Archiv

Merkels Mauerbau-Parallele
"Ein falscher historischer Vergleich"

Eine militärische Lösung des Ukraine-Konflikts hält die Bundeskanzlerin für ausgeschlossen, Waffenlieferungen an Kiew möchte sie nicht - und zog als Begründung auch Parallelen zum Bau der Berliner Mauer 1961 heran. Der Vergleich sei falsch, sagte der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder im DLF.

Klaus Schroeder im Gespräch mit Bettina Klein |
    Als Siebenjährige habe sie den Mauerbau persönlich miterlebt, hatte Merkel gesagt. Doch obwohl es sich um eine grobe Verletzung des internationalen Rechts gehandelt habe, wollte keiner militärisch eingreifen. Für die Kanzlerin eine vergleichbare Situation zur Ukraine-Krise.
    Nicht so für Klaus Schroeder. Der Vergleich sei falsch, sagte der Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, im DLF. Im Gegensatz zur aktuellen Situation in der Ostukraine habe der Mauerbau die Nachkriegsordnung zementiert. Russland hingegen rücke militärisch vor. Hier ginge es um die Frage, wie man den Zerfall der Ukraine stoppen könne.
    Klaus Schröder von der Freien Universität Berlin nimmt in Berlin an der Pressekonferenz für ein Projekt zur Erforschung der Opfer der innerdeutschen Grenze teil.
    Klaus Schröder lehrt Politikwissenschaft an der FU Berlin. (picture alliance / dpa - Tim Brakemeier)
    Europa dürfe gegenüber Russland nicht weiter nachgeben. Der Verhandlungsweg sei zwar wichtig, doch Putin müsse deutlich signalisiert werden, dass eine expansive Politik am Ende auch Waffenlieferungen für die Ukraine bedeuten könne. "Irgendwo muss auch die harte Hand sichtbar werden, um den Russen Einhalt zu gebieten", betonte Schröder.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Gibt es ein Ergebnis in Minsk, gibt es eine Vereinbarung, eine Lösung des so lange schwelenden und teilweise eben offen ausgebrochenen Ukraine-Krieges? Wenn ja, wenn dem so ist, dann hat daran möglicherweise einen wichtigen Anteil die deutsche Bundeskanzlerin, die immer wieder in den vergangenen Tagen betont hat, wie wichtig ein langer Atem sei, wie wichtig es sei, die Gesprächskontakte nach Moskau zu pflegen und immer weiter zu verhandeln, auch wenn es nicht sicher sei, ob eigentlich eine Lösung am Ende steht. Sie hat ihre Position auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende verteidigt, immer wieder, auch und gerade gegen diejenigen teilweise aus den Vereinigten Staaten von Amerika, auch aus Großbritannien, die immer wieder gefragt haben, weshalb sich denn die deutsche Bundesregierung so vehement dagegen sperre, etwa defensive Waffen an die Ukraine zu liefern, die ja darum immer wieder gebeten hat. Angela Merkel hat das mit verschiedenen Argumenten begründet, bei einem Argument kam sie auf den Mauerbau zu sprechen. Und wir hören mal in diesen Originalton hinein:
    O-Ton Angela Merkel: Ich bin in der DDR aufgewachsen. Ich habe erlebt als siebenjähriges Kind, wie die Mauer gebaut wurde. Es hat niemand, obwohl es eine grobe Verletzung des internationalen Rechts war, geglaubt, dass man militärisch an dieser Stelle eingreifen sollte, um die DDR-Bürger und den gesamten Ostblock davor zu bewahren, viele Jahre lang in Diktatur und Unfreiheit zu leben.
    Klein: So weit Bundeskanzlerin Angela Merkel am vergangenen Samstag bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Sie nahm also dieses Argument als eine Begründung dafür, keine Waffen an die Ukraine zu liefern, und sie sprach von den Realitäten, die man eben mitunter akzeptieren und anerkennen müsse. Am Telefon begrüße ich jetzt Professor Klaus Schroeder, er ist Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin und leitet dort den Forschungsverbund SED-Staat, hat sich mit der Geschichte der DDR und auch dem Mauerbau natürlich intensiv beschäftigt. Guten Morgen, Herr Schroeder!
