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Mexiko 1968
Das Massaker von Tlatelolco

1968 herrschte auch in Mexiko Aufbruchsstimmung: Man bereitete sich darauf vor, als erstes Land Lateinamerikas die Olympischen Sommerspiele auszurichten. Zugleich protestierten Studenten gegen die autoritäre Erstarrung und forderten mehr Demokratie. Der Staat setzte dem friedlichen Aufruhr ein brutales Ende.

Von Anne-Katrin Mellmann |
    Studentenunruhen in Mexiko 1968.
    Die Studentenunruhen in Mexiko 1968 wurden durch ein Massaker beendet. (EFE)
    Im Oktober 1968 brennt das Olympische Feuer in Mexiko - zum ersten Mal überhaupt in Lateinamerika. Entsprechend stolz ist das Land. Die ganze Welt schaut auf das gigantische nagelneue Olympiastadion, das in Mosaiken an die Kultur der Azteken erinnert, lässt sich beeindrucken von der Gastfreundlichkeit der Mexikaner und übersieht dabei die klaffende frische Wunde: Nur zehn Tage vor Beginn der Olympischen Spiele setzten Sicherheitskräfte der noch jungen Studentenbewegung ein brutales Ende.
    Die Olympische Flamme 1968 in Mexiko City.
    Die Olympische Flamme 1968 in Mexiko City. (imago sportfotodienst)
    Am Abend des 2. Oktober hatten etwa 8000 Menschen im Stadtteil Tlatelolco friedlich protestiert. Wie so oft in den zwei Monaten zuvor waren sie auf die Straße gegangen, forderten Meinungsfreiheit und Demokratie. Im autoritären Staat ging das Thema alle an, erinnert sich der damalige Studentenführer Gilberto Guevara Niebla:
    "Aber vor allem die Mittelschicht habe demonstriert. An den Universitäten streikten die Studenten. Guevara Niebla arbeitet heute im Hochhaus-Büro der Bildungsverwaltung und blickt von dort auf Mexiko-Stadt. Diese ruhige, konservative Stadt hatte sich damals in einen politischen Wirbelsturm verwandelt. Die Leute liefen mit Sprechchören durch die Straßen, organisierten Versammlungen. Die Studenten erfanden neue Methoden, um sich an die Menschen zu wenden. Im Kino, zum Beispiel, ging plötzlich das Licht an und die Studenten sprachen zum Publikum und das Publikum applaudierte."
    "Es war wie eine verrückte Party, wir jungen Leute waren glücklich. Die meisten waren gar nicht politisiert, sondern entdeckten sich selbst als Bürger und machten sich Wörter wie "Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit" zu Eigen. Es war ein Fest, ein Spiel, mit Erotik, Romanzen und Liebe. Eine unschuldige, spontane Bewegung - fantastisch", berichtet Guevara Niebla.
    Niemand rechnet mit einem Angriff
    Fantastisch, unschuldig. Deshalb habe niemand mit einem Angriff, wie am Abend des 2. Oktober gerechnet, erklärt Guevara Niebla. Er stand mitten in der Menschenmenge auf dem Platz von Tlatelolco, der von hohen Wohnhäusern gerahmt wird, als plötzlich Scharfschützen von den Dächern das Feuer eröffneten. Der junge Mann rannte in eines der Häuser, versteckte sich vor den Sicherheitskräften und beobachtete durch ein Fenster, was draußen geschah:
    "Es war ein Massaker: Schüsse fielen. Soldaten griffen unsere Demo an. Ich war in den 5. Stock gerannt, beugte mich aus dem Fenster und sah, wie von beiden Seiten auf den Platz geschossen wurde. Es war herzzerreißend: Frauen, Kinder, Alte, Studenten, alle unbewaffnet, brachen zusammen. Der Lärm der Waffen war ungeheuer. Keiner hatte damit gerechnet, dass eine friedliche Versammlung so grausam niedergeschlagen würde. Mit den Prinzipien einer Demokratie, Zivilisation und Ethik hatte das nicht mehr zu tun. Es war nur noch brutal."
    Mexikanische Soldaten beenden die Studentenunruhen in Mexiko 1968.
    Mexikanische Soldaten beenden die Studentenunruhen in Mexiko 1968. (EFE)
    Der junge Mann wurde verhaftet, in ein Militärgefängnis gebracht und gefoltert, während sich Mexiko auf die Olympischen Spiele vorbereitete, ganz so, als sei nichts geschehen. Dabei waren in Tlatelolco bis zu 300 Menschen ums Leben gekommen. Vor den Spielen hatte es Diskussionen darüber gegeben, ob das Entwicklungsland überhaupt in der Lage sei, die Veranstaltung auszurichten.
