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Merz: Europa funktioniert anders als Amerika

Bei der Atlantik-Brücke e.V. gehe es darum, den Austausch mit Amerika zu pflegen, sagt der Vorsitzende des Vereins Friedrich Merz. Die USA und Deutschland seien sich in der Klimapolitik und Verschuldung auf EU-Ebene uneinig. Außerdem müsse zudem immer erklärt werden: "Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Europa auf dieser Seite des Atlantiks."

Friedrich Merz im Gespräch mit Bettina Klein |
    Das Interview mit Friedrich Merz hören Sie am Sonntag ab 11.05 Uhr im Deutschlandfunk.

    Bettina Klein: Herr Merz, die Atlantik-Brücke begeht demnächst ihr 60-jähriges Bestehen – eine Plattform der Begegnung und Vernetzung von Entscheidungsträgern diesseits und jenseits des Atlantiks, und sie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr um das deutsch-amerikanische Verhältnis bemüht. Inzwischen darf das als gefestigt gelten, jedenfalls hören wir ja auch in Krisenzeiten es immer wieder von Politikern: An deutsch-amerikanischer Freundschaft ist nicht zu rütteln. Das ist im Grunde genommen auch eigentlich jetzt so. Und es scheint so zu sein, jeder war schon mal da, jeder kann mitreden, jeder fühlt sich berufen, auch etwas zum Thema zu sagen. Wozu brauchen wir heute noch eine Atlantik-Brücke?

    Friedrich Merz: Wenn man sich die Gründungsgeschichte der Atlantik-Brücke ansieht, dann kann man sehr schnell anhand der Gründungsgeschichte und an der Entwicklung der letzten sechs Jahrzehnte aufzeigen, wie sich das transatlantische Verhältnis verändert hat. Die Gründung der Atlantik-Brücke fällt in das Jahr 1952, ein Jahr, das man bezeichnen kann als Beginn des sogenannten "Kalten Krieges" – Anfang der 50er-Jahre die zunehmende Spannung zwischen der Sowjetunion und Amerika. Und deswegen war die Atlantik-Brücke auch in den ersten Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten, konzentriert auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Da ist die Atlantik-Brücke gegründet worden von Gräfin Dönhoff, Eric Warburg, Erik Blumenfeld, später Helmut Schmidt – eine Plattform für die außenpolitische Diskussion. Und wenn Sie einen Sprung in die Zeit machen von heute: Wir haben längst nicht mehr nur die Außen- und Sicherheitspolitik, der Kalte Krieg ist seit 20 Jahren beendet. Wir haben heute ganz andere Themen, wir haben heute wirtschafts- und finanzpolitische Themen, wir haben heute energie- und umweltpolitische Themen. Und ich gehöre nicht zu denen, die sagen, das ist alles so selbstverständlich, dass wir mit den Amerikanern über alles reden und überall einer Meinung sind, als dass es sich nicht mehr lohnt, eine solche Institution aufrecht zu erhalten. Das Gegenteil ist aus meiner Sicht richtig. Die Vorzeichen haben sich verändert, aber die Notwendigkeit, eine Institution wie die Atlantik-Brücke in Deutschland zu haben, ist eher größer als kleiner geworden.

    Klein: Was sind die Hauptbaustellen für Brückenbauer Ihrer Meinung nach?

    Merz: Ich sehe nach wie vor die Außen- und Sicherheitspolitik, allerdings unter völlig veränderten Vorzeichen. Natürlich stehen im Fokus der Außen- und Sicherheitspolitik im Augenblick auch die großen Konflikte im Mittleren und Nahen Osten. Ich sehe aber zunehmend auch die Wirtschafts- und Finanzpolitik als ein Thema, das uns nicht nur eint, sondern zum Teil auch trennt. Und ich sehe natürlich auch den gesamten Bereich der Energiepolitik und der Umweltpolitik bis in die jüngsten Tage hinein. Es ist ein offensichtlicher Dissens zwischen Amerika und Europa etwa in der Klimapolitik, seit Jahren fortbestehend und jetzt auch in diesen Tagen nicht gelöst. Insofern haben wir, glaube ich, Themen genug, auch für die Zukunft, denn wir feiern nicht nur 60-Jahre Vergangenheit, sondern wir feiern auch viele Jahre und Jahrzehnte Zukunft.