    Klaus Schroeder: Ja, schönen guten Morgen, Frau Klein!
    Klein: Aus Sicht des deutschen Forschers, niemand hatte die Absicht, beim Mauerbau einzugreifen, ist das ein gutes Argument, wenn wir über die Auseinandersetzung mit Realitäten sprechen wie jetzt in der Ukraine?
    Schroeder: Das ist eine falsche Analogie. Damals ging es nicht um die Begrenzung einer militärischen Aggression, sondern um die Zementierung des Nachkriegsstatus quo. Und die westliche Seite, speziell die Amerikaner, hatten der Sowjetunion signalisiert, dass sie nicht eingreifen würden, wenn die Mauer gebaut wird beziehungsweise die Zufahrtswege abgesperrt werden. Die drei Essentials von Kennedy haben dies signalisiert und wahrscheinlich auf geheimen Kanälen hat man das auch noch mal gesagt. Beide Seiten, die Sowjetunion, die DDR auf der einen, die Bundesrepublik, die USA und die Westmächte auf der anderen Seite wollten keinen Krieg um und in Deutschland. Also, es ging hier nicht um irgendwelche Begrenzungen des Militärs, militärischen Vorgehens wie in der Ukraine, sondern es ging um, ja, Zementierung der Nachkriegsordnung.
    Keine falschen historischen Vergleiche ziehen
    Klein: Merkel sagt ja, das ist eben sozusagen ein Beleg dafür, dass man sich manchmal etwas wünschen könne und vielleicht auch Ideen hat, wie man es erreicht, aber das dann eben doch nicht eingesetzt wird und nicht zum erwünschten Erfolg führt. Halten Sie denn diese Parallele historisch für angemessen?
    Schroeder: Nun, dass man nicht gleich militärisch reagiert, mag eine Option sein, und dass man auf Friedenssicherung setzt, das ist völlig in Ordnung. Aber man soll nicht falsche historische Vergleiche ziehen. Und die sind hier gezogen worden. So schlimm das damals war, es ging nicht darum, dass die Sowjetunion weiter militärisch vorrücken wollte. Sicherlich, die DDR hatte immer im Gepäck die Okkupation, also die Besetzung Westberlins, aber dazu ist es nicht gekommen, weil die Abschreckung zu groß war. Jetzt in der Ukraine geht es um andere Dinge, jetzt geht es darum, dass Russland ein Land destabilisiert, militärisch vorrückt. Und da muss man sich die Frage stellen, wie kann man verhindern, dass die Ukraine zerfällt, kaputt gemacht wird. Russland spielt dieses Spiel ja nicht nur in der Ukraine, sondern in anderen ehemaligen sowjetischen Republiken auch, und dass ehemalige Satellitenstaaten jetzt Angst haben, dass diese Expansion weitergeht, das kann man durchaus verstehen.
    Klein: Lassen Sie uns noch kurz dann bei der Ukraine bleiben, Herr Schroeder: Wir haben ja heute Morgen noch kein Ergebnis, wir schwimmen ja alle so ein wenig, weil nicht klar ist, was eigentlich am Ende dieser langen, langen Verhandlung stehen wird. Aber sagen Sie uns kurz noch, was denn Ihr Rat dann an dieser Stelle wäre: Glauben Sie nicht, dass es richtig war, diesen Verhandlungsweg so lange zu beschreiten?
    Schroeder: Ja, es war richtig, den Verhandlungsweg zu beschreiten. Aber gleichzeitig ist es wichtig zu sagen: Wenn er nicht eingehalten wird, was auch immer jetzt herauskommt, wenn es nicht eingehalten wird, dann greifen wir auch zu anderen Maßnahmen bis hin zu Waffenlieferungen an die Ukraine, damit sie sich besser verteidigen kann. Also, man darf nicht immer weiter nachgeben. Wir hatten ja schon ein Abkommen in Minsk, was ist daraus geworden, nichts! Das heißt, die russische Seite versucht immer weiter, sich auszudehnen, ihre Politik expansiv zu verfolgen, und will den Westen, speziell jetzt Frankreich und Deutschland besänftigen. Also, es muss irgendwo auch die harte Hand sichtbar werden zu sagen, wenn ihr diese Ergebnisse nicht einhaltet, dann können wir auch anders. Und genau das ist die Erfahrung des Kalten Krieges: Erst durch die harte Haltung der USA, auch in Form der Politik von Reagan, ist es gelungen, die Sowjetunion in Schach zu halten und schließlich niederzuringen.
