María Antonia Márquez bestickt ein Kleid mit einem bunten Muster. Vor zehn Jahren wohnte die fünffache Mutter nur wenige Straßen von ihrer ältesten Tochter Nadia entfernt, vor den Toren von Mexiko-Stadt. Als es an einem Montagabend an der Haustür klopft, blickt Márquez in das Gesicht der Schwägerin ihrer Tochter.
"Sie sagte mir, Nadia hat Selbstmord begangen. Ich sagte, was, wie bitte? Es war ein schrecklicher Schock. Was sagst du? Wie? Ja, Nadia hat sich erhängt. Ich bin zu meinem Mann gelaufen: Raffa, irgendwas ist mit Nadia los. Wir fahren hin, gehen ins Haus, die Tür war offen. Sie war im Bad. Tot. Ich habe sie umarmt, geschrien, sie geschüttelt. Sie war tot."
María Márquez - Ende 50, kurze schwarze Locken - breitet unzählige Papiere, Fotos und Akten auf dem gläsernen Couchtisch aus. Die kleine Frau durchdringt ihr Gegenüber mit ihrem Blick, während sie erzählt. So, als erwarte sie Erklärungen für all die Ungereimtheiten der vergangenen Jahre. 24 - so alt war ihre Tochter Nadia, als sie starb. Vor den Augen ihrer drei kleinen Kinder, die später ihren Papa und dessen Bruder beschuldigen werden. Bis heute ist niemand für den Mord an Nadia verurteilt. Für einen Tod, der hätte verhindert werden können.
Nadia ist eine von Tausenden mexikanischen Frauen, die umgebracht wurden, weil sie Frauen sind. Feminicido – Feminizid heißt dieses Verbrechen - die Täter betrachten Frauen als Eigentum, Objekt, minderwertig. Die Männer verachten und hassen sie und töten nicht einfach, sondern misshandeln und quälen die Frauen und lassen die Leichen meist an öffentlichen Orten zurück. Manchmal kennen sich Opfer und Täter, genauso oft sind sie einander fremd.
Alejandra Nuños nicht-staatliche "Mexikanische Kommission zur Verteidigung der Menschenrechte" residiert in einem grünen Häuschen ohne Schild und Klingel im Süden von Mexiko-Stadt. Nuño hat schon Frauen vor dem inter-amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte verteidigt.
"Das Problem hier ist, dass es Morde an Frauen gibt, die nicht verhindert werden. Obwohl viele hätten verhindert werden können, weil sie nicht einfach so passieren - auf einmal fällt es einem Mann ein, seine Partnerin umzubringen. Bei vielen der Morde gab es schon vorher Gewalt. Und viele passieren in ganz bestimmten Regionen - ein Mord und noch einer und noch einer und noch einer."
Immer mehr ermordete Frauen in Mexiko
Der Staat müsse seine Kräfte verdoppeln, verdreifachen, um das zu verhindern, meint nicht nur Nuño. Aber er tue nicht genug. In dem Jahr, in dem Nadia starb, war sie eine von offiziell 1.180 ermordeten Frauen. Acht Jahre später waren es 2.630. Alle dreieinhalb Stunden wurde eine Frau getötet, die meisten im Bundesstaat Mexiko, Nadias Heimat. Wie viele der Morde an Frauen aus reinem Hass auf sie passieren – also Feminizide sind – ist unklar. Mexiko führt trotz mehrfacher Aufforderung internationaler Organisationen wie der UN keine Statistik darüber, warum und wie die Frauen sterben.
Doch klar ist: Die Morde sind nur die extremen Auswirkungen einer wahren Diskriminierungs- und Gewaltspirale.
- "Kleine, willst du meine Freundin sein?"
- "Baby, ich leck dir alles."
- "Baby, ich leck dir alles."
Morgens 8 Uhr in der U-Bahn von Mexiko-Stadt. Körper drängen sich aneinander. Eine Frau um die 30 zieht ihren roséfarbenen Lippenstift nach. In dem kurzen Pony der Mittfünfzigerin neben ihr hängt noch ein grüner Lockenwickler. Der U-Bahn-Wagen ist während der Rush-Hour für Frauen reserviert. Ein paar Minuten Ruhe vor Belästigungen und Begrapschen. Die Stadt bekämpft die Symptome, aber nicht die Ursache der Gewalt gegen Frauen, erklärt Alejandra Nuño.
"Die Macho-Kultur und der Begriff Macho kommen aus Mexiko, sind hier entstanden. Das heißt, es herrscht die Auffassung: Der Mann ist der Frau überlegen. Die Gewalt wird generell toleriert, weil sie als Teil der Rollen in der Familie, in der Gesellschaft gesehen wird."
