Haltung annehmen, im Sinne von Strammstehen, aus Angst vor der Hölle. Es ist ein religiöser Glaube, der zugleich Religionskritik zulässt. Haben Sie auch Gesprächspartner getroffen, die gesagt haben: Ich glaube an Gott, ohne dauernd zu hinterfragen und dieser Glaube sagt mir ganz klar, was richtig und falsch ist.
    Josten: Ja, bezeichnenderweise dort, wo man es klischeehaft nicht erwartet, nämlich in einer Unternehmensberatung.
    Hans-Peter Lauffs: "Haltung bestimmt unser Verhalten, wichtiger ist aber wohl, dass sie in Halt gründen muss, also einen Haltepunkt haben muss, um fest und klar sein zu können. Den besten Halt überhaupt gibt meines Erachtens eine von Liebe geprägte, persönliche Beziehung. Je größer oder mächtiger oder fester der Haltepunkt als wir selbst ist, desto stärker wird er uns Halt bieten können. Aus der Sicht des glaubenden Christen ist Gott die Liebe per se. Eine von Gott losgelöste Ethik oder andere Weltanschauung hingegen kann meines Erachtens zwar auch einen gewissen Halt bieten, läuft ohne den Bezug auf etwas, das größer ist als wir selbst aber immer Gefahr, zu einem nur vorübergehenden, nicht wirklich verbindlichen Halt oder vielleicht sogar zu einem Halt versprechenden, aber letztlich herzlosen Regelwerk zu werden."
    Florin: Hans-Peter Lauffs, ein freier Unternehmensberater aus München war das. Er ist felsenfest überzeugt, von keinem Zweifel angekränkelt. Frau Josten, Sie haben doch vermutlich jemanden gefunden, der da, bei diesem festen Glauben, bei dieser festen Überzeugung aus dem christlichen Glauben heraus, dagegen hält.
    Josten: Ja, das habe ich. Und das Gegenargument macht die Schauspielerin Cordula Stratmann stark.
    Cordula Stratmann: "Natürlich kann man ohne Glauben eine Haltung haben. Denn Haltung ist ja nicht unbedingt eine intellektuelle Leistung, die sich beschreiben lässt in irgendeiner Glaubenszugehörigkeit. Haltung speist sich für mich, außer einer intellektuellen Auseinandersetzung mit einer Überordnung, ebenso aus Erfahrungen, die mir die Grundlage bieten für meine Gegenüberstellung mit der Welt. Glaube kann das Ergebnis einer Haltung sein, ebenso das Ergebnis von Erfahrung. Ich würde fast sagen: Zuerst ist die Haltung da, dann der Glaube. Glaube ist stets was Gelerntes und dem zuvor steht die Erfahrung, die wiederum meine Haltung prägt, wegen der ich mich dieser oder jener Idee von Glauben zuneige."
    Florin: Die Schauspielerin Cordula Stratmann, sie sagt: Für Haltung brauche ich keinen Glauben, jedenfalls keinen Glauben an Gott oder keinen Glauben, den die Kirchen definieren.
    Josten: Aber es gibt noch andere Möglichkeiten zu glauben, ohne Religion und Lehramt.
    Florin: Welche?
    Josten: Es geht im Letzten darum, in sich - in allem, was man im Leben mitbekommen hat - in seinem Wissen, in Gelerntem, in Auseinandersetzung zu seiner Haltung zu finden. Die Frage ist: Worauf beziehen wir uns dabei? Und hier habe ich die interessante Meinung von Rainer Osnowski - einem der Leiter und Gründer der lit.COLOGNE und der phil.cologne:
    Rainer Osnowski: "Die Suche nach dem Sinn des Lebens führt auf verschiedenen Wegen immer wieder auch zur Frage der Haltung. Diese orientiert sich einerseits sicher an der intellektuellen Tradition der Aufklärung, auf der anderen Seite aber immer wieder auch profan in dem Versuch, eine gewisse Liebe zum Leben, zum Dasein zu entwickeln. Grundlage dessen ist der Glaube an das Gute, auch wenn es nach täglicher Nachrichtenlage so scheint, als gehe die Welt eher zugrunde. Es ist also sicher von Vorteil, wenn es außer der Verstandesebene noch eine zweite gibt, die die Haltung unterfüttert. Dabei ist aber dieser Glaube völlig losgelöst von einer Religion zu sehen. Es ist sogar die Frage, ob das Metaphysische den Erkenntnissen von sich und der Welt nicht hemmend im Wege steht. Daher: Es gibt eine Haltung ohne Glauben, allerdings kann ihr Fundament so eher ins Wanken geraten."
    Florin: Der Sinn des Lebens. Der Glaube an das Gute. Da würde ich jetzt sagen: Das ist ja auch ein bisschen sentimental.
    Josten: Nein, das finde ich gar nicht. Wenn wir uns über Werte verständigen, dann wollen wir doch hoffentlich vom Guten ausgehen! Da wollen wir doch hin. Insofern ist es gar nicht sentimental, sondern wünschenswert. Aber natürlich geht es auch sachlicher. Ich habe beispielsweise mit dem Publizisten und Moderator Michel Friedman in Frankfurt gesprochen, der übrigens nicht nur Jura, sondern auch Philosophie studiert hat. Und mit seiner Frau, der Autorin und Radiomoderatorin Bärbel Schäfer.
