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Michael Kleeberg: "Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan"
Huldigung an das Erzählen

Wie kann man heute von der Zerrissenheit zwischen Orient und Okzident erzählen? Autor Michael Kleeberg stellt sich mit "Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan" der Herausforderung. Seine Erzählungen spielen in einem Dorf im Taunus genauso wie mitten in Beirut während des Bürgerkriegs.

Von Maike Albath |
    Buchcover: Michael Kleeberg: "Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan"
    Kaleidoskopisches Erzählprinzip - es treten auf: hessische Aussteiger genauso wie eine iranische Sängerin, ein polnischer Handwerker und ein Philosophiestudent (Buchcover: Galiani Verlag, Foto: picture alliance/dpa-Zentralbild/Foto: Arno Burgi)
    Es beginnt, wie es sich für einen Roman mit einem westöstlichen Sujet gehört, mit einem Sänger. Inmitten des Chaos, von dem die Welt ergriffen ist, inmitten der Kriege und der Todesszenarien, die in den ersten Zeilen beschworen werden, stimmt jemand ein Lied an. Dann gerät eine Frau in den Blick, die andächtig und selbstversunken dem Gesang lauscht. Schließlich richtet sich der Erzähler an diejenige, die wiederum ihm zuzuhören scheint.
    "Du fragst Dich: Wo sind wir hier? Nun, an einem Ort, wo nicht nur gesungen wird, sondern auch vernünftig gesprochen. Der Abend ist angebrochen, ein warmer Sommerabend, dessen schwere gelbe Düfte ab und zu ein Windhauch durchs offene Fenster weht. Aber bevor wir uns umsehen und orientieren, überquert unser Blick die feingesponnene, schwingende Brücke vom Ohr des Zuhörenden zum Mund des Sängers. Wer ist er, der die Musik macht, die die Anwesenden in Bann schlägt, die um den Tisch sitzen und lauschen?"
    Stilistische Bandbreite
    Der Ton ist vertraulich und anschmiegsam, der Gestus fabulierend, die Sprache bildhaft, und der Erzähler stellt über seine direkte Anrede einen Kontakt her, in den auch wir, die Leser, mit ihm treten. Wir befinden uns im ersten Buch von insgesamt sechzehn, das auf Deutsch und Persisch als "Buch des Sängers" annonciert ist. Der Idiot des 21. Jahrhundert lautet der Titel dieses breit angelegten Unterfangens von Michael Kleeberg, der Untertitel gibt eine Richtung vor: Ein Divan. Ein Divan? So ist es, Goethes West-östlicher Divan bildet den Bezugsrahmen, auch die Einteilung in verschiedene Bücher ist von dem 1819 erschienenen Zyklus inspiriert. "Divan", das wissen wir von Goethe, ist ein persisches Wort und bezeichnet eine Versammlung oder auch eine Liedersammlung, und genau dies ist Kleebergs Grundidee: Es geht um ein Treffen von Freunden, die jeder eine Geschichte mit sich herumtragen und einander aus ihrem Leben erzählen. Kleeberg bietet mit seinem knapp 460seitigen Roman aber zugleich ein kleines Kompendium von Liedern und Gedichten aus der persischen und deutschen Tradition, liefert ein Zeugnis von den intensiven Vermischungen und Überlagerungen der Kulturkreise und unternimmt mit seinem kaleidoskopischen Erzählprinzip selbst den Versuch, diese vielen verschiedenen Stimmen und Klangfarben miteinander zu verknüpfen. Ein guter Einfall, der dem Ganzen von Anfang an eine Vielgestaltigkeit gibt. Der Autor arbeitet gattungsübergreifend und verwendet die unterschiedlichsten Genres, die auch stilistisch eine große Bandbreite aufweisen.
    Im Rosengarten des Taunus
    Aber bleiben wir noch einen Moment bei dem ersten Auftritt der Hauptfiguren. Der charismatische Sänger heißt Hermann und ist etwa sechzig Jahre alt. Im Verlauf des Romans wird es um seine hessische Kindheit unter der Knute eines herrschsüchtigen Vaters gehen, um seine Doktorarbeit, bei der er sich in theoretische Höhenflüge hineinsteigerte, um eine kurze Liebeserfüllung und jahrzehntelange Sehnsucht, um sein Aussteigertum, das ihn bis nach Nepal brachte und irgendwann wieder in den Dunstkreis seines Schulfreundes Bernhard zurückführte. Mitreißend und anrührend zugleich, was durch seine stümperhafte englische Aussprache eher verstärkt wird, bringt Hermann in der Eingangsszene des Romans zu seinem Gitarrenspiel Eric Claptons Song "Layla" zu Gehör. In den Refrain fallen auch die Frauen ein. Der Erzähler spricht eine Empfehlung aus.