    Klein: Können Sie ein Beispiel bringen, wo Sie das Gefühl haben, dass ohne die Atlantik-Brücke ein Dissens nicht hätte gelöst werden können, nicht hätte überbrückt werden können? Nehmen wir mal die Klimapolitik zum Beispiel.

    Merz: Na ja, wenn wir also in der Vergangenheit forschen, was ohne die Atlantik-Brücke nicht so gut oder gar nicht möglich gewesen wäre: Ich glaube, die Atlantik-Brücke kann für sich in Anspruch nehmen, und das ist lange vor meiner Zeit gewesen, dass sie einer der ganz wenigen Brückenbauer war, der auch letztendlich die Deutsche Einheit ermöglicht hat. Von Reagan und seiner großen Rede vor dem Brandenburger Tor vor 25 Jahren, ziemlich genau vor 25 Jahren, und dann den großartigen Einsatz von Georg Bush senior für die Deutsche Einheit, zusammen mit Gorbatschow: Die Atlantik-Brücke hat Reagan und Bush eine Plattform gegeben und hat sie unterstützt. Und Bush wusste, was er an der Atlantik-Brücke hatte, und er ist ja auch jemand, der auch das 50-jährige Jubiläum der Atlantik-Brücke begleitet hat und der in unserer Geschichte fest verankert ist. Und da hat die Atlantik-Brücke mit ihren 500 Mitgliedern, mit vielen Unternehmen und vielen Einzelpersönlichkeiten über Jahre und Jahrzehnte zu beigetragen.

    Klein: Es ist ja eine Organisation mit begrenzter Mitgliederzahl, ein exklusiver Klub, könnte man sagen. Braucht die Atlantik-Brücke nicht mehr Input von der breiten Masse, zum Beispiel in Deutschland?

    Merz: Na ja, wir sind keine Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, die sich auf Amerika konzentriert, sondern es ist im Grunde genommen eine deutsch-amerikanische Gesellschaft, die sich ganz bewusst die Grenze von ungefähr 500 Mitgliedern gesetzt hat. Das ist deswegen aber kein geschlossener Zirkel. Wir haben einen intensiven Austausch mit den German Marshall Fund, wir haben einen intensiven Austausch mit der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, mit vielen anderen. Aber wir haben einfach gesagt, wir wollen keine Massenorganisation werden. Wir sind ja auch keine Organisation, die zum Beispiel im ganzen amerikanischen Schul- und Wissenschaftsbetrieb zu Hause ist. Wir vergeben keine Stipendien. Wir helfen Lehrern, Deutschland zu verstehen, und wir helfen deutschen Lehrern, Amerika zu verstehen. Das ist ein Teil unseres Programms, aber das sind wenige nur, was wir leisten können. Das Wichtigste für uns ist der Austausch unter Mitgliedern, die Amerika mögen, die in Amerika gelebt haben, die auch der Meinung sind, dass Amerika für uns wichtig bleibt und unsere Kontakte nach Amerika. Das ist alles andere als eine Geheimbündelei, was manchmal so in unwissenden Medien verbreitet wird, das ist Unfug. Es geht darum, in einer kleinen überschaubaren Gruppe von rund 500 Mitgliedern den Austausch mit Amerika zu diskutieren und zu pflegen.

    Klein: Lassen Sie uns auf das transatlantische Verhältnis schauen, Sie haben schon ein paar Stichworte aus der Geschichte genannt. Wir hatten zum Ende der Amtsjahre des Präsidenten Georg W. Bush eine Art Tiefpunkt, würde ich mal sagen, im deutsch-amerikanischen Verhältnis in den vergangenen Jahrzehnten. Ich erinnere mich, als Bush beim G8-Gipfel an der Ostsee in Heiligendamm war: Ich trug an diesem Tag, in Köln wohlgemerkt, ein T-Shirt mit der Aufschrift "Washington DC", und eine Kollegin oder ein Kollegen sagte: Das solltest Du aber besser nicht in Heiligendamm tragen, nachher wirst Du noch von Demonstranten angegriffen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, oder? Das ist komplett vorüber?

