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Merkel und der Flüchtlingsansturm
"Das ist eine riesengroße Herausforderung"

Angeführt von der CSU, formiert sich Widerstand gegen Angela Merkels "Wir schaffen das"-Mentalität. Dass die Regierungschefin eines Tages folgenschwer über ihre eigene Flüchtlingspolitik stolpern könnte, glaubt der Politologe Everhard Holtmann aber keineswegs. Es sei eine "fast normale Konstellation in solchen Zeiten", dass die Kanzlerin zum Kristallisationspunkt von Ängsten und Sorgen werde.

Everhard Holtmann im Gespräch mit Gerd Breker | 06.10.2015
    Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg.
    Everhard Holtmann: "Man wird über kurz oder lang auch nicht um eine entsprechende Kanalisierung der Zuwanderung kommen, dann aber bitte im europäischen Rahmen." (imago / Steffen Schellhorn)
    Gerd Breker: Die Verzweiflung muss groß sein, nicht nur die der Flüchtlinge, aber auch auf Seiten der Europäischen Union. Es gibt keine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik, auf den Bürgerkrieg in Syrien hat man keinen wirklichen Einfluss und so bleibt eigentlich nur die Option, die syrischen Flüchtlinge in den Nachbarländern Jordanien, Libanon und Türkei zu halten. Dazu müssten die Bedingungen dort allerdings verbessert werden und dazu müsste in den Ländern der politische Wille und die finanzielle Möglichkeit vorhanden sein. Deshalb ist der türkische Autokrat Erdogan so wichtig für die hilflose Europäische Union. "Wir schaffen das" ist leicht gesagt, wenn noch nicht einmal klar ist, mit welcher Dimension das Flüchtlingsproblem auf uns zukommt. Die Zahl von 1,5 Millionen Asylsuchenden ist auf dem Markt, was niemand bestätigen kann, was aber auch niemand ausschließen kann. Gewiss ist nur, dass schon bald auch der Familiennachzug anstehen wird, denn es sind überwiegend Männer, die den Weg nach Deutschland gesucht haben. Eine Obergrenze wünscht sich so manch einer, damit das Problem überschaubar bleibt. Und wo soll diese Obergrenze liegen und wie soll sie begründet werden und vor allen Dingen, wer sagt das denn den Flüchtlingen? Die Flüchtlingspolitik wird zum innenpolitischen Sprengstoff, auch für die großen Parteien, die die Regierung stellen, mit Auswirkungen möglicherweise auf die Parteienlandschaft hierzulande. Am Telefon der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg. Guten Tag, Herr Holtmann.
    Everhard Holtmann: Guten Tag, Herr Breker.
    Breker: Es rumort in diesem Land, es rumort vor allen Dingen in der Union. Von der CSU angeführt, formiert sich Widerstand gegen Angela Merkel und aus der SPD hört man immer wieder Widersprüchliches. Die Flüchtlingspolitik, eine Bauchentscheidung von Angela Merkel ohne Plan - da hat Horst Seehofer doch Recht.
    Holtmann: Ich sehe das nicht so, um es ganz deutlich zu sagen, denn das Wort Bauchentscheidung suggeriert ja, dass hier etwas unkontrolliert oder unbedacht in die Welt gesetzt worden ist und dass man auf der anderen Seite weiterhin planlos vor sich hinwerkelt. Ich denke, die Situation, gerade weil sie so schwierig ist und weil sie für Gesellschaftspolitik und Wirtschaft eine riesengroße Herausforderung darstellt, verdient ein differenzierteres Augenmerk. Es ist doch so, dass Angela Merkel mit dieser Äußerung jener Empathie, jenem Mitgefühl und jener Zuwendung Ausdruck gegeben hat, was übrigens bis heute trotz wachsender Sorgen und Ängste auch eine übergroße Mehrheit der Bevölkerung nachempfinden kann, und man kann sicherlich kritisieren, dass bestimmte operative Schritte in den Versuchen, in dem Bund-Länder-Geflecht die Zuwanderungsströme entsprechend auch zu bewältigen, nicht optimal laufen. Aber man darf doch auch nicht außer Acht lassen, das ist eine riesengroße Herausforderung und die politischen und gesellschaftlichen Folgenabschätzungen sind ja in aller Regel keine Frage der fehlenden politischen oder administrativen Professionalität, sondern sie resultieren daraus, dass der Zustrom als solcher doch in einem hohen Maße nach wie vor nicht genau prognostiziert werden kann.
    Breker: Und weil er nicht genau prognostiziert werden kann, ist die Dimension des Problems nicht klar. Deshalb taucht immer mehr die Forderung nach einer Grenze, einer konkreten Grenze der Belastbarkeit auf.
