Man hat es nicht so leicht als Küchen-Enthusiast, als Connaisseur auf der Suche nach Restaurants, die sowohl urig sind – als auch delikat. Gemütlich – als auch kulinarisch auf höchstem Niveau. Laut und feucht-fröhlich – und dennoch mit raffiniertesten Speisen. Selten, dass man eine solche Wundermischung trifft, und erst recht selten in den gentrifizierten Großstädten, die von Chichi-Restaurants nur so strotzen.
In der 30-Millionenstadt Mexiko City ist das nicht anders, denn inzwischen ist die Metropole überrannt von japanischen, russischen und mitteleuropäischen Touristen und zu weiten Teilen gentrifiziert. Und doch haben wir bei einem Rundgang ein bemerkenswertes Lokal gefunden, in Coyoacán, dem kleinen eingemeindeten Dörfchen im Süden des Molochs – da, wo Frida Kahlo wohnte und der russische Revolutionär Leo Trotzki ermordet wurde. In der Nähe des beschaulichen Dorfplatzes mit seinen Drehorgelspielern, den Maiskolbenverkäufern und Gauklern existiert seit gut 16 Monaten ein Restaurant, das sich ein besonderes Vorhaben auf die Flagge schreibt: Es tischt die "authentisch-mexikanische" Küche auf. Doch die "authentisch-mexikanische" Küche – was ist das eigentlich?
Tacos mit Schmetterlingslarven
"Also, unsere Karte umfasst Gerichte, die die prähispanischen Indianer gegessen haben. Wir haben Tacos mit Heuschrecken, Tacos mit Schmetterlingslarven, Tacos mit Ameisenlarven, Tacos mit Wanzen..."
Tacos mit L-a-r-v-e-n und W-a-n-z-e-n – so die schöne, adrette Bedienung....? Da müssen wir nachfragen, beim 55-jährigen Besitzer, Chefkoch und Gourmet Alejandro Escalante, ein bärbeißiger Mann mit Glatze, herzhaftem Lachen, umschatteten Triefaugen und wilden Zähnen, war zwanzig Jahre lang Restaurantkritiker der Zeitung "Reforma", hat die Welt bereist und schreibt kulinarische Bestseller. Und hier – im Restaurant "La Casa de los Tacos" – hat er sich einen Traum verwirklicht: Er tischt das auf, was früher eines der Hauptnahrungsmittel der Azteken war: Insekten. Erfunden und aus der Taufe gehoben hat er dieses Konzept allerdings nicht:
"Das erste Restaurant mit indianischer Insekten-Küche, das es in Mexiko gab, war damals das "Don Chon" in den achtziger Jahren. Es war ein faszinierender Laden, voller Genießer und Gastro-Interessierter, in der Nähe des verrufenen Merced-Markts. Es war die Zeit, als auch die Sushi-Mode nach Mexiko herüberschwappte – mit dieser völlig verrückten Idee, rohen Fisch zu essen! Da wurde das Essen – so erschien es uns damals – zu einer Art Mutprobe, und das inspirierte auch wieder unsere eigenen Köche! Daher griff man im "Don Chon" auf indianische Gerichte zurück, auf Leguan, Gürteltier, Schlange und Fliegeneier. Damals machten wir auch unsere ersten Erfahrungen mit dem Agavenwein Pulque, und den typischen Pulque-Ausschänken, wo man zum Humpen Alkohol automatisch frittierte Heuschreckenbekam. Diese Pulque-Ausschänke waren sehr heruntergekommen und billig, aber auch sehr gemütlich, und heute kosten dieselben Heuschrecken ein Vermögen. Aber so ist das ja immer in der Gastronomie: Volkstümliche Gerichte gentrifizieren irgendwann."
"Heuschrecken besitzen völlig unterschiedliche Geschmacksnoten"
Eröffnet hat Alejandro die "Casa de los Tacos" eigentlich als ganz normales Tacos-Restaurant, mit stinknormalen Gerichten – es gab Tacos mit Rindfleisch, Tacos mit Käse, Tacos mit Gemüse –, bis zu dem Tag, an dem Alejandro ausnahmsweise auch frittierte Heuschrecken mit auf die Speisekarte dazu nahm. Die Gäste jedenfalls rissen ihm das Gericht fast aus den Händen:
"Heuschrecken sind die Avantgarde der Insektenküche. Es handelt sich um sehr fröhliche, schöne, gefällige Tiere. Natürlich sind sie eine Plage – sie fressen den Bauern ja den Kopfsalat, den Hafer und den Mais weg, deswegen werden sie seit Urzeiten gejagt. Heuschrecken besitzen völlig unterschiedliche Geschmacksnoten, je nachdem von welchen Pflanzen sie sich ernähren. In den kargen Berg-Gegenden schmecken sie beispielsweise viel bitterer. Unsere Heuschrecken beziehe ich von einem Landwirt in Tlaxcala, in der Nähe der Vulkane. Man fängt die Heuschrecken, indem man zu Mehreren ein Plastiknetz durch die Maispflanzung zieht. Dann springen die Heuschrecken hoch und verheddern sich im Netz."