    Merz: Ja, das ist Teil der Geschichte geworden. Wobei ich glaube, wenn man ehrlich mit den Fakten umgeht: Es lag ja nicht nur an dem, was wir zu recht auch kritisiert haben, in der Amtsführung von Georg W. Bush. Es hat ja auch auf deutscher Seite im amerikanisch-deutschen Verhältnis Schwierigkeiten gegeben, ausgelöst von unserer Seite aus. Ich kann mich gut an eine Begegnung mit Georg Bush jun. erinnern. Er war im Frühjahr 2002 zu einem Staatsbesuch in Deutschland, und es gab die feste Zusage des Deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, das Thema Irakkrieg nicht zum Thema des deutschen Bundestagswahlkampfes zu machen. Mit dieser Botschaft kam er aus dem Gespräch und war sehr zufrieden damit, obwohl die beiden sich eigentlich nicht besonders gut verstanden und sich auch nicht besonders mochten. Und diese Zusage wurde nicht eingehalten. Das ist in Amerika weit über die Bush-Familie hinaus sehr, sehr aufmerksam wahrgenommen worden. Und insofern – ich glaube, dass ist jetzt Geschichte, aber es gehört zur Wahrheit dieser Geschichte dazu, dass es eben auf beiden Seiten in dieser Zeit Störungen gab. Die Obama-Administration fordert uns an anderer Stelle heraus. Wir haben jetzt den ersten amerikanischen Präsidenten, der sich selbst ausdrücklich als ersten pazifischen Präsidenten Amerikas bezeichnet, der ja auch dort geboren und groß geworden ist. Amerika wendet sich auch aus vielen guten und weniger guten Gründen dem Pazifik zu. Die Frage ist ja, welche Rolle spielen wir eigentlich als Deutsche und Europäer im transatlantischen Verhältnis noch in Zukunft.

    Klein: Sie haben ganz viele Stichworte gerade genannt, da können wir noch darauf eingehen. Ich wollte in der historischen Abfolge zunächst noch mal daran erinnern: Nach der Bush-Zeit kam die Obama-Euphorie hier in Deutschland. Wir erinnern uns alle an den Auftritt von Obama an der Siegessäule hier in Berlin, da war er noch Kandidat. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn man damals ein John McCain-Bild rausgeholt hätte. Und die Enttäuschung folgte dann bei uns Deutschen relativ schnell. Also nach sechs Monaten Amtszeit zeigte sich dann doch, das ist ein amerikanischer Präsident, der amerikanische Interessen vertritt und vielleicht nicht immer deutsche. Ist das für Sie eher ein Versagen des demokratischen US-Präsidenten Obama oder eher ein Zeichen für die Illusionsbehaftetheit der deutschen Öffentlichkeit?

    Merz: Also, ich habe diesen Auftritt damals nicht aus allernächster Nähe miterlebt, ich war hier in Berlin, ich konnte aber nicht zur Siegessäule gehen, um mir das anzusehen. Ich habe natürlich die Fernsehbilder gesehen und war eigentlich über diese Euphorie schon ein bisschen überrascht. Ich hab sie auch in diesem Umfang nie geteilt. Der Auftritt von Obama in Deutschland damals war ein rein innenpolitischer amerikanischer Wahlkampfauftritt an einem exterritorialen Punkt. Dass die Enttäuschung so groß werden würde, damit hatte ich auch nicht gerechnet, und – ehrlich gesagt – es erfüllt mich auch nicht mit Schadenfreude. Ganz im Gegenteil. Jeder muss sich eigentlich unverändert bis heute wünschen, dass ein Barack Obama Erfolg hat als amerikanischer Präsident. Wir müssen nur leider feststellen, die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, die Bush hinterlassen hat, ist nicht kleiner geworden sondern eher größer …

    Klein: … worauf führen Sie das zurück?

    Merz: Sicherlich nicht nur auf eine Ursache oder eine Person. Die amerikanische Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren verändert. Da gibt es viele soziologische Gründe, da gibt es kulturelle Gründe, da gibt es aber auch handfeste politische und ökonomische Gründe. Die Einkommensabstände sind noch größer geworden, die Aussichtslosigkeit bestimmter Regionen und Städte und Stadtteile, überhaupt Anschluss zu halten an die wirtschaftliche Entwicklung, ist größer geworden. Der Traum von der Tellerwäscherkarriere, dass jeder in Amerika, unabhängig von seiner Herkunft Karriere machen kann, wenn er nur fleißig ist und gute Ausbildung hat, ist ziemlich zerplatzt. Das ist nicht mehr das Leitbild dieser Gesellschaft. Aber es gibt natürlich auch eine ganze Reihe von politischen Gründen. Obama hat Gesetze versucht, durch die Parlamente zu bringen, die eben nicht auf Konsens ausgerichtet waren sondern auf Konflikt. Und bei unterschiedlich parteipolitisch zusammengesetzter Regierung und Senat macht es die Sache nicht leichter, sondern eher noch schwieriger.

