Der Grönlandhai gibt Forschern schon seit Langem Rätsel auf. Über seine Lebensweise ist nur wenig bekannt und auch über seine Lebenserwartung konnten Wissenschaftler bisher nur spekulieren. "Er kann bis zu 100 Jahre alt werden" ist beispielsweise bei Wikipedia über den Grönlandhai zu lesen. Wahrscheinlicher ist aber, dass er in diesem Alter sozusagen noch in den Kinderschuhen steckt: Julius Nielsen von der Universität von Kopenhagen in Helsingør und seine Kollegen haben ermittelt, dass Grönlandhai-Weibchen mit 100 Jahren noch nicht mal geschlechtsreif sind. Und das größte Tier, das sie untersuchten, hatte ein geradezu biblisches Alter erreicht:
"Das älteste Weibchen war schätzungsweise knapp 400 Jahre alt, wobei man allerdings auch sagen muss, dass unsere Mess-Methode eine hohe Fehlerquote hat: Sie liegt bei plus minus 120 Jahren. Damit war das Tier also mindestens 280 Jahre alt, vielleicht aber sogar 520 Jahre. Wir hatten zwar vermutet, dass Grönlandhaie sehr lange leben. Aber dass sie so alt werden, hätten wir nicht gedacht."
Geschlechtsreife erst im Alter von 150 Jahren
Die Forscher hatten insgesamt 28 Weibchen untersucht, die als Beifang in die Netze von Fischern geraten waren. Um das Alter der Tiere zu bestimmen, nutzten sie eine spezielle Radiokarbon-Methode, mit der sie den Anteil eingelagerter radioaktiver Kohlenstoff-Isotope in der Augenlinse der Haie bestimmten. Zwei der Individuen hatten eine Länge von etwa 5 Metern, pro Jahr wachsen die Tiere aber nur etwa einen Zentimeter. Aus früheren Studien wussten die Forscher, dass Weibchen erst geschlechtsreif werden, wenn sie eine Länge von etwa 4 Metern erreicht haben. Daraus schlossen Nielsen und seine Kollegen, dass sie mindestens 150 Jahre alt sind, bevor sie sich erstmals fortpflanzen:
"Viele Forscher haben sich schon gefragt, warum Grönlandhaie erst so spät geschlechtsreif werden. Ich habe zwar auch keine gute Erklärung dafür. Aber sie wurden nur Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kommerziell befischt und haben vermutlich deshalb so gut überlebt. Außerdem sieht man sie selten, weil sie vor allem in der Tiefsee leben: 1000 Meter tief oder sogar noch tiefer, bei einer Wassertemperatur zwischen minus 1 und plus 4 Grad Celsius."
Verlangsamte Stoffwechselprozesse verlängern die Lebensspanne
Bei dieser Wassertemperatur laufen Stoffwechselprozesse deutlich langsamer ab, als bei 20 Grad. Grönlandhaie fallen zudem durch ihre Gemächlichkeit auf: Zweieinhalb Kilometer pro Stunde soll die maximale Geschwindigkeit sein, die sie erreichen. Dennoch schaffen sie es, Robben zu überwältigen - allerdings nur, wenn diese schlafen. Meist ernähren sie sich aber von Kadavern, die in die Tiefsee hinabsinken, vermuten Forscher. Vielleicht hat diese besondere Lebensweise auf Sparflamme dazu geführt, dass sich der Grönlandhai als Art in arktischen Gewässern behaupten konnte, meint Aaron MacNeil vom australischen Meeresforschungsinstitut in Queensland. Er ist Haiexperte, war aber nicht an dieser Studie beteiligt:
"Ihre Strategie, ein langes Leben gepaart mit einem langsamen Metabolismus, hat ihnen vermutlich dabei geholfen, eine einzigartige ökologische Nische zu erobern. Grönlandhaie sind auch sehr groß, wenn sie auf die Welt kommen: Etwa einen halben Meter lang, was für Fische ziemlich ungewöhnlich ist. Und haben sie erst einmal eine bestimmte Größe erreicht, haben sie praktisch keine Feinde mehr."
Der Mensch hat kein Interesse an der Jagd des Grönlandhais - trotzdem sind die Tiere gefährdet
Nicht mal der Mensch hat es auf den Grönlandhai abgesehen. Sein Fleisch ist ungenießbar, übel riechend und in größeren Mengen sogar giftig: Denn die Tiefseebewohner lagern eine Verbindung in ihr Gewebe ein, die dem Ammoniak verwandt ist. Damit gleichen sie den Salzgehalt des Wassers aus und verhindern, dass die Zellen bei zu tiefen Temperaturen einfrieren. Deshalb ist der Grönlandhai als Speisefisch uninteressant - nur bei den Isländern gilt sein Fleisch, monatelang in Holzkisten fermentiert, als Delikatesse. Zum Verhängnis könnte den Tieren allerdings werden, dass sie zunehmend als Beifang in die Netze arktischer Fischer geraten, meint Aaron MacNeil:
"Die Arktis wird wärmer und die Fischer werfen ihre Netze immer weiter nördlich aus. Deshalb sind die Informationen aus dieser Studie so wichtig: Nun wissen wir, dass der Grönlandhai aufgrund seiner langen Lebensspanne und späten Geschlechtsreife eine gefährdete Art ist und dass wir ihn in Zukunft besser schützen müssen. Bevor die Fischerei noch weiter in die Arktis vordringt."
Um mehr über die Lebensweise der Grönlandhaie zu erfahren, haben Julius Nielsen und seine Kollegen nun Peilsender an lebenden Individuen befestigt. Den Weg der Tiere durch die Tiefsee nachzuverfolgen, dürfte nicht besonders schwierig sein. Schließlich sind sie nicht nur die ältesten, sondern auch die langsamsten Haie der Welt.