Mit nur neun und elf Jahren sind die Geschwister Ada und Evered Vollwaisen. Was genau die Eltern und die neugeborene Schwester Martha in den letzten Wintermonaten dahingerafft hat, erfahren wir nicht. Michael Crummeys Geschichte setzt vielmehr mit den kurz hintereinander abfolgenden Bestattungen der drei ein. Wie die Hauptfiguren werden dabei auch wir als Leser der harten Realität des Lebens an der Küste einfach ausgesetzt. Die vier kargen Küstenkilometer ihrer Bucht sind alles, was die beiden Geschwister vom Universum kennen. Nach der Beerdigung vertauschen sie die Kleider der Toten kurzerhand gegen ihre eigenen Lumpen. Zeit zum Trauern bleibt ihnen nicht. Ada und Evered führen das harte Leben ihrer Eltern intuitiv weiter:
"Jeden Abend vor dem Einschlafen spekulierten Ada und er darüber, wann wohl die Robben dicht genug ans Ufer kämen, um sie zu erlegen, wie das frische Fleisch schmecken würde und wofür ein Robbenfell nützlich sein könnte. Diese Gespräche verwiesen letztlich auf die Fortdauer des Lebens – auf eine Welt, die weiterging wie bisher, obwohl ihre Eltern und die Schwester nicht mehr darin weilten."
Crummeys allwissender Erzähler verschmilzt dabei stets unser Wissen von der Welt mit dem sich stetig erweiternden Horizont der beiden Geschwister. Aus ihren Augen sehen wir die Bucht, während der Erzähler manches zu benennen und erklären weiß, was den beiden Hauptfiguren selbstverständlich, aber namenlos ist, etwa der Laib Käse, der eines Tages von einem Schiffswrack angespült wird, und der köstlich schmeckt.
Die tote Schwester als Begleiterin
Das Leben mit den Elementen gibt dem Alltag der Geschwister sowie Crummeys behutsamer Erzählung den Rhythmus vor. Im Frühjahr, wenn der Kabeljau an die Küste kommt, fährt Evered täglich in einem kleinen Boot raus und holt Netze ein. Im Spätsommer, wenn der Fisch eingesalzen im Verschlag lagert, sammelt Ada im Wald Beeren und bewirtschaftet den kleinen Acker. Neben dem liegt das Grab der kleinen Schwester. Während die Erinnerung an die Eltern verblasst, gehört Martha wie selbstverständlichen zum Alltag der Geschwister:
"War Ada allein in der Hütte oder wachte mitten in der Nacht auf, spürte sie die stets gleichbleibend ruhige Aufmerksamkeit ihrer Schwester. Dass das Kleinkind einen gewissen Einfluss im Walten des Universums besaß, wie ihre Mutter behauptet hatte, schien Ada allerdings ein schwacher Ausgleich für ihr Schicksal zu sein."
Ein Schiff namens Hoffnung
Unterbrochen wird diese Eintönigkeit durch ein Schiff namens Hope. Es ist die sprichwörtliche Hoffnung, die im Namen jenes alten Schoners steckt, der zweimal im Jahr in der Bucht vor Anker geht und die beiden Kinder im Tausch gegen Fisch mit dem Allernötigsten versorgt. In seiner beinahe klaustrophobischen Enge erinnert das Setting dieses Romans an die Theaterstücke Samuel Becketts. Der Autor selbst verweist auf die Bibel:
"Wenn man sich die beiden als Adam und Eva vorstellt, dann wird die Bucht, in der sie leben, natürlich nicht im Entferntesten dem Garten Eden gerecht. Dennoch werden sie mit einer winzigen Portion von Wissen hineingeworfen in diesen Ort, der dann ihre gesamte Welt ist. Sie müssen aus sich selbst heraus wissend werden und den Veränderungen standhalten, die über sie hereinbrechen, während sie sich aus der Kindheit in die Adoleszenz bewegen. Später trifft die Schlange in ganz verschiedenen Gestalten ein. Das Eden, aus dem sie durch neues Wissen schließlich vertrieben werden, ist für mich die Nähe, die zwischen ihnen als Bruder und Schwester herrscht, und ihre enge Verbindung zueinander."
Mit jedem Schiff, das vor Anker geht, erweitert sich der Horizont der Kinder. Die Begegnung mit den Seeleuten der Hope und dem unvermeidlichen Rum eröffnet Evered ein Tor zu einer Welt, die er sonst nur aus den Erzählungen des Vaters kannte.
