Kritiker, Bewunderer und Laudatoren geraten in Verlegenheit, wenn sie Roberto Calasso als Autor charakterisieren wollen. Ist er schlicht ein Essayist, ein Kulturphilosoph, gar ein Universalgelehrter oder nur ein rhetorisch versierter, konservativer Bildungsbürger und Snob? Einigen kann man sich auf Calassos Verdienste als Verleger des Mailänder Adelphi-Verlages. Schon als Student gehörte er dem Haus an und rettete es vor wenigen Jahren vor der Übernahme durch den Mondadori-Konzern. Seit 1971 verantwortet er als Verlagsleiter das Programm, das zu einem reichen Fundus der klassischen Moderne anwuchs. Begonnen hatte es in den Sechzigern mit der bahnbrechenden kritischen Nietzsche-Edition – laut Calasso eine ästhetisch-politische Provokation:
"Noch herrschte in Italien eine Kultur, in der das Attribut irrational der strengsten Verurteilung gleichkam. Und niemand anderes als Nietzsche war Stammvater alles Irrationalen. Mit diesem unpassenden, gedanklich nutzlosen Wort ließ sich alles mögliche etikettieren, vor allem das Wesentliche. In der Literatur verband sich das Irrationale gern mit dem Dekadenten, ebenfalls ein Begriff, der kategorische Ablehnung erfuhr. (...) Nicht nur Autoren, ganze Genres wurden prinzipiell verdammt."
Touristen und Terroristen
So erinnert sich Calasso in seinem 2013 erschienenen, allerdings nicht übersetzten Buch "Die Spur des Verlegers". Es ist einer von sechzehn Bänden, die er bislang im eigenen Verlag veröffentlichte – in dem übrigens bis auf die Bücher von Calassos Ehefrau Fleur Jaeggi kaum neuere Literatur angeboten wird. Die Schriften des Autor-Verlegers zu Literatur, Kunst und Religion folgen alle demselben Impuls: der Rettung des geheimnisvoll Unbekannten, des Numinosen vor der Entzauberung durch eine aufgeklärte Rationalität. Elegantes Parlieren über aphoristisch zugespitzte Thesen tritt dabei an die Stelle konzentrierter Gedankenarbeit. So verfährt auch der neue Essay. "Das unnennbare Heute" ist ein Hybrid aus drei disparaten Texten, von denen der letzte nur eine Seite umfasst. Mit dem ersten begibt sich Calasso auf politisch-soziologisches Terrain. Unter dem Titel "Touristen und Terroristen" werden die Verluste der säkularen Gesellschaft verhandelt.
"Ohne den Schauer des Numinosen fehlt der säkularen Gesellschaft der Lebenswille, auch wenn das Numinose selbst ein Wort ist, das nur in akademischen Kreisen akzeptiert wird. (...) die Gesellschaft [scheint] zu einem neuen, schmeichlerischen Aberglauben verurteilt: dem Aberglauben an sich selbst. (...) Tiere, Götter (...), Dämonen, Engel, Heilige, Seelen, Geister und am Ende auch Prinzipien und Willenskraft sind Schritt für Schritt ausgeschieden worden. (...) Allesamt vorhanden, aber nur in Büchern. Zugleich aber verzichtete das säkulare Denken immer lieber auf Bücher."
Verlust des Heiligen
Kurz, Calasso beklagt die Austreibung des Religiösen. Er rekurriert damit auf seine eigenen Untersuchungen zur altindischen Mythologie, in deren Zentrum das Opfer steht. In seinem Buch "Die Glut" feierte er es als die "artikulierteste, subtilste, schwindelerregendste Variante" des Opfers. Da, so heißt es nun, "die säkulare Welt sich (...) geweigert hat, das Opfer zu zelebrieren", haben erst der Krieg und dann der Terrorismus dessen Erbe übernommen. Dem sogenannten säkularen Terror – zu dem der Autor auch den islamistischen rechnet – fehlt dagegen jede religiöse oder politische Bedeutung; in ihm regiert der nackte Zufall die Wahl der Opfer. Was aber hat der Tourist, auf den Calasso gegen Ende des Kapitels zu sprechen kommt, in diesen Überlegungen zu suchen?
"Den Religiösen gegenüber sind die Säkularisten, was Touristen gegenüber den Eingeborenen sind. (...) Homo saecularis ist unvermeidlich Tourist. Nicht nur, wenn er reist. Websurfing und Links bilden einen nicht unerheblichen Teil seines Lebens."
