ARD-Moderatorin Anne Will begann gleich mit einem Kompliment: Sie habe diesen Mittwoch "etwas ganz Bemerkenswertes gemacht", wofür sie "großen Respekt" verdient habe, sagte Will zur Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Sendung am Sonntagabend. Gemeint war Merkels Bitte um Verzeihung für das Corona-Chaos. In den folgenden 60 Minuten wurden Wills Fragen zwar auch mal kritischer - wichtige Gelegenheiten, die Kanzlerin auf klare Aussagen festzunageln, ließ sie aber oft ungenutzt.
RTL-Journalist Blome: "Sie kommt immer nur, wenn es eng wird"
Längst nicht alle Fragen, die man hätte stellen können, seien gestellt worden, kritisiert Nikolaus Blome, Politikchef bei RTL, im @mediasres-Interview. Schon als stellvertretender Chefredakteur beim Spiegel und bei der Bild hatte Blome über die Jahre mehrere Interviews mit Angela Merkel geführt. "Sie kommt immer nur, wenn es eng wird", sagt er, "da würde man sich fast wünschen, dass es öfter eng wird".
Tatsächlich ist Merkel in den fast 15 Jahren ihrer Kanzlerschaft nur sehr selten im Fernsehen in Exklusiv-Interviews aufgetreten. Bei "Anne Will" war sie insgesamt vier Mal: Erstmals am 7. Oktober 2015, als sich die Flüchtlingskrise zuspitzte. In der Bevölkerung, aber auch innerhalb der Regierungskoalition, rumorte es damals bereits gewaltig. Merkels Satz "Wir schaffen das" polarisierte, ihr eigener Innenminister Horst Seehofer (CSU) machte mittlerweile offen Front gegen die liberale Haltung der Kanzlerin angesichts tausender Flüchtlinge, die jeden Tag die Grenzen nach Deutschland passierten.
TV-Auftritt als Mittel gegen Seehofer
Damals hieß es gar, der aggressive Widerstand Seehofers gegen Merkels Flüchtlingspolitik habe die Kanzlerin dazu bewogen, sich bei "Anne Will" dem einstündigen Interview zu stellen. Merkel nutzte den Auftritt, um ihre Haltung nachvollziehbarer zu machen mit Sätzen wie "Ich habe einen Plan, aber es hängt nicht allein von mir ab, ob er funktioniert". Oder: "Ich werde den Deutschen nichts versprechen, was ich nicht halten kann."
Die Strategie ging auf: Beim Publikum kam es offenbar gut an, einmal den Menschen hinter der Politikerin zu sehen und ihre Argumente in einem "weicheren" Umfeld zu hören. Ihrem Kontrahenten Seehofer nahm sie an diesem Abend etwas Wind aus den Segeln – nicht nur durch die von ihr gestellte Gegenfrage: "Was wäre denn, wenn wir sagen, wir schaffen es nicht?".
Im Februar 2016 trat Merkel dann noch einmal bei "Anne Will" auf. Wieder ging es um den Umgang mit den Flüchtlingen – das Thema hielt die Nation in Atem. Merkel sagte, sie lehne eine starre Obergrenze für eine Flüchtlingszahl ab und habe kein Verständnis dafür, "wenn man sich unflätig gegenüber Flüchtlingen ausdrückt oder kriminelle Handlungen begeht". Nach dem G7 Gipfel in Kanada im Juni 2018 war die Bundeskanzlerin ein drittes Mal Talk-Gast bei "Anne Will".
Und nun der vierte Auftritt in der ARD-Sendung. Wieder gab es einen Anlass, wieder tat es offenbar Not, den Menschen Angela Merkel sprechen zu sehen.
Nur ausgewählte Fernsehtermine
Dazwischen hatte sich die Bundeskanzlerin nur äußerst selten live zu Interviews in Fernsehen oder Radio gezeigt: Im Oktober 2015 sprach sie im Radio ausführlicher mit DLF-Chefkorrespondent Stephan Detjen. Im März 2017 bekam der ARD-Korrespondent Markus Preiß ein Interview mit der Bundeskanzlerin, ebenfalls hauptsächlich zu Fragen der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise.
Den direkten Auftritt in den Medien als gängiges Mittel, um ihren Standpunkt darzulegen und sich möglicherweise mit Kritik auseinanderzusetzen, nutzt Merkel seit jeher kaum – oder sie scheut ihn.
Ihre Stimme war, wenn überhaupt, vor allem in Zeitungsinterviews zu lesen - mit Schwerpunkt bei Medien wie der "Zeit" oder der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". In den turbulenten Jahren 2015 bis 2017, als Merkel durch ihre Führung in der Flüchtlingskrise starker Kritik ausgesetzt war, gab sie aber auch mal Printmedien wie "Bild", "Wirtschaftswoche" "Bunte" oder sogar der "Rheinischen Post" Interviews.
Ihre Stimme war, wenn überhaupt, vor allem in Zeitungsinterviews zu lesen - mit Schwerpunkt bei Medien wie der "Zeit" oder der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". In den turbulenten Jahren 2015 bis 2017, als Merkel durch ihre Führung in der Flüchtlingskrise starker Kritik ausgesetzt war, gab sie aber auch mal Printmedien wie "Bild", "Wirtschaftswoche" "Bunte" oder sogar der "Rheinischen Post" Interviews.
Ein Interview für fünf Zeitungen
2020, nachdem sich die Wogen um Merkels Flüchtlingspolitik etwas geglättet hatten, machte sich die Kanzlerin auch schon wieder rar bei den Medien: Im Juni mussten sich fünf große Zeitungen, darunter die Süddeutsche, ein Gespräch mit ihr zum Thema der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mitten in der Pandemie-Krise teilen.
Dabei sei gerade diese intime 1:1-Interview-Situation für die Zuschauer weitaus vielversprechender, als etwa Pressekonferenzen, sagt RTL-Journalist Blome. Auch bei den seit einiger Zeit regelmäßig stattfindenden Parlamentsbefragungen, wo Merkel Rede und Antwort stehen muss, ginge es immer "um 38 Themen gleichzeitig".
"Hohle Drohungen" an die Ministerpräsidenten
Er habe die Bundeskanzlerin als "sehr kontrollierte Person" kennengelernt, die auch aus diesem Grund die Kontakte mit den Medien äußerst sparsam dosiere, sagt Blome. Im Talk mit Anne Will sehe er den Versuch, den Ministerpräsidenten "die Instrumente zu zeigen", mit denen sie notfalls auch ohne die Länder durchregieren könne. "Diese Kontrolle scheint aber gerade zu erodieren", meint der Journalist, Merkels Drohungen am Sonntag hätten in seinen Ohren "hohl" geklungen.
Blome sagt, er hoffe auf einen baldigen weiteren Auftritt Merkels, denn "der Bedarf der Kanzlerin, sich zu erklären, ist mit diesem Interview eher größer geworden".