Mitte der 1950er-Jahre befiel viele Einwohner des japanischen Minamata eine rätselhafte Krankheit: Es begann mit Müdigkeit, Kopf- und Gliederschmerzen. Dann traten Lähmungserscheinungen auf, die Patienten fielen ins Koma, viele starben. Die Ursache: Ein ortsansässiger Chemiekonzern hatte Quecksilberverbindungen ins Meer verklappt - und über den Fisch kam das Gift auf den Tisch. Minamata ist ein extremer Fall. Allerdings - ein wenig Minamata ist anscheinend überall:
"Der wichtigste Pfad, über den Menschen Quecksilber ausgesetzt werden, ist durch den Verzehr von Fisch, und zwar Seefisch eher als Süßwasserfisch. Wir glauben, dass durch die Aktivität des Menschen inzwischen so viel Quecksilber im Ozean ist, dass wir gute Chancen haben, uns selbst einem ungesunden Gehalt auszusetzen."
Die meisten Abschätzungen zum Quecksilbergehalt in den Ozeanen beruhen allerdings auf Modellrechnungen und nicht auf Messungen, erklärt Carl Lamborg von der Woods Hole Oceanographic Institution in Massachusetts. Deshalb haben er und sein Team an einem weltweiten Messprogramm namens "Geotraces" teilgenommen, das die Verteilung von Spurenelementen in den Meeren untersucht:
"Unsere Proben stammen aus dem Nord- und Südatlantik, dem Nord- und Südpazifik. Außerdem erhielten wir von unseren Kollegen Daten aus dem Südozean vor Tasmanien und dem Arktischen Meer. Diese Proben wurden mit sehr aufwendigen Techniken genommen, um Verunreinigungen zu vermeiden, und direkt an Bord gemessen."
60.000 Tonnen Quecksilber aus menschlichen Quellen
Quecksilber gelangte und gelangt auf vielen Wegen in die Ozeane: Vulkane an Land und im Meer setzen das Schwermetall frei, und es entweicht aus Lagerstätten. Zu solchen natürlichen Quellen kommen künstliche, etwa die Zementproduktion, die Verbrennung von Kohle oder Hausmüll oder auch die Erzgewinnung. Ist Quecksilber einmal verdampft, hält es sich über Monate in der Luft und wird rund um den Globus verteilt, ehe es auf dem Boden landet oder eben im Meer:
"Bislang gab es keine direkte Methode, um ein natürliches Quecksilberatom von einem anthropogenen zu unterscheiden. Wir haben jedoch in Bereichen der Tiefsee gemessen, die mit ziemlicher Sicherheit nicht verschmutzt sind, und dort entdeckten wir ein überraschend stabiles Verhältnis zwischen dem Gehalt an Quecksilber und dem organischer Nährstoffe wie Phosphat. Damit konnten wir in belasteten Gewässern natürliches Quecksilber vom anthropogenen unterscheiden."
Ist mehr Quecksilber im Wasser, als es der Phosphatgehalt vermuten lässt, werten die Ozeanographen das als künstliche Anreicherung. Danach hat der Mensch im Vergleich zur vorindustriellen Zeit den Quecksilbergehalt der Meere um 60- und 80.000 Tonnen erhöht:
Lamborg: "In Wassertiefen bis 100 Meter ist die Quecksilberkonzentration durch Umweltverschmutzung um bis zu 250 Prozent gestiegen. Zwischen 100 und 1000 Meter sind es bis zu 150 Prozent, und unterhalb von 1000 Meter hat sie sich nur um rund zehn Prozent erhöht. Unserer Ansicht nach befinden sich 65 Prozent der Quecksilberverschmutzung in Wassertiefen von weniger als 1000 Meter - also genau dort, wo sich auch der größte Teil des marinen Lebens abspielt."
Dabei ist die Quecksilber-Belastung nicht gleichmäßig verteilt: In tiefen Wasserschichten findet es sich nur im Nordatlantik, weil derzeit dort neues Tiefenwasser entsteht:
"Im Nordpazifik passiert das nicht. Außerdem scheint der Nordatlantik etwas stärker belastet zu sein als der Pazifik. Das liegt zum einen daran, dass der Nordatlantik kleiner ist und auch daran, dass er von Industrienationen umgeben ist. Allerdings sieht es so aus, als ob der Quecksilbergehalt im Nordatlantik durch Umweltschutzmaßnahmen sinkt, während er sich im Pazifik aufbaut, weil Länder wie China ihren Energiebedarf vor allem aus Kohlekraftwerken decken, und die sind wohl die größte Quecksilberquelle überhaupt."
Organische Verbindung macht Quecksilber verfügbar
Offen ist, was die gestiegene Quecksilberverschmutzung des Wassers für die Fische und letztendlich den Menschen bedeutet. Denn dabei kommt es auf eine giftige organische Quecksilberverbindung an. Wie die genau in den Meeren entsteht, ist nicht geklärt, nur, dass Bakterien dabei eine Rolle spielen:
"Auch diese Umsetzungsprozesse könnten durch den Menschen gestört werden, so dass vielleicht weniger giftige Quecksilberverbindungen entstehen, vielleicht auch mehr. Wir wissen es nicht. Es könnte sein, dass — wenn der Quecksilbergehalt im Oberflächenwasser um 250 Prozent steigt — die Belastung im Fisch um 600 Prozent steigen könnte oder noch stärker."
Das sei Gegenstand weiterer Forschungen. Und Carl Lamborg warnt: Reduziere die Menschheit ihre Quecksilberemissionen nicht nachhaltig, gelangte in den nächsten 50 Jahren noch einmal so viel Quecksilber in die Meere wie in den 150 Jahren seit Beginn der industriellen Revolution.