Die Heuschrecken serviert Alejandro Escalante frittiert in Öl, Limonensaft und Knoblauch. Dann werden sie in einen gebackenen Taco-Fladen gegeben, wobei Alejandro mehrere Soßen reicht, eine mit Tamarinde-Schoten, eine mit gegrillten Habanero-Chili, und eine mit Mango. Die Heuschrecken fanden also so großen Absatz, dass Alejandro bald auch andere Insekten in seine Speisekarte inkorporierte:
In Butter angebratene Ameisenlarven
"Durch meinen Kontaktmann in Tlaxcala habe ich auch andere indianische Landwirte kennengelernt, und die belieferten mich mit Ameisenlarven, Schmetterlingslarven und weißen Magueywürmern. Ameisenlarven beispielsweise sind sehr schwierig zu ernten. Diese mexikanische Ameisen-Art baut ihre Höhlen nur in einem bestimmten Habitat, es muss Pinien geben und eine spezielle Art von Milben. Die Bauern wissen, wo die Höhlen versteckt sind, aber sie graben lediglich einen Teil der Larven aus. Denn die Ameisen sind nicht dumm! Wenn sie merken, dass man ihre Gruben ausplündert, ziehen sie woanders hin. Also nehmen die klugen Bauern nur einen Teil der Larven, damit die Ameise nicht weg zieht. Der Aushub ist eine regelrechte Schlacht, denn man muss mit der Hand in die Höhlen greifen, und die Ameisen verteidigen ihre Nachkommenschaft bis auf den Tod, also braucht man Spezialhandschuhe."
In Butter angebraten, werden die Ameisenlarven gemeinsam mit Zwiebeln, grünen Chili und dem Gewürz Drüsengänsefuß ebenfalls in einem Taco serviert. Das Gericht ist in den indianischen DörfernTlaxcalas und Hidalgos Tradition.Und wie sieht es mit den anderen fremdartigen Delikatessen aus?
Stinkwanzen werden lebend gegessen
"Dann gibt es da noch die Stinkwanzen, die lebend gegessen werden, die "hormigas chicatanas", die fliegenden Ameisen, und die Skorpione, die "alacránes". Die fliegenden Ameisen benutzen wir für eine Soße – eine sehr dunkle, rote, komplexe Soße, mit tiefroten Chili und Knoblauch. Die Stinkwanzen dagegen fungieren als Hauptgericht. Es sind sehr große, spektakuläre Insekten, sie haben einen gemüse-artigen Geschmack nach comalchile, und wir reichen sie mit Guacamole. Und die Skorpione, die haben wir früher paniert zubereitet. Aber die Gäste möchten das Insekt lieber sehen, also braten wir es seitdem an – und es schmeckt köstlich. Den Stechdorn ziehen wir natürlich raus, weil niemand möchte so einen Dorn im Mund haben."
Ja, die präkolumbianischen Indianer. Sie kannten weder Schweine noch Rinder noch Schafe noch Pferde noch Esel – das alles brachten erst die Spanier nach Amerika, deswegen mussten sie ihren Bedarf an tierischen Proteinen durch Insekten decken – oder durch Wild, Truthahn, Hund, Krokodil und Leguan. Das alles gibt es in der "Casa de los Tacos" ebenfalls. Und ein besonderes Augenmerk legt Alejandro dabei auf den Mais und die Qualität der verschiedenen Mais-Küchelchen und Mais-Fladen. Eine eigene Köchin ist ausschließlich dafür zuständig, unablässig Maisfladen zu backen, zu pressen und zu kneten - eine Kunst für sich.
Maisfladen mit langer Geschichte
"Das hier sind Küchelchen mit Schweinegrieben, Küchelchen mit Rindermark, Küchelchen mit Paprikawurst, Fladen aus blauem Maismehl, Fladen aus gelbem Maismehl." Und Alejandro erläutert: "Maisfladen reichen mindestens zurück bis 700 vor Christus, bis zur klassischen Periode der mesoamerikanischen Kulturen wie z.B. Teotihuacán. Denn das ist die heilige Dreifaltigkeit: Der Maisfladen, die Einlage, und die Soße! Und es ist doch eine phantastische Sache, dass sich in der mexikanischen Küche eine Tradition aufrechterhalten hat, die so uralt ist."
Nun, Mut braucht man also sehr wohl ein bisschen, um in die "Casa de los Tacos" zu gehen. Und wer über den nicht verfügt, der kann es auch einfach bei einem Tacos mit Rindfleisch oder Gemüse belassen!