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MH17-Absturz
"Eine weitere Drehung der Spirale"

Moskau gerate nach dem MH17-Absturz unter bisher nicht vorstellbaren Druck, sagte der Sicherheitsexperte Karl-Heinz Kamp im DLF. Er erwarte weitere Sanktionen, aber keine Blauhelme.

Karl-Heinz Kamp im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Hinter Trümmern tragen zwei ukrainische Arbeiter eine Bahre, auf der ein abgedecktes Todesopfer liegt.
    Ukrainische Arbeiter tragen die Leiche eines Absturzopfers vom Unglücksort weg. (picture alliance / dpa / Igor Kovalenko)
    Die Idee eines UNO-Einsatzes hält der Direktor Weiterentwicklung der Bundesakademie für Sicherheitspolitik für "sehr weit hergeholt". Er könne sich nicht vorstellen, mit welchem Mandat die Blauhelmsoldaten ausgestattet sein sollten. Stattdessen sei mit weiteren Sanktionen gegen Russland zu rechnen, so Kamp. Das "Level der Geschlossenheit" unter den Bündnispartnern sei bislang sehr hoch gewesen - was Moskau auch überrascht habe.
    Nun sei mit dem mutmaßlichen Abschuss der MH17 über der Ostukraine eine "weitere Drehung der Spirale" im Konflikt mit Russland erfolgt. "Im Moment gerät Moskau unter einen Druck, den man sich vorher nicht so hat vorstellen können", so Kamp.

    Das Gespräch in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Bekommen Luftfahrtexperten ungehinderten Zugang zur Absturzstelle von Flug MH17 in der Ostukraine? Bisher jedenfalls behinderten schwer bewaffnete prorussische Separatisten deren Arbeit. Selbst die Beobachter der OSZE konnten sich nach eigenen Angaben nicht frei bewegen. Der Westen verliert allmählich die Geduld und droht Moskau, allen voran die USA, die eindeutige Hinweise auf einen Abschuss durch eine Boden-Luft-Rakete sehen, abgefeuert von den Separatisten.
    Der Druck auf Moskau nimmt also zu. Weitere Sanktionen sind im Gespräch. Doch Russlands Präsident Wladimir Putin weist jede Kritik an sich und dem Kreml zurück. Mitten in der Nacht sah er sich offenbar genötigt, eine Videobotschaft zu veröffentlichen. Am Telefon begrüße ich Karl-Heinz Kamp von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, die ressortübergreifend die Bundesregierung und deren Mitarbeiter in Sicherheitsfragen ausbildet. Guten Tag, Herr Kamp!
    Karl-Heinz Kamp: Einen schönen Guten Tag aus Berlin!
    Dobovisek: US-Präsident Barack Obama und Außenminister John Kerry sprechen von einem „Weckruf für Europa". Wird Deutschland diesen Weckruf erhören?
    Kamp: Der Weckruf ist ja lange erfolgt. Mit der Annexion der Krim hat man ja eigentlich für die EU und für die NATO erstaunlich geschlossen gehandelt. Dass man nicht immer mit einer Stimme sprechen kann, liegt einfach daran, dass unterschiedliche Länder in der EU und in der NATO einfach unterschiedlich Dinge wahrnehmen. Das kommt darauf an, wie nah man am Osten dran ist, das kommt darauf an, wie sehr man von eigenen Wirtschaftssanktionen betroffen wäre. Aber das hat sich mit Sicherheit vorher schon geändert, und nun ist natürlich durch den Abschuss des Flugzeuges sozusagen eine weitere Drehung der Spirale erfolgt.
    "Das Level der Geschlossenheit sehr hoch"
    Dobovisek: Aber das kleine Wort „eigentlich" schränkt doch die geschlossene Haltung der NATO und Europas erheblich ein. Ansonsten würden ja auch die USA ihre Erwartungshaltung gar nicht so hochschrauben, wie sie es jetzt tun.