Nadia ist 17 Jahre alt, will Lehrerin werden, als sie sich in Bernardo verliebt, erzählt ihre Mutter.
"Sie war ein Mädchen, das es liebte zu tanzen, die Musik bis zum Anschlag aufzudrehen, sie war laut, immer von Freundinnen umgeben. Sie hatte viele Freundinnen. So war Nadia, ja."
Keine drei Monate nachdem sie zu Bernardo zieht, tauscht Nadia ihre engen Kleider gegen weite T-Shirts. Schminkt sich nicht mehr, darf nicht mehr arbeiten. Bald hat sie überall blaue Flecken. Bernardo schlägt sie, weil er sie für nutzlos hält und nicht für eine richtige Frau; weil sie nicht weiß, wie man Wäsche im Fluss wäscht.
"Nein, Nadia, nein, haben wir gesagt. Komm zurück nach Hause. Das ist doch kein Leben. Du kennst es doch gar nicht, dass man dich so behandelt."
Das junge Paar bekommt drei Kinder. Carlos, Pepe und Fernanda. Im Suff versucht Bernardo, Nadia im Frühjahr 2003 zu erstechen. Sie flieht zu ihrer Mutter, zeigt ihn an. Doch kein Polizist, kein Gericht geht dem nach. Zwei Wochen später kehrt sie zu ihm zurück.
"Er ist gekommen und hat sie geholt. Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein. Ich war so sauer auf sie. Wie kann sie nur?"
Eines Abends - Nadia arbeitet wieder, weil Bernardo seinen Job verloren hat – holt Nadia ihre Kinder nicht bei ihrer Mutter ab. Auch in der Nacht nicht. María Márquez will ihre Tochter vermisst melden: im Zentrum für verloren gegangene und abwesende Personen, Capea.
"Ich hatte solche Angst, bin zu Capea, um die Vermisstenmeldung aufzugeben. Aber sie haben sie nicht angenommen, weil Nadia damals schon 23 war. Der Man sagte mir: Sie wird mit ihrem Freund weggelaufen sein. Ich erklärte ihm: Meine Tochter hat keinen Freund, sie hat einen Mann und drei Kinder, aber keinen Freund. Ja, hieß es, dann müssen Sie 72 Stunden warten. Also warteten wir drei Tage, aber in der Zeit habe ich sie gesucht."
Von morgens um sechs bis Mitternacht durchkämmt Márquez Krankenhäuser, klebt Handzettel, blickt in die toten Gesichter der unzähligen Frauen, die in Mexikos Leichenhallen darauf warten, gefunden zu werden. Von Capea hört Márquez nie etwas. Nach 13 Tagen ruft Nadia an, aus dem Dorf ihrer Großeltern. Bernardo hatte sie eingesperrt, ihr die Rippen gebrochen, als sie zu früh nach Hause kam und ihn erwischte: beim Sex mit seiner Nichte. Nadia zeigt Bernardo zum zweiten Mal an: wegen Körperverletzung und Entführung.
"Ich bin immer zur Staatsanwaltschaft gegangen und habe nachgefragt. Am Anfang haben sie geantwortet: Wir ermitteln. Aber irgendwann haben sie gesagt, dass sie gar nichts wissen. Dass es die Anzeige gar nicht geben würde."
Bei zwei von drei Anzeigen passiert nichts
Zwei Mal hat der Staat anstatt nachzufragen, nicht ermittelt, kein Verfahren eingeleitet und vor allem nicht bestraft. Das ist Alltag in Mexiko: Bei zwei von drei Anzeigen passiert nichts.
"Wenn er dich schlägt, liebt er dich nicht, wenn er dich anschreit und dir droht, schätzt er dich nicht ..."
Radiospots und pinke Plakate rufen Mexikos unterdrückte Frauen auf, ihre Aggressoren anzuzeigen. Die anerkannte Dunkelziffer sagt: Alle zweieinhalb Minuten wird in Mexiko eine Frau vergewaltigt. Doch nur bei einer von 10 Straftaten gehen die Opfer zu den Behörden. Mexikaner trauen ihrer Justiz nicht, Zeitverschwendung, finden sie.
Denn auch Polizisten, Staatsanwälte und Richter sind Teil der Gesellschaft, leben und verbreiten deren Frauenbild. Maria Paula Castañeda leitet Equis, eine junge NGO, die die UN berät und Frauen den Zugang zur Justiz erleichtern will.
"Wir kennen Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft die Frauen keine Anzeige erstatten lässt. Weil sie schon so viel Arbeit haben, sagen sie dann zum Beispiel. Als sei Gewalt gegen Frauen nicht so wichtig wie andere Dinge. Das heißt, ab dem allerersten Kontakt sind die Frauen mit einer systematischen Diskriminierung konfrontiert, die sich dann immer weiter zieht – wenn sie sich denn entscheiden, überhaupt weiter zu machen."