Der monatliche Besucher
Zugleich gerät aber auch das heikel ausgeglichene Ökosystem ihres gemeinsamen Lebens durcheinander. Ada macht mit dem monatlichen Besucher Bekanntschaft, von dem ihr die Mutter noch auf dem Sterbebett erzählt hatte. Evered bleibt im öfter alleine im Wald mit einer neuen Art von Zeitvertreib. Mit dem Erwachen ihrer Sexualität stellt sich bei den Teenagern die Frage, wie tief die Verbindung zwischen Schwester und Bruder eigentlich sein darf. Dieser heiklen Frage hat sich Crummey selbst im Schreibprozess lange entzogen:
"Dieser Roman beruht auf einer wahren Geschichte: Auf dem Bericht eines Geistlichen, der durch Neufundland gereist ist, und der im Lauf seiner Reise zwei Waisen begegnet ist. Sie waren Bruder und Schwester, die alleine in einer winzigen Bucht gelebt hatten. Der Geistliche hat schnell gemerkt, dass die Schwester schwanger war, und dass nur der Bruder der Vater sein konnte.
Ich wusste sofort, dass da eine Geschichte zu erzählen ist. Ich habe dann Jahre damit verbracht, diese zu ignorieren. Das hatte etwas Furchteinflößendes: Denn wenn ich diese Geschichte erzählen will, muss ich so tun, als wüsste ich Bescheid. Deshalb spielt auch das Erzählen von Geschichten so eine große Rolle im Roman. Ich wollte die Diskrepanz aufzeigen zwischen meiner eigenen Erzählung und der ursprünglichen Geschichte der Teenager, die ich hier auf eine Art ausbeute oder ausnutze."
Mit dem aus Unschuld und Unwissen geborenen Inzest versetzt Crummey seine Leser in eine ausgesprochen konfliktreiche Lage. Denn einerseits fiebert man mit den Protagonisten mit und hofft auf ein gutes Ende der zentralen Liebesgeschichte.
Die tröstliche Welt der Dinge
Andererseits weiß man natürlich, dass genau das nicht sein darf. In der differenzierten Ausleuchtung dieser komplizierten Lage zeigt sich auch Crummeys literarisches Feingefühl. Denn nur die äußerste Zurückhaltung seines Erzählers erlaubt es hier, das Für-und-Wider dieser Positionen ohne Urteil in der Schwebe zu halten. Durch Ahnung und Intuition holen im Lauf der Handlung schließlich auch die Geschwister unseren Wissensvorsprung ein. Die Dingwelt spielt dabei eine wichtige Rolle
"Ada begutachtete ihre Sammlung auf dem Regalbord und sortierte Muscheln, Steine und Federn aus, die inzwischen ihren Glanz verloren hatten; Gegenstände, die einmal einen Hauch von Magie, Schönheit oder Geheimnis besessen hatten und ihr nun bloß noch gewöhnlich vorkamen. Es war verstörend zu sehen, dass Magie, Schönheit und Geheimnis aus einer Sache entweichen konnten, dass sie aufgebraucht werden konnten wie die Wintervorräte in der Kammer.
Während sie Evered zusah, wie er den letzten Rest seiner Mahlzeit vertilgte, fragte sie sich, ob das wohl auch für einen Menschen galt – und für die Gefühle, die zwei Menschen füreinander empfanden."
Inzest, behutsam erzählt
In seinem Zugriff auf das heikle Thema Inzest geht Crummey äußerst behutsam vor. Nie nähert er sich seinem Stoff als Fallgeschichte oder Kuriosum. Wie eine Bühne inszeniert er vielmehr die Landschaft seiner Heimat Neufundland und lässt darauf die Hauptfiguren selbst zu Wort kommen.
Die ständige Diskrepanz zwischen Mehrwissen und Ahnungslosigkeit, zusammengehalten durch die Erzählstimme, macht dabei den Reiz dieses ansonsten kargen Texts aus. Die klug gewählte Erzählperspektive gewährt zudem einen vielschichtigen Einblick, der ganz ohne Moralisierung auskommt. Mit seiner reduzierten und klaren Sprache gelingt es Crummey so, diesen Stoff gleichzeitig modern und doch historisch zu erzählen. Am Ende verwandelt er so einen bemerkenswerten Story-Findling aus dem späten 18. Jahrhundert vom Fragment zum lesenswerten Roman.
Michael Crummey: "Die Unschuldigen"
Eichborn Verlag, Köln. 351 Seiten, 22 Euro.
Eichborn Verlag, Köln. 351 Seiten, 22 Euro.