    Kamp: Schauen Sie, es ist so, dass Sie nie eine komplett einförmige Haltung in der NATO oder in der EU haben werden, eigentlich bei nirgendetwas. Aber wenn man das vergleicht mit den Diskussionen, die wir hatten um die Irak-Krise, oder um die Libyen-Krise, ist das Level der Geschlossenheit sehr hoch, und ich glaube, dass gerade das ein Punkt ist, den Russland sehr unterschätzt hat, dass man eigentlich glaubte, man könnte wesentlich mehr Spaltpilze anlegen. Insofern hat es ja bereits Sanktionen gegeben, es hat eine Vielzahl von Reaktionen gegeben, die Russland auch sehr weh tun, und es wird immer eine Konsensfrage sein, wie viel man jetzt mehr machen kann. Ich glaube, dass da natürlich der Abschuss ein weiterer wirklicher qualitativer Sprung ist.
    "Auch immer sehr viel Pulverdampf dabei"
    Dobovisek: Die USA haben klare Erwartungen an ihre Partner in Europa geäußert: schärfere Wirtschaftssanktionen, viel schärfere Sanktionen gegen Russland, Alternativen zum russischen Gas und eine Unterstützung Kiews zum Beispiel mit Ausbildung und Ausrüstung der ukrainischen Armee. Wäre es denkbar, dass Europa, dass Deutschland nach dem Abschuss von MH17 an diesen Punkten mitzieht?
    Kamp: Jetzt muss man vorher genau überlegen, was man eigentlich macht. Ausrüstung der Armee - da ist ja das große Problem, dass Sie gar nicht genau wissen, wen Sie da eigentlich ausrüsten, und Sie wissen auch nie genau, wohin das Material dann käme, was Sie dort an irgendwelche Leute liefern. Zweitens haben ja auch die USA am Anfang immer sehr stark Dinge gefordert, selber aber jetzt im Bereich des Militärischen so viel gar nicht machen können und auch gar nicht machen wollen.
    Insofern ist da auch immer sehr viel Pulverdampf dabei, zumal natürlich gerade an der Propagandafront ja auch von beiden Seiten, sowohl in der Ukraine als auch Russland, mit sehr harten Bandagen gekämpft wird. Aber ich glaube in der Tat, dass im Moment durch diese Flugzeugkatastrophe Moskau unter einen Druck gerät, den man sich vorher nicht so hat vorstellen können, und ich glaube, dass Putin erkannt hat, dass die ganze Sache, und zwar beginnend mit der Krim, eigentlich von Anfang an keine besonders gute Idee war.
    "Natürlich auch in der deutschen Politik eine Veränderung"
    Dobovisek: Morgen treffen sich die Außenminister der Europäischen Union. Müssen nach dem Abschuss des Fluges MH17 weitere Sanktionen gegen Russland erfolgen?
    Kamp: Ich denke, dass es weitere Sanktionen geben wird, die man sehr, sehr schrittweise wird anlegen wollen. Sie haben das große Problem, für ein Land wie, sagen wir, Italien oder Frankreich, die selber immense wirtschaftliche Probleme haben, stellt sich die Frage von Sanktionen anders dar als beispielsweise für die Bundesrepublik.
    Dobovisek: Warum war denn dann gerade Deutschland immer so zurückhaltend bei Sanktionen?
    Kamp: Weil Sie auch gegenüber Russland eine jeweils andere Tradition in den Ländern haben. Da ist wahrscheinlich USA immer etwas hemdsärmeliger als ein Land, das zu Russland bisher sehr gute Beziehungen hatte und dadurch auch sehr viel Einfluss auf Russland hatte. Aber Sie merken natürlich auch in der deutschen Politik eine Veränderung. Wenn Sie sich die Politik des Kanzleramts anschauen, oder des Auswärtigen Amts vor einem Jahr und die Politik heute, dann merkt man da schon eine Veränderung.
    Dobovisek: War die Veränderung gut?
