
"Um in den Strahlenschutzbereich reinzukommen, müssen wir zuerst durch diese Tür. Einfach die Karte an den Sensor halten."
Florian Fränkle muss eine schmale Sicherheitsschleuse passieren, öffnen lässt sie sich nur per Spezialkarte. Denn hinter der Schleuse wird mit Tritium hantiert, einer radioaktiven Wasserstoff-Sorte. Dann geht der Physiker vom Karlsruher Institut für Technologie durch einen Korridor in eine Halle. Hier steht eine lange Röhre, die durch voluminöse Tonnen und Aggregate verläuft. Ein Szenario, das vage an eine Dampflokomotive aus Edelstahl erinnert.
"Das Experiment ist über 70 Meter lang. Wir haben alles, von Hochspannung über kryogene Flüssigkeiten, supraleitende Magnete, Radioaktivität – technisch ein sehr herausforderndes Projekt."
Nachweis, wie groß die Masse eines Neutrinos ist
KATRIN, Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment, so heißt die Anlage. Mit ihr will ein 150-köpfiges Forscherteam herausfinden, welche Masse das Neutrino besitzt, das wohl geisterhafteste Elementarteilchen der Physik.
"Vor drei Jahren wurde der Physik-Nobelpreis an zwei Experimente verliehen, die zeigen konnten, dass Neutrinos eine Masse haben. Aber diese Experimente konnten nicht zeigen, wie groß die Masse ist. Mit diesem Experiment möchten wir einen Schritt weitergehen. Wir wollen wirklich sagen: Das ist die Masse eines Neutrinos."
Neutrinos kann man nicht einfach wiegen
Nur: Das Neutrino einfach auf die Waage zu legen, funktioniert nicht. Dazu ist es viel zu flüchtig. Also muss das Team einen Umweg einschlagen: Es injiziert Tritium in der Röhre von KATRIN, radioaktiven Wasserstoff. Das Tritium zerfällt, und bei jedem Zerfall entstehen ein Neutrino und ein Elektron. Das Neutrino entwischt zwar, aber indem man die Bewegungsenergie des Elektrons misst, lässt sich auf die Masse des Neutrinos schließen. So das Kalkül – doch die Messungen sind schwierig.
"Die Elektronen fliegen nicht freiwillig zu unserem Detektor. Die muss man mit Magnetfeldern in diese Richtung führen."
Dazu dienen starke, supraleitende Magnete, gekühlt mit Flüssighelium. Um die Elektronenenergie präzise genug zu bestimmen, braucht es einen gewaltigen Tank, aufgebaut in einer Nachbarhalle.
Fränkle öffnet die Tür und geht auf den riesigen, an einen Schiffsrumpf erinnernden Tank zu - 23 Meter lang, 10 Meter Durchmesser, 200 Tonnen schwer. Ihn nach Karlsruhe zu bringen, war ein Abenteuer.
"Der wurde in Deggendorf gebaut. Das ist ein kleines Städtchen in Bayern, ungefähr 400 Kilometer entfernt von Karlsruhe. Allerdings war der Tank zu groß und zu schwer, um auf dem Landweg transportiert zu werden. Deshalb hat er einen kleinen Umweg gemacht und ist einmal um Europa gefahren, um schließlich nach Karlsruhe zu gelangen."
Sechs Wochen dauerte die Schiffsreise, 9.000 Kilometer war sie weit – dann war der Koloss an seinem Platz. In seinem Inneren herrscht ein Vakuum wie auf dem Mond, nur so können die Elektronen ungehindert fliegen. Und: Der Tank lässt sich unter Hochspannung setzen, knapp 20.000 Volt. Die Hochspannung sorgt dafür, dass nur die schnellsten, energiereichsten Elektronen hinten ankommen und von einem Detektor gezählt werden. Denn nur sie sind für die Messung wichtig, nur aus ihnen lässt sich die Neutrinomasse bestimmen.

"Man muss sich das vorstellen wie den radioaktiven Zerfall als eine große Torte", sagt KIT-Physikerin Kathrin Valerius.
"Ein Stück der Torte nimmt das Neutrino weg. Und den Rest des Tortenbodens kann das Elektron aufessen. Und wir messen den Teil der Torte, den das Elektron bekommt."
Fünf Jahre warten auf das Ergebnis
Fünf Jahre dürfte es dauern, bis das Ergebnis da ist. Viele Experten rechnen zwar damit, dass KATRIN lediglich eine neue Höchstgrenze findet, wieviel das Neutrino maximal wiegen darf. Astronomische Messungen nämlich legen nahe, dass das Neutrino viel zu leicht ist für KATRINs Messempfindlichkeit. Dennoch: Ausgeschlossen ist es nicht, dass die Riesentonne aus Karlsruhe die Neutrinomasse präzise festnagelt – und zwar wenn das Geisterteilchen deutlich schwerer ist als gemeinhin angekommen.
"Das wäre tatsächlich eine große Sensation. Da müsste man hingehen und an dem kosmologischen Standardmodell noch mal ein bisschen feilen. Das wäre eine Überraschung."