    Klein: Wünschen Sie ihm eine zweite Amtszeit?

    Merz: Also ich persönlich selbstverständlich. Aber man stellt sich ja die Frage: Gibt es eine bessere Alternative, könnte es eine bessere Alternative geben, wäre Mitt Romney der bessere amerikanische Präsident?


    Klein: Wäre er es?

    Merz: Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Noch mal: Das entzieht sich jeder parteipolitischen Betrachtung aus unserer Sicht, das ist dann eher schon eine persönliche Einschätzung. Ich weiß nicht, ob Obama noch mal eine Chance bekommt, einen turn around zu machen auch in der Fähigkeit, die Menschen wirklich zu erreichen und die Mehrheit in Amerika hinter sich zu scharen und diesen alten amerikanischen Pioniergeist und auch die alte amerikanische Art, nach einer Wahl die Reihen zu schließen und zu sagen: Wir sind ein Volk und wir haben eine Regierung und es ist unser Präsident, egal ob wir ihn gewählt haben oder nicht – ob diese Fähigkeit noch mal entsteht. Daran muss man doch erhebliche Zweifel haben. Aber noch mal: Keiner weiß, ob es mit einem anderen Präsidenten besser würde. Der Zustand der amerikanischen Gesellschaft insgesamt ist aus meiner Sicht besorgniserregend, und da muss derjenige, der ins Amt kommt oder derjenige, der im Amt bleibt, viel dafür tun, damit dies besser wird.

    Klein: Schauen wir auf die Punkte, wo es Dissens gibt, und wo sich auch Deutsche fragen, weshalb bekommen wir gerade aktuell Ratschläge aus der amerikanischen Politik, aus einem Land, das so hoch verschuldet ist, und das wirtschaftlich nicht wirklich in der Breite auf die Beine kommt. Was fangen wir eigentlich mit diesen Vorschlägen an? Und es geht um sehr unterschiedliche Lösungsansätze mit Blick auf die Eurokrise. Wir haben es gehört von Weltbankpräsident Zoellick, wir haben es von Obama gehört, Europa muss mehr tun, muss mehr Geld in die Hand nehmen. Und im Grunde genommen steht dahinter auch schon die Aufforderung, im Zweifel doch auch mehr Schulden zu machen. Eine richtige Forderung?

    Merz: Diese Forderung wird ja nicht nur von der Politik erhoben, sondern auch von einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern und auch Kommentatoren. Wenn ich mir nur die Kommentare von Paul Krugman in der "New York Times" ansehe, dann ist das ja ein Trommelfeuer von Aufforderungen an die Europäer, jetzt endlich noch mehr in die Verschuldung zu gehen. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich sage, dass ich das persönlich nicht teile. Ich habe auch erhebliche Zweifel daran, ob die Ratschläge wirklich so ganz uneigennützig und nur gut gemeint sind.

    Klein: Die haben Angst, dass die eigene Wirtschaft von der Eurokrise in die Rezession mitgerissen wird.

    Merz: Ja, selbstverständlich. Und die europäische Wirtschaft ist insgesamt so stark, dass natürlich ein Scheitern Europas auch in Amerika deutliche Spuren hinterlassen würde. Insofern sind wir auch aufeinander angewiesen. Wir sind auch auf einen vernünftigen Dialog miteinander angewiesen. Ich teile diese Einschätzung der Amerikaner und diese Ratschläge an unsere Adresse ausdrücklich nicht. Ich gebe als Argument zurück, eine wesentliche Ursache für die Krise, in der wir uns befinden, ist die Politik des leichten Geldes der amerikanischen Zentralbank, die schon in den 80er-Jahren angefangen hat. Darüber müssten wir reden. Aber das sind Themen, die wir eben auch in der Atlantik-Brücke miteinander diskutieren. Da kann man auch völlig anderer Meinung sein.