    Kamp: Ich glaube, dass sie notwendig war, dass es einfach mehr Realismus gibt in der Einschätzung. Wenn Sie überlegen, dass wir vor einem halben Jahr noch die Debatte hatten über die sogenannten Russland-Versteher und die sogenannten Russland-Fresser oder Russland-Falken. Diese Diskussion gibt es eigentlich nicht mehr. Da gibt es noch einige Versprengte auf der äußersten Linken oder einige der üblichen Talkshow-Besucher, aber im Prinzip, glaube ich, hat sich schon ein hohes Maß an Realismus durchgesetzt, wobei man auch erkennt, das Verurteilen alleine ist ja noch keine Politik und ist auch noch keine Strategie.
    "Wenn man sie Friedenstruppe nennt, dann muss es ja erst mal einen Frieden geben"
    Dobovisek: Sprechen wir über Blauhelme, über eine mögliche Mission der UN-Friedenstruppen in der Ukraine, eine Forderung unter anderem der Union, die am Wochenende durch das politische Berlin geisterte. Ist das eine realistische Vorstellung, dass UN-Blauhelm-Soldaten am Ende zum Beispiel die Grenze zwischen Russland und der Ukraine überwachen?
    Kamp: Das kann ich mir nur sehr schwer vorstellen, weil ja Blauhelm-Soldaten immer per Definition sozusagen eine ... Wenn man sie Friedenstruppe nennt, dann muss es ja erst mal einen Frieden geben, den man da wahren kann. Und es muss natürlich mit Zustimmung aller Beteiligter geschehen. Ich glaube, das ist etwas, was ich mir im Moment nicht vorstellen kann. Ich glaube, dass man in der Ukraine eine ganze Reihe von anderen Dingen braucht als UN-Friedenstruppen, wo ich mir auch nicht so recht vorstellen kann, mit welchem Mandat die ausgestattet sein sollen, weil für eine solche Mission müssten ja auch die zentralen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zustimmen. Das halte ich für etwas sehr weit hergeholt.
    Dobovisek: Welche Reihe von Dingen, die Sie erwähnen, bräuchte denn die Ukraine?
    Kamp: Wir haben ja ein großes Problem, dass wir so tun, als wäre sozusagen mit der Aufklärung der Flugzeugkatastrophe, oder mit der Beendigung der Aufständischen in der Ostukraine das ganze Problem gelöst. Aber wir haben ja nach wie vor einen Teil der Ukraine, der von von Russland unterstützten Truppen besetzt ist, eben die Krim. Das wird ein permanenter Pfahl im Fleische sein. Mit dieser Annexion hat sich ja auch die Ukraine noch nicht abgefunden. Insofern wird uns die Krise als solches noch für sehr, sehr lange Zeit erhalten bleiben. Von ganz praktischen Fragen wie zum Beispiel, wer leitet eigentlich Strom, Wasser und Gas in die Krim und wie lange macht man das noch, von solch ganz praktischen Fragen mal ganz abgesehen.
    Dobovisek: Muss dann die Europäische Union nicht einsehen, dass die Krim im Grunde verloren ist und dass wir über ganz andere Dinge sprechen müssen, nämlich vordergründig über die Ostukraine?
    Kamp: Ja. Aber die Frage ist ja, was heißt das denn, die Krim ist verloren? Für wen und wird sich die Regierung in Kiew damit abfinden? Und wie gesagt, eine ganz praktische Frage: Die Krim hat keine eigene Wasserversorgung und sie hat auch keine eigene Stromversorgung. Der wird im Moment immer noch vom ukrainischen Festland dort hingeliefert, oder über die ukrainische Landverbindung. Wie das in Zukunft weitergehen soll, das weiß ich gar nicht. Nur zu sagen, wir finden uns damit ab, das hilft uns konkret auch nicht weiter.
    Dobovisek: Karl-Heinz Kamp von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik über die Lage in der Ukraine und die Rolle Europas. Ich danke Ihnen, Herr Kamp.
    Kamp: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.