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Merkels Flüchtlingspolitik
"Das Ding passt hinten und vorne nicht"

Hans-Olaf Henkel hat die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert. Im Deutschlandfunk sagte der Europaabgeordnete der Partei ALFA und frühere AfD-Funktionär, bei einer konsequenten Politik müsste Merkel die Flüchtlinge aus Idomeni abholen lassen, genau wie sie das im Fall von Budapest getan habe. Henkel nannte Merkels Politik scheinheilig.

Hans-Olaf Henkel im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Hans-Olaf Henkel im Oktober 2014
    Hans-Olaf Henkel (picture-alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
    Martin Zagatta: Tausende Flüchtlinge stecken an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien fest. In dem Lager bei Idomeni spielen sich fürchterliche Szenen ab. Und die Balkan-Route ist jetzt fast unpassierbar für Flüchtlinge. In der Nacht hat auch Slowenien seine Grenze dichtgemacht - ein Vorgehen, dem nun noch weitere Länder folgen. Während die Balkan-Route nun so gut wie dichtgemacht wird, hält in Deutschland die Diskussion darüber an, ob die Maßnahmen, auf die sich die EU mit der Türkei einigen will, die Flüchtlingskrise lösen können, ob damit das Asylrecht ausgehebelt wird und wie weit die Zusammenarbeit mit der Türkei gehen kann.
    Mitgehört hat Hans-Olaf Henkel, der frühere BDI-Präsident, der für die AfD ins Europaparlament eingezogen ist und der Partei inzwischen den Rücken gekehrt hat. Er gehört jetzt der Partei ALFA an und er ist Mitglied im Menschenrechtsausschuss des Europaparlaments. Guten Tag, Herr Henkel.
    Hans-Olaf Henkel: Guten Tag.
    Zagatta: Herr Henkel, ganz grundsätzlich: Was halten Sie denn von dem Deal, den die EU jetzt mit der Türkei anstrebt, de facto die Balkan-Route dichtzumachen, alle Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, in die Türkei abzuschieben und im Gegenzug dann Syrer von der Türkei aus direkt in EU-Staaten zu schicken? Was sagen Sie zu diesem Vorgehen ganz grundsätzlich?
    Henkel: Na ja, gut. Wir sind in diese Situation hineingekommen und da hat uns die merkelsche Flüchtlingspolitik hineingebracht. Das muss man klar und deutlich sagen. Und jetzt wird versucht, das Beste daraus zu machen. Ich muss Ihnen sagen: In dieser Situation ist das sicherlich ein Weg, aber er ist höchst unbefriedigend. Ich halte ihn teilweise für inkonsistent, teilweise für verantwortungslos und, ehrlich gesagt, auch ein bisschen für scheinheilig.
    Kommunen sollen Obergrenzen bestimmen
    Zagatta: Aber es ist das kleinste Übel?
    Henkel: Ja, so muss man es sehen. Mir fällt dazu im Augenblick auch nichts Besseres ein. Unsere Partei, die Allianz für Fortschritt und Aufschwung, hat sich natürlich etwas anderes gedacht. Wir haben eine Flüchtlingskonzeption entwickelt, die ist irgendwo zwischen der Willkommenskultur von Frau Merkel und den Schießbefehlen von der AfD. Wir sind der Meinung, dass die deutschen Kommunen letzten Endes entscheiden sollen, wie viele Flüchtlinge sie in der Lage und gewillt sind aufzunehmen, und dass die Summe dieser Entscheidung dann eine deutsche Obergrenze darstellt, eine Art der Obergrenze, denn in dem Maße, wie wir in der Lage sind, Flüchtlinge zurückzuschicken, kann man auch wieder neue aufnehmen.
    Zagatta: Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl kritisieren, mit dem, was da jetzt vorgesehen ist mit der Türkei, damit werde das individuelle Asylrecht aufgehoben. Das sei ein klarer Verstoß gegen die europäische Menschenrechtskonvention. Die UNO vermutet sogar, das ist ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Kann man da noch sagen, das ist dann das kleinere Übel, oder müsste man sagen, unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten geht das gar nicht?
    Henkel: Ich habe bei der Abstimmung natürlich auch dafür gestimmt, dass Länder wie zum Beispiel Albanien oder Bosnien oder Herzegowina, Kosovo, Mazedonien und so weiter zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden. Bei der Türkei teile ich wirklich auch die Bedenken der Menschenrechtler. Wir dürfen nicht vergessen: Die Menschenrechtssituation, die Situation der Presse hat sich in der Türkei in den letzten Jahren unter Erdogan dramatisch verschlechtert. Und ganz plötzlich sitzt Frau Merkel neben Herrn Erdogan, sogar während seines Wahlkampfes auf diesem goldenen Sessel, und unterstützt ihn indirekt in seinem Wahlkampf. Sie setzt sich dafür ein, dass zum Beispiel jetzt die EU-Mitgliedschaft beschleunigt stattfinden soll. Sie ist plötzlich für Visaerleichterungen für die Türken. Man kann an diesem Beispiel sehen, dass die Flüchtlingspolitik von Frau Merkel nicht nur sich gegen die Flüchtlinge selbst richtet, denn viele haben ihr Leben verloren, weil sie dieser Einladung gefolgt sind und irgendwo ertrunken sind, sondern sie richtet sich auch gegen unsere eigenen Interessen und letzten Endes auch gegen die Menschenrechte.