    Politik der Stärke
    Klein: Durch die harte Hand von Reagan, sagen Sie. Aber zum Beispiel gegen den NATO-Doppelbeschluss haben ja zig Tausende in der Bundesrepublik demonstriert, die Veranstaltung im Bonner Hofgarten ist legendär, auch in der ostdeutschen Friedensbewegung hieß es damals, Anfang der 80er-Jahre, „Schwerter zu Pflugscharen" und die Aufforderung richtete sich an beide Seiten, an die NATO und die Sowjetunion.
    Schroeder: Nicht unbedingt an beide Seiten. Es gab einen Teil der Demonstranten, die gegen die Aufrüstung auf beiden Seiten waren. Aber ein Großteil richtete sich nur gegen die NATO-Waffen. Hier ist der Westen Gott sei Dank hart geblieben, hat sich nicht darauf eingelassen, auf die sowjetischen Forderungen, und erst dadurch ist es gelungen, das Gleichgewicht der Kräfte wieder herzustellen und dann schließlich die Sowjetunion auch militärtechnologisch in die Knie zu zwingen. Also, die Politik der Stärke heißt ja nicht unbedingt, dass man militärisch was macht, sondern einfach nur, dass man der anderen Seite signalisiert: Wenn du militärisch expandieren willst, dann musst du mit einem Gegenschlag rechnen. Und genau das ist es ja auch, was die ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten im Baltikum, in Polen und anderswo erwarten, dass den Russen signalisiert wird: Wenn ihr diese rote Linie überschreitet, dann müsst ihr mit einem Gegenschlag rechnen.
    Klein: Wir sprechen in diesen Tagen auch über eine andere historische Parallele, die teilweise eben auch kritisiert wird, umstritten ist, es geht um die Appeasement-Politik. Die Parallele bezieht sich auf das Ende der 38er-Jahre und die Beschwichtigungspolitik, die gegenüber Hitler gefahren wurde. Diesen Vorwurf hat nun noch einmal der US-Senator John McCain ausgesprochen auch in einem Interview mit dem ZDF, auch andere Senatoren haben sich in dieser Weise geäußert. Ist das auch eine Parallele, wo sie danebengegriffen haben?
    Schroeder: Nun, das trifft nur zum Teil zu. Die Appeasement-Politik von Chamberlain gegenüber Hitler hat ja nicht den Krieg verhindert, sondern hat Hitler immer größenwahnsinniger gemacht wahrscheinlich. Das ist jetzt nicht der Fall. Denn die Russen wissen ganz genau, dass die NATO eine rote Linie, nämlich die Beipflichtsorientierung gesetzt hat, da können sie nicht drüber weg, insofern ist auch diese historische Analogie falsch beziehungsweise nur zum Teil richtig.
    Klein: Schauen wir noch mal auf das, was Kanzlerin Merkel gesagt hat! Sie sprach ja davon, der Mauerbau war de facto eine Freiheitsberaubung für Millionen Menschen, die man der Diktatur ausgeliefert hat, niemand sei eingeschritten. Ist es denn aus Ihrer Sicht insgesamt so klar zu begrüßen, dass die das da so klar und unumwunden ausspricht zumindest?