    Holtmann: Das ist sicherlich nur eine symbolische Überlegung, dass man eine Grenze schaffen will, um sozusagen wieder zu berechenbaren Zuständen zu kommen, sondern ich denke, man wird über kurz oder lang auch nicht um eine entsprechende Kanalisierung der Zuwanderung kommen, dann aber bitte im europäischen Rahmen, so wie es ja auch europaweit von der EU und von den Staatsführungskonferenzen der Ministerpräsidenten bereits beschlossen worden ist, trotz allen Ringens im Detail, manchmal eines unwürdigen Ringens, ob man nun drei oder 5.000 Zuwanderer wirklich der eigenen Gesellschaft zumuten kann - das in einem europäischen Rahmen. Und sicherlich ist auch der Ansatz richtig, in der Ausgangsregion, also in den eben auch als miserabel und erbärmlich beschriebenen Lagern, dort für Verbesserungen zu sorgen. Da muss etwas geschehen, um den Druck aus dem Kessel zu nehmen.
    "Politik und Verwaltung handeln derzeit im Krisenmodus"
    Breker: Herr Holtmann, lassen Sie uns hierzulande bleiben, in Deutschland. Die Umfragen belegen, die Kanzlerin verliert deutlich an Beliebtheit, und Kritiker wie zum Beispiel Horst Seehofer, die legen kräftig zu. Die Flüchtlingspolitik spaltet offenbar nicht nur die Parteien, sondern auch die Bevölkerung, die Gesellschaft.
    Holtmann: Die Menschen nehmen wahr, dass Politik und Verwaltung derzeit in einem fortwährenden Krisenmodus handeln, ohne dass sie immer genau sagen können, wohin der Karren laufen wird. Und das bestärkt und vergrößert, jetzt mal unabhängig auch von einzelnen parteipolitischen Präferenzen und Vorlieben, das vergrößert und bestärkt in der Gesellschaft ein häufig ja auch diffuses Gefühl individueller Sorgen und Ängste, was ernst genommen werden muss, denn die Frage, wie sich über die begrüßenswerte erste Stunde der Willkommenskultur hinaus bestimmte Begegnungen und auch problematische Konstellationen verstetigen und dann ein entsprechendes Bewältigungshandeln erfordern, die ist ja noch erst in Ansätzen gelöst. Also das ist die Situation, vor deren Hintergrund auch Politik und Verwaltung entsprechend handeln müssen. Und dass die Kanzlerin in einer solchen Situation gewissermaßen der Kristallisationspunkt solcher Ängste und Sorgen ist und dass sie auch entsprechend Probleme hat, wachsende Probleme hat, die sogenannte Performance, die Leistungsfähigkeit dieser von ihr geführten Regierung nach außen hin zu vermitteln, das halte ich für eine fast normale Konstellation in solchen Zeiten.
    Breker: Nur, Herr Holtmann, Fakt ist ja das: AfD und Pegida - wir haben es gestern wieder erlebt - erhalten Zulauf. Der Osten will offenbar der Kanzlerin aus dem Osten nicht folgen.
    Holtmann: Da gibt es sicherlich regionale Unterschiede, auch was den Zulauf zu Pegida betrifft, auch was die ja bisher jedenfalls nicht dramatisch wachsenden Zuläufe zur AfD betrifft. Das ist gar keine Frage. Aber das hat aus meiner Sicht auch etwas zu tun mit einem aufgrund der Transformationskrise langfristig noch nicht in allem bewältigten Folgen. Das heißt, es tauchen vermehrt dort Ängste auf, wo man bestimmte Krisenerfahrungen, arbeitsplatzbezogen, familienbezogen, noch von einigen Jahrzehnten zuvor hat und die dann gewissermaßen wieder geweckt werden. So gesehen überrascht mich das nicht unbedingt. Und man darf auch nicht vergessen: Die Parteienlandschaft im Osten, das Parteiensystem, ist allein schon von der Mitgliederstärke her nur sehr bedingt in der Lage, entsprechenden Agitationen, auch entsprechenden demagogischen und volksverhetzenden Parolen etwas entsprechend entgegenzusetzen.
    Breker: Bliebe die Frage, was unterscheidet eigentlich AfD noch von Pegida und droht nicht eine Intensivierung der Veränderung unserer Parteienlandschaft?
    Holtmann: Die Trennlinie zwischen AfD und Pegida ist für nüchterne Beobachter nicht immer ganz scharf zu sehen, zumal ja auch aus den Kreisen der einen oder anderen Exponenten von der AfD mit dem Gedanken geliebäugelt wird, diese Pegida-Bewegung sozusagen im Nachhinein zur sozialen Bewegung der eigenen Partei zu erklären. Da wird man abwarten müssen, inwieweit sich da die Grenzen wieder verdeutlichen oder auch weiter verschleißen. Wir müssen sicherlich oder wir können nicht ausschließen, dass der jetzt in den Umfragezahlen vermehrte Zuspruch für kleinere Parteien, ja keineswegs nur für die AfD, sich vor dem Hintergrund der wachsenden Besorgnis in der Bevölkerung noch vergrößern wird, aber ich sehe derzeit die Bundesrepublik Deutschland und das bundesdeutsche Parteiensystem noch längst nicht in einer Situation, wie sie ja in vielen unserer angrenzenden, auch demokratisch regierten Nachbarländer bereits eingetreten ist, dass wir nämlich eine rechtsextreme oder rechtspopulistische Bewegung und Parteien in diesem Spektrum von ganz anderer Größenordnung hätten.
    Breker: Die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg. Herr Holtmann, danke für dieses Gespräch.
    Holtmann: Bitte sehr.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.