Während der Staat die schon misshandelten Frauen mit Radiospots zur Anzeige bewegen will, wendet sich Castañedas NGO an den Staatsapparat. Denn besonders auf lokaler Ebene hakt es.
"Staatsbediensteter. Wenn du nicht ordentlich antwortest und Hindernisse aufbaust, erfüllst du deine Arbeit nicht. Du generierst Straflosigkeit und zementierst Gewalt gegen Frauen."
"Es ist eigentlich lächerlich, darüber nachzudenken, aber in einigen Bundesstaaten sind Frauenrechte ein kontroverses Thema. Es ist nicht so gern gesehen, wenn du ein Richter bist, der geschlechtsspezifische Kriterien in seine Urteile einfließen lässt."
Kampf für Gleichberechtigung ist mühselig
Eine die weiß, wie sich der Kampf für Gleichberechtigung im Gericht anfühlt, ist Rebecca Pujol. Wer zu der Familienrichterin will, fährt zwischen anzugtragenden Staatsanwälten und stummen Indios bis in den 14. Stock des Oberlandesgerichts von Mexiko-Stadt.
"Ich kenne einen Richterassistenten, der sagte - entschuldigen Sie den Ausdruck: Wenn es eine Frau ist, vögeln sie sie doch. Mit anderen Worten, Schimpfworte. Vögeln sie sie, wenn es eine Frau ist. Und der Idiot, Entschuldigung, aber ich kann ihn nicht anders bezeichnen, hat es gewagt, in einem Kurs über internationale Verträge zu fragen, was wir Frauen da eigentlich alle machen. Wir sollten zu Hause sein, kochen und unsere Männer bedienen. In einem Kurs über internationales Familienrecht. Der arbeitet hier am Gericht und soll außerdem bald Richter werden."
Pujols Geschichten über frauenfeindliche Richter und Staatsanwälte sind endlos. Einige ihrer Kollegen fänden, Menschenrechte seien eine Mode, erzählt sie. Pujol fordert einen Systemwechsel.
"Es herrscht Angst vor Veränderung. Es gibt einen Widerstand gegen Veränderung - den ich auch verstehen kann - denn vielleicht hilft mir das, was ich habe, meine Fälle zu entscheiden. Aber sorge ich wirklich für Gerechtigkeit?"
Mexiko hat viel für seine Frauen erreicht in den vergangenen Jahren: Kommissionen eingerichtet, Pläne verfasst, Gesetze zum Schutz der Frauen erlassen und Feminicido als eigenständiges Delikt eingeführt – darauf steht Freiheitsentzug bis zu 60 Jahren. Auf Dutzenden Seiten lernen Ermittler, was sie tun sollen, wenn eine Frau verschwindet oder tot gefunden wird.
Doch die schönen Worte auf Papier helfen bisher wenig. Ebenso wenig, wie Kurse zur Sensibilisierung und Qualifizierung. Die Geschäftsführerin des Fraueninstituts des Staates Jalisco, Martha Villaseñor Farías, erklärt.
"Wir haben bisher gute Rückmeldungen bekommen, aber wir müssen berücksichtigen, dass die Gemeinden alle drei Jahre ihr komplettes Personal austauschen. Und die Bundesstaaten alle sechs Jahre. Das heißt, unser Institut kann alle Mitarbeiter einer Institution qualifiziert haben, aber nach drei Jahren sind alle neu und wir fangen wieder bei null an, so, als hätten wir noch niemanden geschult. Das passiert häufig."
Farías lässt durchblicken, dass ihre 40 Mitarbeiter zu wenig sind für Jaliscos 7,5 Millionen Einwohner. Dass sie um Geld für ihre Projekte kämpfen muss.
"Wir schwimmen gegen den Strom an. Wir sind viele Frauen und Männer aus den NGOs und staatlichen Institutionen, die sich den Frauenrechten verschrieben haben, aber der Apparat, gegen den wir anschwimmen, ist enorm."
Nadia kehrt auch nach ihrer Entführung und der zweiten Anzeige zu Bernardo zurück. Er macht Versprechungen. Bedroht sie. Kein halbes Jahr später hält ihre Mutter sie tot im Arm.
Und die Justiz versagt erneut. Erst nach sechs Stunden kommen die Ermittler. Sie finden Nadia, wie sie im Badezimmer kniet, Haare und Hals mit einem Seil und einem Kabel an der Decke verknotet. Sie nehmen Seil und Kabel nicht mit, nehmen keine Blutproben oder Fingerabdrücke und lassen die Haustür offen. Zwei Tage später sind alle Habseligkeiten vor dem Haus verbrannt. Nachbarn beschuldigen Bernardos Familie. Nichts passiert.
