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"Merlin" in der Pariser Vorstadt

Im Pariser Stadtteil Bobigny gibt es ein gleichnamiges städtisches Theater. Dort ist am Wochenende das Groß-Drama "Merlin oder das Verwüstete Land" von Tankret Dorst erstmals in Frankreich aufgeführt worden. Dorst und sein Regisseur Jorge Lavelli erzählen mit "Merlin" eine sehr alte Geschichte, fern aller Aktualität.

Von Ute Nyssen |
    In Paris hält auch in der laufenden Spielzeit das erstaunliche Interesse der Theatermacher an deutschsprachigen Stücken an. Auf den Spielplänen findet man hier sogar viele selbst in Deutschland noch kaum bekannte Autoren. Das Hauptwerk von Tankred Dorst und seiner Mitarbeiterin Ursula Ehler hingegen, MERLIN oder DAS WÜSTE LAND, musste nach der Düsseldorfer Uraufführung 1981 vierundzwanzig Jahre auf die französische Erstaufführung warten, und das nach immerhin 18 in aller Herren Ländern gespielten Übersetzungen. Noch vor wenigen Jahren war man in Paris eben sehr zurückhaltend gegenüber deutschen Stücken. Das neue Interesse kommt nicht von ungefähr: Es verdankt sich nicht zuletzt der unermüdlichen Wühlarbeit von Katharina von Bismarck und Rudolf Rach mit ihrem Verlag L`Arche Éditeur. Als sie vor knapp 20 Jahren nach Paris kamen, gab es hier keinen aktiven Theater-Verlag nach deutschem Muster und ihr Einsatz trägt nun Früchte.

    Prominenter Regisseur von MERLIN am Pariser Theater Bobigny ist Jorge Lavelli, der in den 70er Jahren erfolgreich auch in Deutschland inszenierte. Dorsts Stück greift die Legenden von Parzivals Suche nach dem Gral auf, von den Rittern der Tafelrunde, von den Tricks und Künsten des Zauberers Merlin. Wie eine schöne Luftspiegelung entsteht der Traum von einer ritterlichen Gesellschaft. Im Verlauf der Handlung zerfällt er jedoch zu Staub, ebenso wie die utopischen Träume jüngerer Epochen, die das Stück immer wieder aufblitzen lässt. Macht-junger und nackte Gewalt obsiegen. Obwohl im engeren Sinne kein Achtundsechziger, so schwingt bei Dorst durchaus auch die Trauer um das Scheitern der Utopien dieser Generation mit, sein Stück entstand in den 70er Jahren. Dorsts Utopie ist die Liebe. Keiner seiner Altersgenossen – Peter Weiss, Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt – aber auch nicht die nachfolgende Generation, besaß wie er das Talent, die Liebe dramatisch zu gestalten. Die Liebe überlässt das Theater heute gerne dem Kino. Dorst hat einmal gesagt, das Schlimmste für ihn sei "ein kaltes Herz". Er brachte insbesondere mit MERLIN den Mut auf, gegen das theatralische Zeitklima Figuren mit einem heißen Herzen ins Zentrum zu stellen. Wie sich Lanzelot und Ginevra in ihrer verbotenen Leidenschaft verzehren, wie das Fräulein von Astolat aus unerwiderter Liebe stirbt, wie König Artus seine geliebte Königin aus Eifersucht auf den Scheiterhaufen bringt, all diese bedingungslosen Leidenschaften sind in MERLIN der Stoff, aus dem Geschichte gemacht ist, feudale Geschichte. Wie bestand nun der Regisseur Lavelli die Herausforderung, die schon der enorme Textumfang mit sich bringt, der ständige Szenenwechsel, das große Personal in Vielfachbesetzung? Er ist damit, auch dank einer stringenten dramaturgischen Bearbeitung, sehr souverän fertig geworden. Phantasievoll waren vor allem die burlesken heidnisch - christlichen Szenen, wie beispielsweise Merlins Geburt oder auch die vielen Todesprozessionen. Einfallsreich nutzte er den riesigen Bühnenraums in diesem Theater. Aber Lavelli scheiterte zugleich, und zwar gerade an der Tugend französischer Regisseure, der Werktreue nämlich. Indem er die theatralischen Mittel des Textes, die deutlich das deutsche Regietheater der 70er Jahre widerspiegeln, zu wörtlich verstand, setzte er durchgängig Travestie, Marktschreierei, Clownspiele ein und steigerte den inneren Druck, unter dem die Figuren stehen, zu einem schrillen Dauerton. Nur selten fand er so schöne theatralische Übersetzungen für die Liebe wie in einer Bettszene zwischen einer riesigen schwarzen Mutterfigur und einem Greis, der bei ihr nach seinem Gral sucht. Der Regisseur Lavelli steht übrigens nicht allein, auch bei "Groß und klein" von Botho Strauß, ebenfalls aus den 70er Jahren, war in der französischen Aufführung derselbe Vorgang zu beobachten: aus über-großem Respekt vor dem Text wagt sich die Regie nicht weit genug vor mit einem heutigen Zugriff. Dennoch, die deutschsprachigen Stücke kommen hier an und das beeindruckte Publikum spendete für MERLIN lebhaften Beifall.