    Der Leistungsdruck war enorm, die Toleranz gegenüber den demonstrierenden Studenten gleich Null. Mexikanische Medien berichteten nicht über das Massaker. Nur ins Ausland gelangten einige spärliche Informationen, unter anderem durch die italienische Korrespondentin und Schriftstellerin Oriana Fallaci. Sie wurde in Tlatelolco durch Schüsse schwer verletzt, gab aber trotzdem zwei Tage später im Krankenbett ein Fernsehinterview:
    "Absolut ruhig, absolut friedlich waren die Studenten. Es gab überhaupt keinen Anlass für diese Grausamkeit. Gerade hatte das Streikkommitee die Versammlung beendet, da flog ein Hubschrauber über den Platz, bengalisches Feuer erhellte den Himmel. Das ist wie in Vietnam, sagte ich zu einem Jungen, gleich schießen sie. Die Armee hatte den Platz bereits völlig umstellt und von allen Seiten wurde auf die Menschen geschossen, sogar vom Dach der Kirche."
    Die italienische Journalistin und Autorin Oriana Fallaci, aufgenommen im Februar 1981 in Stockholm, Schweden.
    Die Journalistin und Autorin Oriana Fallaci wurde in Tlatelolco durch Schüsse schwer verletzt. (MAXPPP)
    Mit dem Massaker von Tlatelolco endete die Studentenbewegung in Mexiko. Nur einige wenige Streiks folgten noch, die Angst war zu groß geworden. Viele Eltern nahmen ihre Kinder von der Uni, schickten sie ins Ausland. Mexiko machte während der Olympischen Spiele eine gute Figur - ohne störende Studenten auf den Straßen.
    Gilberto Guevara Niebla verbrachte drei Jahre im Gefängnis und musste danach ins Exil. Die Justiz behauptete, er und andere Studenten hätten das Feuer auf die Sicherheitskräfte eröffnet. Eine Aufarbeitung oder gar Aufklärung fand nie statt. Die Regierung sah sich ganz und gar im Recht.
    Der verantwortliche Präsident Díaz Ordaz brüstete sich sogar mit seinen Taten: "Wenn ich die sechs Jahre meiner Amtszeit betrachte, macht mich 1968 besonders stolz. Es war mir erlaubt, meinem Land zu dienen und es zu retten – und eben nicht nur vom Schreibtisch aus. Ich habe alles auf die Waage gelegt: meine Ehre und meinen Platz in der Geschichte."
    Bis heute keine Entschuldigung bei den Opfern
    In Mexikos Schulbüchern tauchte das Thema Tlatelolco erst 42 Jahre später auf: Nachdem die Dauerherrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution im Jahr 2000 geendet hatte, öffnete der liberal-konservative Präsident Vicente Fox die Archive. Wichtigste Erkenntnis: Die Präsidentengarde hatte in Tlatelolco das Feuer auf die friedlichen Demonstranten eröffnet.
    Bis heute entschuldigte sich niemand bei den Opfern, eine Entschädigung gab es nicht, klagt der 73-jährige Gilberto Guevara Niebla. Die fehlende Aufarbeitung sei eine Hürde für die demokratische Entwicklung. Guevara Niebla meint: ohne Tlatelolco wäre Mexiko heute viel weiter. "Demokrat" - sei damals ein Schimpfwort gewesen und immer noch fehle es an demokratischer Kultur.
    Eine traumatisierte und verletzte Gesellschaft
    "Wir wollten immer den Dialog mit den Regierenden. Wenn es den gegeben hätte und wenigstens zwei unserer sechs Forderungen erfüllt worden wären, hätten wir den Streik abgebrochen. Es wäre ein wichtiger Schritt hin zur Demokratie gewesen. Mexiko zahlte einen hohen Preis für das Massaker und ich bin mir sicher, dass das soziale Unwohlsein von heute mit dem brutalen Schlag gegen die Mittelklasse damals zusammenhängt. Geblieben ist eine traumatisierte, verletzte Gesellschaft. Dieser Schmerz, diese Wunden wurden von den Regierenden nie behandelt."
    Mexikos Studentenbewegung war 1968 die einzige der Welt, die mit einem Massenmord endete. Das zarte Pflänzchen wurde brutal zertrampelt. In der Folge bekämpfte der Staat seine Gegner und eine linke Guerilla mit den Methoden des schmutzigen Krieges. Das Land brauchte noch Jahrzehnte, um die autoritäre Erstarrung zu überwinden.