    Klein: Und stoßen Sie da auf offene Ohren oder geht man aus dem Gespräch heraus und sagt dann, die Standpunkte bleiben bestehen?

    Merz: Nein, also: Man stellt doch immer wieder fest, dass man zumindest hinter verschlossenen Türen und dann, wenn keine Medien dabei sind und wenn man im kleineren Kreis mal wirklich solide miteinander diskutiert, sehr schnell auch zu gemeinsamen Ergebnissen und Überzeugungen kommt. Es gibt allerdings ein Unverständnis der Amerikaner, und das vollziehe ich gut nach. Amerika ist ein Land, obwohl natürlich die Unterschiede in Amerika viel größer sind, als wir das häufig aus Europa sehen. Aber trotzdem ist es ein Land. Es hat eine staatliche Gesetzgebung, die maßgeblich ist. Es ist auch ein weitestgehend einheitlicher offener Arbeitsmarkt. Das unterscheidet Amerika von Europa. Und die alte Frage von Henry Kissinger, wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen will, ist bis heute unbeantwortet. Und das zeigt eben auch, dass wir den Amerikanern immer wieder erklären müssen, dass Europa anders funktioniert als Amerika. Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Europa auf dieser Seite des Atlantiks. Sind wir nicht.

    Klein: Und sollten es auch nicht werden?

    Merz: Das ist meine persönliche Meinung, ja. Wir werden es nicht, weil wir auch da viel zu viele unterschiedliche, auch kulturelle Wurzeln haben, auch nationale Unterschiede haben wie in Amerika. Amerika ist ein melting pot of people. Die Fähigkeit zur Integration in Amerika nimmt nicht zu sondern ab, aber immer noch ist es ein Land mit einer hohen Integrationswirkung. Und jeder, der nach Amerika kommt, fast jeder, möchte Amerikaner sein und möchte wirklich im besten Sinne des Wortes auch an diesem Geist teilhaben. Das ist in Europa nicht so. Da sind wir weit davon entfernt und wir werden dorthin auch nie kommen. Insofern muss man den Amerikanern auch viel erklären.

    Klein: Wie erklären Sie den Deutschen dann – Stichwort Atlantik-Brücke –, dass ausgerechnet die USA mehr Verschuldung wünschen?

    Merz: Ich erkläre das nur aus deren Sicht heraus und aus deren Erfahrungen heraus, dass sie jedenfalls bisher immer die Kraft gehabt haben – meistens waren es demokratische Präsidenten –, Korrekturen vorzunehmen, den Arbeitsmarkt in Gang zu setzen und die Verschuldung auch irgendwann irgendwie doch wieder in den Griff zu bekommen. Ich persönlich habe mittlerweile Zweifel daran, ob das den Amerikanern jetzt wieder gelingt, weil der Arbeitsmarkt kommt nicht so in Gang wie in den früheren Jahren. Da fehlt es offensichtlich auch an einiger Dynamik, die sie früher hatten. Die haben sie in diesem Umfang nicht mehr. Im Übrigen sind sie auch durch ihre mehrfachen großen Kriegseinsätze finanziell in einer sehr, sehr schwierigen Situation. Es ist nicht nur der Arbeitsmarkt, sondern es sind eben auch die Kriegseinsätze, die sie parallel zum Teil zu finanzieren haben. Und deswegen erkläre ich das hier in Europa oder in Deutschland nur aus der amerikanischen Sicht. Ich verteidige es aber nicht, weil ich es in der Sache nicht für richtig halte.

    Klein: Und die Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt ja bis jetzt ganz entschieden Nein und steht dagegen. Kriegt sie da uneingeschränktes Lob von Ihnen?

    Merz: Vor mir persönlich: Ja, das habe ich mehrfach öffentlich auch gesagt. Ich halte es für richtig, dass die Bundesregierung diesen Kurs hat und auch bei diesem Kurs bleibt.

    Klein: Aber man nimmt doch schon wahr, dass es zumindest zeitweilig relativ einsam dann um Deutschland wurde, vielleicht nicht nur in Europa, sondern auch weltweit. Also, die Stimmen, die einen andern Ansatz gefordert haben, wurden ja zumindest zwischenzeitlich immer lauter. Und viele haben auch wahrgenommen, dass das Wort Wachstum inzwischen auch in den Statements der Bundesregierung öfter vorkommt, das heißt, dass es da einen gewissen Schwenk gibt. Also wird man nicht doch irgendwann gezwungen sein, auf Forderungen dieser Art zumindest teilweise zuzugehen?