    Michel Friedmann: "Haltung ist nicht nur eine Frage des Glaubens oder der Emotionen, sondern vor allen Dingen der Erkenntnis, der Vernunft, der Wissenschaft, der Aufklärung. Mit diesen Instrumenten kann man nicht nur eine Haltung entwickeln, sondern man kann sie vor allen Dingen begründen. Und Argumente sind immer stärker als diffuse Emotionen alleine."
    Bärbel Schäfer: "Die Voraussetzung für eine Haltung ist für mich Wissen und Nachdenken und das Prüfen und es in Zusammenhänge Setzen. Im Zweifel immer für das Argument und nicht für das Bauchgefühl."
    Florin: Ein harmonisches Paar! Beide total vernünftig. Vernunft und Glauben - das klingt bei den beiden so, als schlösse die Vernunft den Glauben aus. Ein uraltes Thema der Philosophie und viele Denker sind auch zu einem anderen Schluss gekommen, nämlich dem, dass es vernünftig sein kann an etwas zu glauben, das sich nicht argumentativ begründen und wissenschaftlich prüfen lässt, das aber trotzdem einer solchen Prüfung standhält.
    Josten: Ja, wie Sie sagen, der Frage zwischen Glauben und Vernunft liegen Jahrtausende des Denkens zugrunde - philosophische Gedanken und Traktate aus allen Zeiten. Sie knüpfen an die Überlegungen zahlloser Naturwissenschaftler und Philosophen zu allen Zeiten: Woher kommen wir? Worauf beziehen wir uns? Können wir beweisen, dass es Gott gibt? Können wir beweisen, dass es ihn nicht gibt? Schließen Glauben und Wissen einander aus oder brauchen sie einander? Die Sache ist die: Jeder muss überlegen, worauf er sich selbst bezieht, um Haltung zu gewinnen - und das hat sehr schön die Philosophin Frauke Kurbacher zusammengefasst:
    Frauke Kurbacher: "In der aufklärerischen Tradition Kants könnten wir bezüglich der Frage der Orientierung davon ausgehen, dass wir allesamt als die fehlerhaften, begrenzten und fragilen Menschen die wir sind, gleichwohl mit Fähigkeiten, kognitiven, emotionalen, sensitiven und willentlichen ausgestattet sind, die uns im Leben und im Denken orientieren können. Und dann ist es aber selbst für diesen aufgeklärten Denker doch auch eine Überlegung, dass wir vernünftigerweise einen Gott annehmen können, obwohl ich den immer nur glauben und an sich nicht wissen kann."
    Florin: Die hat Haltung. Der hat Haltung. Ist das für Sie ein Kompliment?
    Josten: Ja, durchaus. Als Antonym würde mir spontan "rückgratlos" einfallen. Ich finde es bemerkenswert, wenn jemand eine klare Haltung gefunden hat und diese auch begründen kann - da bin ich ganz bei Michel Friedman, den wir zuvor gehört haben: Argumentative Begründungen sind wichtig. Das heißt nicht, dass man seine Haltung nicht auch mal ändern kann, wenn man im Laufe der Zeit klüger geworden ist. Aber grundsätzlich ist Haltung etwas, das einem Menschen - ja... Charakter verleiht und ihn bestenfalls berechenbar und umgänglich macht, wenn man sich, hoffentlich, mit ihm darüber auseinandersetzen kann. Waberndes, nicht Festgelegtes, Gleichgültigkeit machen es uns schwer.
    Florin: Aber die Umstände machen es uns doch auch schwer - wenn überall Flexibilität gefordert wird, Mobilität sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht? Woher soll Haltung kommen?
    Josten: Aus einem Innehalten? Die reflektierte Haltung zu bestimmten Themen - und wir reden jetzt nicht bloß von "Meinung", sondern eben diesem Mehr: Der Haltung - muss irgendwann mühsam erstritten werden. Man kann, zumindest in den wesentlichen Fragen, nicht hingehen und annehmen, dass man in kürzester Zeit zack-zack eine Haltung gefunden hat. Man muss von allen Seiten auf die Sache schauen, in sich hineinhören: Gefühle, Wissen, Erfahrung, Wünsche... alles mit ansehen. Das widerspricht nicht der Tatsache, dass wir unsere Haltung sind. Also sowieso sind und sie immer ausdrücken - etwa wenn wir in einen Raum hineinkommen und andere begrüßen, dann zeigt wie wir das machen, schon unsere Haltung zu den Menschen im Raum. Aber manche Dinge müssen wir eben doch auch überdenken, bevor sie zu uns gehören und zu einem Teil von uns werden. Diese Haltung, davon bin ich überzeugt, die müssen wir uns erstreiten.
    Weiterführende Lektüre: Frauke Kurbacher: Was ist Haltung? Überlegungen zu einer Theorie von Haltung im Hinblick auf Interindividualität.