    Zagatta: Sie kennen das ja noch aus Ihrer Rolle als ehemaliger BDI-Präsident, immer wenn es beispielsweise um Besuche in China ging. Jetzt sagt der deutsche Innenminister de Maizière, wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein. Hat er denn da so Unrecht in der Praxis?
    Merkels Flüchtlingspolitik kontraproduktiv
    Henkel: Da hat er Unrecht. Man muss eins sagen: Ich beobachte und kenne Frau Merkel ja seit vielen Jahren und ich habe auch in einigen Menschenrechtsfällen mit ihr persönlich zusammengearbeitet. Sie hat mehr als jeder andere Kanzler zuvor was für die Menschenrechte getan. Ich darf daran erinnern: Sie hat den Bremer Taliban Kurnaz - vielleicht erinnern sich einige Hörer noch daran -, ein in Deutschland geborener Türke, der irgendwie in Guantanamo unschuldig eingesessen hat viele Jahre, sie hat ihn rausgeholt bei George Bush. Das hat nicht etwa Herr Schily gemacht, der damalige Innenminister, oder Herr Fischer, der damalige Außenminister, und schon gar nicht Gerhard Schröder, sondern sie. Sie hat den Dalai Lama zum ersten Mal eingeladen. Sie hat auch sich mit Putin über Menschenrechte ausgetauscht und sie geht auch gegen die Chinesen vor. Das ist alles bemerkenswert.
    Aber was sie in der Flüchtlingsfrage getan hat, ist total kontraproduktiv gewesen. Denn ich muss noch mal sagen: Nicht nur hat sie sich in Europa völlig isoliert, das sehen wir ja, sondern wir erleben jetzt, dass die anderen Länder ihre Grenzen zumachen, und sie müssen sie zumachen, und sie sagt, ich lasse sie offen. Und was passiert? Jetzt kommen immer weniger Flüchtlinge nach Deutschland. Sie wird indirekt davon irgendwann mal profitieren, weil keine Flüchtlinge mehr kommen, aber weil die anderen Länder die Grenzen schließen, aber sie nicht. Ich weiß nicht, ob die Hörer wissen, dass zum Beispiel Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen und sagen, sie wollen nach Deutschland, die werden reingelassen. Aber wenn sie sagen, sie wollen nach Schweden, dann werden sie abgewiesen. Das heißt, Frau Merkel besorgt auch schon die schwedischen Interessen an der deutschen Grenze. Das ist doch scheinheilig.
    Zagatta: Sie sagen scheinheilig. Die Flüchtlingskrise ist aber jetzt bei den Landtagswahlen das beherrschende Thema in Deutschland. Glauben Sie, dass diese de facto Abriegelung der Balkan-Route, die jetzt damit durchgeführt wird, dass das jetzt schon die Wirkung zeigt und der AfD, Ihrer alten Partei, die ja in Umfragen im Moment unheimlich hochsteht, das Wasser noch abgräbt?
    Henkel: Ich fürchte, das wird nicht genügen, weil die Wähler und Wählerinnen ja wissen, dass wir jetzt erst mal über eine Million schon mal haben und dass der Familiennachzug kommt. Und wir sehen ja diese schrecklichen Bilder.
    Ich muss auch noch mal was sagen, weil ich gesagt habe, dass die Flüchtlingspolitik inkonsistent ist. Frau Merkel hat Züge geschickt, weil die Bilder am Budapester Hauptbahnhof nicht mehr zu ertragen waren. Aber ich darf darauf hinweisen: Diese Flüchtlinge hatten ein Dach überm Kopf und es war Sommer. Jetzt haben wir eine ähnliche oder eine höhere Anzahl von Flüchtlingen. Die sind in Zelten, sie frieren, es ist eine viel schlimmere Situation. Theoretisch müsste man von ihr eigentlich erwarten, jetzt wieder Züge dort hinzuschicken. Das tut sie aber nicht. Irgendwie ist das Ganze, das Ding passt hinten und vorne nicht.
    Zagatta: Macht das die AfD stark? Ist daran Frau Merkel schuld, oder wie erklären Sie sich das?