    Merz: Ich glaube, niemand ist ernsthaft gegen Wachstum. Die Frage ist nur, woher soll es denn kommen? Und wenn wir das nun mal im deutsch-amerikanischen oder europäisch-amerikanischen Vergleich analysieren – Amerika hat durch deficit spending häufig Wachstumsimpulse ausgelöst. Europa hat damit eher schlechtere Erfahrungen gemacht. Das liegt an der sehr unterschiedlichen Dynamik ihrer Arbeitsmärkte. Amerika hat einen sehr schnell reagierenden Arbeitsmarkt, der auch sehr breit aufgestellt ist und der eben bis in die unteren Segmente des Arbeitsmarktes funktioniert. Das kann man aus europäischer Sicht gut oder schlecht finden. Es ist ein Faktum, dass der amerikanische Arbeitsmarkt eine wesentlich größere Reaktionsfähigkeit und Dynamik hat, wenn es irgendwo wirtschaftliche Chancen wieder gibt für einen Aufschwung und für Wachstum. Das ist bei uns anders und es ist innerhalb Europas, in Deutschland noch etwas anders. Wir haben eine Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft international erreicht – das ist jetzt, glaube ich, keine deutsche Hybris, sondern es ist ein Befund –, die besser ist als fast alle anderen europäischen Länder, zumindest besser ist als alle großen europäischen Länder.

    Klein: Also keine Großkorrektur derzeit an der Situation?

    Merz: Ich finde, es gibt aus deutscher Sicht gar keine Veranlassung, an der Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte eine fundamentale Kurskorrektur vorzunehmen. Wir haben das – und ich war dabei in zwei Parlamenten – für richtig gehalten, den Euro einzuführen mit einer strikten Begrenzung der öffentlichen Defizite. Dahin müssen wir zurückkehren, das ist nicht eingehalten worden. Wir haben Erfolg gehabt mit unseren Tarifvertragssystemen, mit der Tarifvertragsfreiheit, dem Lohnfindungssystem. Sollen wir die ernsthaft in Frage stellen? Ich glaube, wir sollten dabei bleiben und sollten dafür werben, dass vielleicht auch andere dies als Vorbild nehmen.

    Klein: Auf der anderen Seite sagten Sie auch gerade, die Vereinigten Staaten von Amerika wenden sich zunehmend Richtung Pazifik. Also China ist in einer ganz anderen Art und Weise präsent als Handelspartner, als Wirtschaftsmacht, auch die anderen Schwellenländer. Was soll Europa tun? Zuschauen und das hinnehmen, oder gibt es Möglichkeiten, daran etwas zu ändern? Ist es eine Entwicklung, die man eigentlich nicht verändern kann?

    Merz: Die selbe Frage bekommen wir ja in Amerika auch als Vertreter der Atlantik-Brücke gestellt: Was macht ihr eigentlich in Europa? Und unsere Antwort darauf ist: Erstens wir versuchen, so viel wie möglich an Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik gemeinsam und zusammen zu machen. Das ist enorm schwierig. Und zweitens, wir müssen dafür sorgen, dass Europa in der großen Triade zwischen Amerika, Asien und eben Europa auch in Zukunft eine Rolle spielt. Wir werden rein von der Bevölkerungsentwicklung quantitativ eine deutlich abnehmende Bedeutung haben gegenüber etwa Asien. Aber wir haben natürlich einen politischen Anspruch, und der politische Anspruch lautet: Wir teilen mit Amerika eine Wertegemeinschaft, wir teilen gemeinsame Werte, die nichts mit Wirtschaft und Finanzen zu tun haben, sondern die zunächst einmal Freiheitsrechte sind. So, wenn dann ein dritter Wettbewerber auf den Markt tritt – und das ist in diesem Falle China – mit einem enormen Potenzial, aber einer völlig anderen Vorstellung darüber, wie denn etwa Demokratie und Menschenrechte, Mehrheitswille, Minderheitenschutz und diese Dinge alle etabliert werden, dann gibt es doch mehr als nur ökonomische Gründe, mit Amerika weiter eng und vertrauensvoll und gut zusammenzuarbeiten. Aber natürlich, Sie haben mit einem völlig Recht, die ökonomischen Zwänge öffnen eher Zentrifugalkräfte in die andere Richtung. Und denen ist Amerika ausgesetzt, übrigens noch viel mehr als wir, weil China gleichzeitig der größte Gläubiger von Amerika ist. Amerika ist der größte Schuldner Chinas. Sie sind in einer fundamentalen Abhängigkeit von China, die wir Gott sei Dank in dieser Form noch nicht haben. Und sie sind natürlich auch auf die Märkte angewiesen, genau so wie wir.