Auch hier also der Verlust des Heiligen, das der Tourist nicht wahrnimmt, selbst wenn er darauf stößt. Lieber reist er von Link zu Link auf vorgezeichneten Bahnen im Internet herum. Was den Terroristen mit dem Touristen verbindet, erläutert Calasso folgendermaßen:
"(...) der ideale Tourist würde gerne Orte besichtigen, die nicht vom Tourismus verunstaltet sind, so wie der ideale Terrorist gern an Orten operieren würde, die nicht durch Sicherheitsmaßnahmen geschützt sind. Der eine wie der andere stoßen dabei auf Schwierigkeiten."
Es sind solche platten, abstrusen Analogien, die beim Leser von "Touristen und Terroristen" Kopfschütteln hervorrufen. Calassos eigenes assoziatives Gedankensurfing beruft sich implizit auf seine Vorbilder in der Mythologie und in dem, was er "absolute Literatur" nennt; die Wissenschaft dagegen, heißt es explizit, "braucht keinen Geist". Ein echter Geistesmensch jedoch
"weiß, dass die theologischen Kategorien noch immer lebendig und wirksam sind. (...) Denken ist vergeblich, wenn man nicht zu denken versucht, was das Opfer ist. Undenkbar aber ist inzwischen, dass man ein Blutopfer ausführt, in welcher Form auch immer."
Aristokratie der Auserwählten
Unüberhörbar trauert Calasso dem archaischen Kult des Todes nach. Am Ende zitiert er eine lange Passage aus einem Text von Robert Frost, die er als Absage an den Pazifismus liest. Damit zählt er den amerikanischen Meisterdichter, wie sich selbst, zu einer Aristokratie von Auserwählten, die der säkularen Verflachung widerstehen. Es ist
"die kleine Sekte derer, die auf den Schock des Unbekannten nicht verzichten wollen. (...) Dieses Gefühl gleicht der ersten Phase eines Initiationsritus, der sich im Dunkeln und im Schweigen abspielt. (...) Es waren ohnehin nur wenige, die dieses gleichsam geheime Gefühl pflegten."
Der zweite Teil des Dreiteilers kompiliert und kommentiert Zitate berühmter Zeitgenossen aus der Zeit des Naziregimes. Den Titel "Die Wiener Gasanstalt" entnimmt Calasso einer Bemerkung Walter Benjamins, in Wien sei der jüdischen Bevölkerung das Gas abgestellt worden – es blieben zu viele Rechnungen offen, weil die Juden vorzugsweise mit Gas Selbstmord begingen. Neben solch spektakulären Funden bleiben die knapp hundert Seiten erratisch und ermüdend. Auch hier geistert das Opfer durch die Zeilen. Bis auf die fortlaufende Datierung verweigert Calasso wie immer den roten Faden. Auf den zweiten Blick wird jedoch nicht nur seine Vorliebe für reaktionäre Denker wie Carl Schmitt oder Ernst Jünger sichtbar, von dem der Autor schlicht behauptet, er habe erst 1943 von den Vernichtungslagern erfahren. Es dominiert vor allem Calassos morbid äshetizistische Sicht auf die Geschichte. Für den Schluss hat er aus Wassili Grossmans Kriegstagebuch eine romantische Impression aus dem zerbombten Berlin ausgewählt:
"Der gelbliche, bewölkte Himmel, die laue Luft, der Regen, der Fliederduft, ein alter Teich im Park, die verschwommenen Umrisse der Statuen. Ich sitze in einem Sessel am Kamin. Die zahllosen Schläge der Uhr, eine traurige Melodie, schon für sich allein Poesie."
Und der dritte Teil? "Sichtung der Türme" ist die Seite betitelt und behandelt, auch das nicht zum ersten Mal, einen Traum Baudelaires. Dort gerät der Dichter in einen Turm, der beständig einzustürzen droht. Darin eine prophetische Vorwegnahme des 11. September 2001 zu sehen, wirkt an den Haaren herbeigezogen; genau das jedoch wird von Calasso als finaler Clou präsentiert. Wenn darin das sakrale Geheimwissen besteht, das nur den "Intelligentesten" zugänglich ist, mag man gerne darauf verzichten.
Roberto Calasso: "Das unnennbare Heute".
Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
222 Seiten, 25 Euro.
Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
222 Seiten, 25 Euro.