    Schroeder: Ja, das ist ein historisches Faktum. Niemand wollte den Krieg und, dass die Sowjetunion und die DDR den Vier-Mächte-Status von ganz Berlin vorher und nachher immer schon verletzt hat beziehungsweise ignoriert hat, ist auch klar. Und es ist ja nicht immer so, dass die militärische Option die richtige ist, in den wenigsten Fällen ist das so. Aber wenn eine Seite aggressiv ist, aufrüstet, auch militärisch agiert wie Russland in der Ukraine, dann ist die Frage, ob nur Verhandlungen reichen oder ob man nicht auch mal eine Stoppposition setzen muss. Das hat man nach dem ersten Abkommen nicht getan, die Aggression ging weiter und jetzt muss man die Pflöcke einhauen, dass das, wenn denn was gesichert wurde, was wir ja noch nicht wissen, dass das auch eingehalten wird. Und das geht nur, indem man auch sagt: Wenn ihr nicht auf friedlichem Wege zum Kompromiss bereit seid, dann können wir auch anders.
    Russland will zur alten Stärke zurückkehren
    Klein: Frau Merkel zieht ja eine andere Schlussfolgerung daraus. Also nicht: Wir müssen diesmal helfen, sondern sie verwendet das zur Legitimierung ihrer Position. Nun ist ja die Frage, ob 1961 wirklich als Vorbild taugt. Also, der Autor Fred Kempe hat in einem sehr interessanten Buch, "Berlin 1961", zum Beispiel sehr scharfe Kritik an Kennedy damals geübt, dem damaligen Präsidenten, den er für völlig überfordert hielt, der teilweise auf positive Signale aus Moskau nicht reagiert habe. Das heißt, die Frage ist natürlich: Kann man das wirklich guten Gewissens als ein Vorbild darstellen, wie sich die Alliierten, auch die Westmächte verhalten haben? War das alternativlos, was da geschehen ist?
    Schroeder: Alternativlos ist das Wenigste. Aber wenn man keinen Krieg wollte, dann war es alternativlos. Und noch einmal: Die USA wollten wegen Deutschland nicht in den Krieg ziehen und deshalb haben sie das toleriert, dass die Sowjetunion die Nachkriegsordnung festzementiert hat. Jetzt sind wir in einer ganz anderen Situation, nämlich in der Situation, dass Russland zu alter Stärke zurückkehren will und hier auch nicht vor militärischen Optionen zurückschreckt. Und hier muss man die Balance finden zwischen Friedenssicherung, Verhandlungen und einer Politik der Stärke.
    Klein: Um aber noch mal kurz darauf zu schauen: Es war ja wohl so, dass Walter Ulbricht, der damalige SED-Staats- und Parteichef darum gebeten hat, die Mauer bauen zu dürfen, am Ende waren die Maschinengewehre nach innen gerichtet auf die eigene Bevölkerung. Hätte es denn aufseiten der DDR-Führung eine Möglichkeit gegeben, das zu vermeiden, das nicht zu tun, ohne dabei mit Moskau etwa aneinanderzugeraten?
    Schroeder: Nein, die DDR hatte keinen eigenen Spielraum. Sie kämpfte um ihr Überleben und es musste etwas geschehen. Und sie hat die Sowjetunion gebeten, dass sie sich abschließen darf. Die beste Option war ja für die Sowjetunion und auch für die DDR das Einverleiben Westberlins, das wollte man als beste Option. Das gelang nicht, da haben die USA gesagt, stopp, wir garantieren die Überlebensfähigkeit Westberlins. Und dann blieb ja nur die Mauer beziehungsweise das Abriegeln. Die Mauer war ja, sollte erst ja gar nicht gebaut werden, aber nachdem man merkte, dass mit Stacheldraht das nicht gelingt, hat man dann die Mauer gebaut. Nein, die DDR hatte keine Option, sie wäre damals ja schon am Ende gewesen, Hunderttausende sind geflohen im Jahr zuvor. Also, es ging ums Überleben und das hat die Sowjetunion der DDR gesichert, aber es hat eben nicht gereicht für immer, sondern nur für ein paar Jahrzehnte.
    Klein: Klaus Schroeder, der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin heute Morgen im Deutschlandfunk zur Parallele, die die Bundeskanzlerin aufgemacht hat zwischen dem Mauerbau damals und dem Blick auf die Realitäten in der Ukraine heute. Herr Schroeder, herzlichen Dank für das Gespräch!
    Schroeder: Ja, bitte!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.