    Klein: Was könnte zur Stärkung des Faktors Europa beitragen? Sie haben vorhin gesagt, die Vereinigten Staaten von Europa wird es nicht geben. Sie haben auch gesagt, wir haben damals das Schuldenverbot mit eingebracht, als es um die Einführung des Euro ging. Was aber nicht im ausreichenden Maße vorhanden war, war ja offensichtlich eine Art politisches Fundament, eine Art politischer Union. Und darum wird es ja in den kommenden Jahren vermutlich gehen. Also, wenn wir nicht die Vereinigten Staaten von Europa bekommen, wo sehen Sie Europa in drei, vier Jahren, was die engere Zusammenarbeit, vielleicht auch die Abgabe von Kompetenzen angeht?

    Merz: Wir werden genau mit diesen Fragen auch in Amerika konfrontiert, und die Antwort darauf kann nur sein: Wir müssen die Chance dieser Krise jetzt nutzen – und das ist keine politische Rhetorik, sondern das ist meine feste Überzeugung –, das nachzuholen, was uns bei der Einführung der gemeinsamen Währung nicht gelungen ist, nämlich eine politische Union. Und die Defizite in der politischen Entscheidungsfähigkeit Europas werden in dieser Krise jetzt überdeutlich. Und ich sage Ihnen ganz offen, das sind nicht drei oder vier Jahre, es sind vielleicht nur drei oder vier Monate, wo die Weichen jetzt gestellt werden müssen auf eine gemeinsame Handlungsfähigkeit, auch und gerade in der Wirtschaftspolitik, in der Arbeitsmarktpolitik, vielleicht sogar in großen Teilen der Sozialpolitik, in der Finanzpolitik ohnehin.

    Klein: Das heißt Bankenunion, heißt Fiskalunion, heißt was noch?

    Merz: Das heißt viele Dinge, die vergemeinschaftet werden müssen. Und Deutschland muss dafür auch bereit sein, einen Preis zu zahlen. Allerdings dürfen wir diesen Preis nicht ohne Bedingungen zahlen. Keine deutsche Regierung – und das ist jetzt auch keine Parteipolitik, sondern das ist ein allgemeiner Befund – keine deutsche Regierung wird es in der deutschen Bevölkerung akzeptiert sehen, dass sie ohne jede Gegenleistung die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft in Brüssel abgibt und die anderen Länder Europas dafür nichts hergeben. Souveränitätsverzicht etwa von Frankreich zu Gunsten Europas ist eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass die Deutschen, auch eine deutsche Bundesregierung bereit sein kann und muss, dafür auch Geld zu bezahlen.

    Klein: Für wie schwierig halten Sie es im Augenblick, das politisch durchzusetzen, wenn zum Beispiel aus der CSU ein ganz klares Nein kommt zur Kompetenzverlagerung nach Brüssel?

    Merz: Also, Sie werden verstehen, dass ich mich dazu auch bei dieser Gelegenheit nur sehr zurückhaltend äußere, aber meine Meinung dazu ist völlig klar. Und es ist am Ende des Tages auch eine Frage auch der politischen Führungsfähigkeit, dies durchzusetzen. Ich kann für die CDU sagen, dass sich an ihrer grundlegenden europapolitischen und transatlantischen Überzeugung nach meiner Wahrnehmung in den letzten Jahren nichts geändert hat. Die Herausforderungen sind eher noch größer geworden, und dann muss auch die Bereitschaft noch größer sein, sich mit allem Engagement in diesem Thema wirklich auch ergebnisorientiert zu verhalten.

    Klein: Und die Bundeskanzlerin hat die Kraft und die Führungsstärke, das durchzusetzen?

    Merz: Das hoffe ich und davon gehe ich auch aus.

    Klein: Herr Merz, herzlichen Dank für das Gespräch.

    Merz: Sehr gerne.

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