"Das Opfer hätte sich nur hinstellen müssen, um nicht erhängt zu werden."
Schreibt der Gutachter. Fazit: Selbstmord. Obwohl Nadias Kinder ihren Vater und Onkel Matute eindeutig beschuldigen. Fünf Jahre später, niemand weiß wieso, stellt Matute sich.
"Er hat sich gestellt, aber weil er sich nicht ausweisen konnte, haben sie gesagt: Lieber Herr, wir können sie nicht festnehmen. Gehen sie wieder. Nach zwei Wochen ist er noch mal hin und hatte seinen Ausweis dabei."
Schließlich wird Matute zu 42 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. In der Berufung wird er freigesprochen – von denselben Richtern. Sie kehren zur Selbstmordthese zurück. Zahlreiche Staatsbedienstete hatten sich in Briefen für Matute engagiert.
Täter entgehen der Justiz durch Korruption
Die Familie der Männer ist politisch aktiv. Vieles spricht für Korruption. Márquez fischt das Foto eines der Anwälte aus ihren Papieren. Sie hat es auf Facebook gefunden.
"Guck, mit wem er auf dem Foto ist. Das ist Mexikos Präsident. Herr Peña Nieto."
Richterin Pujol sagt, in Mexiko müsse man dafür kämpfen, dass Recht und Gesetz auch angewandt würden.
"Man kann sagen, es ist ein Land, in dem alles möglich ist. Wir müssen es zugeben und selbstkritisch sein. Es gibt viel Korruption. Es zu leugnen, hieße, das Problem nicht einzugestehen. Und dann könnten wir es nicht lösen. Wir sind von Korruption durchdrungen. Nicht nur in meiner, in allen Institutionen ist die Korruption fest verankert. Es gibt ein mexikanisches Sprichwort: "El que no transa, no avanza." "Wer keine Geschäfte macht, kommt nicht voran." Das wird als ganz normal betrachtet. Was außergewöhnlich sein sollte, ist alltäglich, normal – wie die Gewalt.
Anwälte bieten Pujol Geld, fragen, warum sie nicht mehr verdienen wolle, wie all die anderen. Menschen erhalten Posten, für die sie nicht qualifiziert sind.
"Es braucht politischen Willen, das zu beenden. Deswegen sage ich: Bis wohin müsste man aufräumen?"
Eine halbe Stunde dauert die Fahrt zu dem Haus, in dem Nadia starb. María Márquez und ihre Familie sind vor Kurzem umgezogen, damit Bernardos Verwandte sie nicht mehr bedrohen können. Ein Mann auf einem weißen Motorroller kommt ihr und ihrer Tochter entgegen.
"Er ist nur vorbeigefahren, sonst nichts. Er wohnt hier."
Viviana muss lachen, als der Mann an ihr vorbeifährt, der wegen Mordes an ihrer Schwester erst verurteilt und dann freigesprochen wurde.
Die Fenster der grünen Hütte sind mit Holzlatten vernagelt. Drum herum wächst meterhoch trockenes Gestrüpp. Márquez wird still. Doch was hier passiert ist, erzählt sie so oft sie kann. Auf Kongressen, vor Menschenrechtlern und Journalisten.
"Darum geht es doch. Dass es kein sinnloser Tod war. Dass er anderen Frauen die Augen öffnet."
Márquez hofft, dass ihre Enkelsöhne, die sie seit zehn Jahren großzieht, gute Männer werden. Nicht wie ihr Vater Bernardo, der mittlerweile in Haft ist. Vor zwei Jahren wurde er festgenommen. Versteckt im Haus seiner Eltern, eine 13-Jährige in seiner Gewalt. Verurteilt ist er nicht.
"Ich bitte Gott um Gerechtigkeit für meine Tochter. Gerechtigkeit für meine Enkel und sie. Denn meine Tochter zu verlieren, war ein ungeheurer Schmerz. Es tut so weh, sie nicht mehr zu haben. Ich vermisse sie immer noch. Sie fehlt mir sehr."
Internationale Gerichte haben dem Staat Mexiko bescheinigt, das Leben seiner Bürgerinnen nicht zu schützen, die Täter nicht zu bestrafen und die Opfer und ihre Familien zu diskriminieren.
Die Türen seien heute offener, das Problem sichtbarer als vor zehn Jahren, meinen die Vorkämpfer der Frauenrechte. Aber Machismo, unfähige Justiz und ein korrupter Staat sind starke Gegner: Gerechtigkeit hat da keinen Platz. Stattdessen gibt es nur Opfer, die immer wieder zu Opfern werden.