    AfD-Abgeordnete sollen EKR-Fraktion verlassen
    Henkel: Absolut! Ich darf darauf aufmerksam machen: Als Herr Professor Lucke und ich und andere diese Partei verlassen haben und ALFA gegründet haben, die Allianz für Fortschritt und Aufbruch, da sind ja fünf bis 6.000 Leute gegangen und diese Partei war zu dem Zeitpunkt bei den Umfragen unter drei Prozent insgesamt im Bundesgebiet. Das heißt, dass sie im Osten bei über zehn Prozent lag, im Westen wahrscheinlich unter zwei. Inzwischen ist sie zweistellig. Das ist nur ein Resultat dieser chaotischen Flüchtlingspolitik von Frau Merkel.
    Beatrix von Storch beugt zu Marcus Pretzell herüber.
    Beatrix von Storch und Marcus Pretzell im Europaparlement in Straßburg. (dpa / EPA / Patrick Seeger)
    Und ich muss eins sagen: Diese Flüchtlingspolitik hat ja nicht nur ökonomische Konsequenzen für Deutschland und soziale Konsequenzen für Deutschland und übrigens auch enorme Konsequenzen für Frauen und Mädchen, die von ihren Männern, die hier geflüchtet sind nach Deutschland, in diesen Krisengebieten allein gelassen werden. Das hat auch politische Konsequenzen. Frau Merkel hat es zu verantworten, dass wir diese Partei inzwischen so stark gemacht haben. Übrigens darf ich auch bei dieser Gelegenheit sagen: Die Fraktion der europäischen Konservativen und Reformer, die EKR, der wir angehören, hat gestern Abend beschlossen, die beiden übrig gebliebenen AfD-Abgeordneten, Frau von Storch und diesen Herrn Pretzell, die der Meinung sind, man müsste als Ultima Ratio auch auf Flüchtlinge schießen, übrigens auch auf Frauen und Kinder, denen hat sie gesagt, sie sollen bis zum Ende des Monats diese Fraktion verlassen, und darüber bin ich sehr froh.
    Zagatta: Herr Henkel, ist das aber nicht auch ein bisschen scheinheilig, sich über die AfD so aufzuregen, und gleichzeitig macht die Türkei ja genau das? An der syrisch-türkischen Grenze wird laut Amnesty auf Flüchtlinge geschossen und auch auf Kinder.
    Henkel: Natürlich! Das ist völlig unakzeptabel. Beides ist unakzeptabel. Deshalb kann ich nur sagen, ich bin sehr, sehr beunruhigt und habe sehr große Bauchschmerzen bei dem Thema Türkei. Und ich habe hier übrigens auch im Parlament in einer parlamentarischen Stellungnahme mich dafür eingesetzt, dass die individuelle Prüfung der Asylanträge aus der Türkei in vollem Umfang sichergestellt wird.
    Zagatta: Das heißt, Regelungen, die auf so eine Pauschale hinauslaufen, die würden Sie auf alle Fälle ablehnen?
    Henkel: Die lehne ich auch ab, ja.
    Zagatta: Herr Henkel, wenn wir Sie schon am Telefon haben. Was mich noch interessieren würde jetzt im Nachhinein, wenn man Sie auch so hört. War das der größte Fehler Ihres Lebens, dass Sie bei der AfD mitgemacht haben?
    Henkel: Ich habe zwei große Fehler gemacht. Oh nein, ich habe viele Fehler gemacht.
    Zagatta: Auf den zweiten bin ich gespannt.
    Henkel: Der erste, den habe ich schon lange zugegeben. Das war, dass ich damals den Euro unterstützt habe. Denn ich hätte mir nicht vorstellen können, dass die Politiker all die Versprechen, die sie uns bei der Aufgabe der D-Mark gegeben haben, alle brechen würden. Das war der erste Fehler und das war ja der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin und der AfD mitgeholfen habe. Aber dass sie sich so entwickelt, dass sie so von Rechtsradikalen unterwandert würde, wie es jetzt der Fall ist, das konnte ich mir nicht vorstellen. Und diesen Fehler, wenn man so will, mache ich gern wieder gut, indem ich mich voll in diese neue Partei einbringe, in ALFA, und die tritt ja in Baden-Württemberg und natürlich auch in Rheinland-Pfalz und natürlich auch in Sachsen-Anhalt an und wir wollen mithelfen, eine neue Mitte für die Wähler und Wählerinnen darzustellen. Denn der Linksrutsch der Frau Merkel - und übrigens in der Flüchtlingspolitik kann ich sie schon gar nicht mehr von Claudia Roth unterscheiden -, der Linksrutsch der Frau Merkel auf der einen Seite und der dramatische Rechtsruck der AfD auf der anderen Seite, der lässt ein ganz neues Potenzial für eine neue Mitte erscheinen, und in dieses Potenzial wollen wir mit Vernunft, mit Anstand und mit Toleranz, aber auch mit mutigen Reformkonzepten hinein.
    Zagatta: Der Europaabgeordnete der Partei ALFA, Hans-Olaf Henkel. Herr Henkel, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
    Henkel: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.