"Ich war damals ein Krankenhausarzt im Notdienst. Ich kann mich noch gut erinnern. Am Nachmittag des 10. März 2003 schickte mich mein Chef auf den Flur 8A. Dort hätten mehrere Patienten Fieber. Angeblich fühlten sich auch einige Pflegekräfte krank."
Nelson Lee sitzt in einem Büro im Hongkonger Prince of Wales-Krankenhaus, während er von damals erzählt. Hier lehrt er heute als Medizinprofessor. Hier ist er im Jahr 2003 als erster Arzt in der Stadt mit SARS-Patienten konfrontiert. Der Flur 8A ist bis heute in Hongkong berüchtigt. Der Ort des ersten Ausbruchs. Keiner weiß zu diesem Zeitpunkt, was los ist. Die Patienten und mehrere Kollegen haben schwere Lungenentzündungen. Nelson Lee setzt eine Gesichtsmaske auf, macht sich an die Arbeit, kämpft gegen einen unbekannten Feind.
"Wir versuchten, die Infektion einzudämmen. Doch das Erschreckende war, dass binnen weniger Tage die Fälle immer mehr wurden. Wir waren Zeugen eines super-spreading event, einer Pandemie. Den Patienten ging es immer schlechter. Manche mussten künstlich beatmet werden. Vor allem während der ersten Woche war es ein Gefühl von Katastrophe."
Das SARS-Virus hatte Hongkong schon einige Zeit früher erreicht. Das ist heute alles rekonstruiert. Die Schlüsselfigur ist ein infizierter Arzt aus der südchinesischen Provinz Guangdong. Dort treten schon seit November ungewöhnliche Fälle von Lungenentzündung auf. Chinas Behörden vertuschen die Infektionen aber, verhindern damit eine frühzeitige Eindämmung. Der Arzt mietet sich am 21. Februar im Hongkonger Hotel Metropole ein. Dort infiziert er mehrere Gäste und Besucher. Diese tragen das Virus weiter in die Stadt hinein, etwa ins Prince of Wales-Krankenhaus, und in die ganze Welt. Das Drehkreuz Hongkong ist der perfekte globale Infektionsverteiler.
Die Angst hat sich tief eingegraben
Angst erfasst die Stadt. In der Wohnanlage Amoy Gardens infizieren sich mehr als 300 Menschen, eventuell über das Abwassersystem. Die Hongkonger tragen Gesichtsmasken, waschen sich oft die Hände, gehen nicht mehr in Restaurants, fahren keine U-Bahn, Kinos sind leer. Die Wirtschaft verzeichnet Einbrüche. Die Immobilienpreise sacken ab. Der Schweizer Finanzjournalist Ernst Herb ist seit zwei Monaten in Hongkong, als die SARS-Krise beginnt.
"Man konnte niemanden mehr treffen. Das war eine sehr einsame Zeit für mich. Selbst übers Telefon. Man hat nur jemanden angerufen, wollte etwas wissen. Überhaupt keine Verbindlichkeit. Die hatten Angst schon gehabt, man steckt sich übers Telefon an. Es war eine richtige Panik in der Stadt."
Im April wird ein bis dahin unbekanntes Coronavirus als Ursache für SARS identifiziert. Im Laufe des Frühjahrs ebbt die Pandemie ab. Im Sommer gilt sie als nahezu überwunden. Die Bilanz zwischen März und Juli: weltweit mehr als 8000 Infizierte in 30 Ländern, 744 Todesfälle, davon 350 in Festlandchina, knapp 300 in Hongkong und über 40 in Kanada. Einige der Überlebenden leiden noch heute unter einer Knochendegeneration - eine Folge der damals verabreichten Medikamente.
In Hongkong normalisierte sich die Lage schnell wieder. Der Irakkrieg und der Sturz Saddam Husseins verdrängten SARS damals aus den Medien. Doch die Angst hat sich tief eingegraben ins Gedächtnis. Das zeigt sich auch jetzt in der Reaktion auf MERS: Die Hongkonger Regierung hat als erste eine Reisewarnung für Südkorea ausgegeben - mit Alarmstufe Rot. Auch Chinas Behörden warnen vor deutlich gestiegenen Risiken durch MERS. Sie haben aus der Krise 2003 gelernt. Sie vertuschen nicht mehr, sondern tun das Notwendige. In Südchina ist ein koreanischer MERS-Patient in Behandlung. 75 Menschen, die Kontakt zu ihm hatten, seien in Quarantäne, heißt es.