    "Ein Blick also nur, ein Wochenende im Rosengarten von Taunus-Shiraz, ein Moment des anderen Lebens hier an der Peripherie der Welt, zum Erinnern, zum Bewahren, zum Weiterreichen, bevor die Woche wieder beginnt. Sehen wir also zu, liebste Marianne, mischen wir uns unter die Hausgäste, trinken, diskutieren, lachen und weinen wir mit ihnen, lösen wir uns in ihnen auf und inkarnieren wir uns in ihnen, und ihr anderen vernehmt, was wir zwei Taucher im Seelenmeer euch von diesen Stunden im August 2015 und in den Zeiten davor und danach zu berichten wissen. Springt munter herum auf diesen Seiten. Gleich wo ihr anfangt, kommt ihr doch immer automatisch zurück in die Mitte. Und was die bringt, ist offenbar: das, was zum Ende bleibt und anfangs war."
    Es ist ein feierlicher Aufruf, sich auf die Geschichten einzulassen, selbst einzutreten in das Spiel aus Rede und Gegenrede, aus Dialogen und miteinander verflochtenen Lebensbeichten, aus Splittern der aktuellen Politik und Erlebnisberichten, aus östlichen und westlichen Schicksalen, gespickt mit Bezügen auf die Weltliteratur und die Populärkultur. Die Anspielungen reichen von Goethes Divan und Nezamis Liebesepos Leila und Madschnun über Flauberts Salambo und Dostojewskis Der Idiot, bis zu John Fords Western-Klassiker The Searchers und Claptons Layla-Version. Motti aus Hafis Lyrik oder Goethes Gedichten umkränzen die sechzehn Bücher, die auch ein "Buch des Augenblicks", ein "Buch des Idioten", ein "Buch des Lachens" und eines der "Utopie" umfassen. Die hier namentlich genannte "liebste Marianne" ist natürlich niemand anders als eine Wiedergängerin von Goethes Geliebter Marianne von Willemer, der Bankiersgattin, verheiratet mit seinem Freund Johann Jakob von Willemer. Der 65jährige Goethe schenkte der jungen Frau im Sommer 1814 eine Ausgabe von Hafis Divan, für den beide entbrannten, sie spiegelten sich in der Liebeslyrik, verfassten selbst Gedichte, die Goethe dann später im "Buch Suleika" seines eigenen Zyklus miteinander verwob, und beide schrieben sich Briefe mit Versziffern von Hafis, woraus ein System geheimer Liebesbotschaften entstand.
    Liebesgeschichte zwischen Orient und Okzident
    Kleeberg inszeniert ein Spiel mit lauter Korrespondenzen: Seine Heldin Maryam, eine Sängerin aus Teheran, ließe sich nicht nur wegen des Gleichklangs der Namen als Spiegelung von Goethes Marianne begreifen. Sie ist auch eine große Liebende, und damit greift Kleeberg Goethes Kernthema auf und deutet auch die Beziehungen zwischen Orient und Okzident als Liebesgeschichte. Auf die Geselligkeitskultur im Hause Willemer spielt er mit seiner Freundesgruppe im Taunus ebenfalls an, was durch die topographische Nähe seines Schauplatzes zur Gerbermühle, dem Sommersitz der Willemers, noch unterstrichen wird. Ebenso wie Goethe leuchtet Kleeberg das Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden aus. Der Schriftsteller arbeitet Blogeinträge von jungen Dschihadistinnen ebenso ein wie das Zeugnis einer Bekehrung. Zu den verschiedenen Textsorten, die Kleeberg in seinem Idioten des 21. Jahrhunderts montiert, zählen neben Legenden und Parabeln auch die Schöpfungsmythen der babylonisch-assyrischen Religion.
    "Denn nur am Anfang, als es Himmel und Erde noch nicht gab, sondern nur das Wasser, das salzige und das süße, wurde schon gezeugt und getötet. Apsu der Uranfängliche, und Tiamat, die sie alle gebar, der Drache, die Seeschlagen, das strahlend schöne Ungeheuer, zeugten Ea, der größer wurde als sein Vater und ihn tötete und wiederum Marduk zeugte, den Wind, den Donner, den mit den 50 Namen, der das flammende Schwert bringt, die die Schicksalstafeln trägt. Ihn will Tiamat vernichten, ihn will sie mit einem Krieg aller gegen alle überziehen. Aber die anderen Götterkinder heben Marduk auf den Thron, vorausgesetzt er zieht gegen das Ungeheuer, und das tut er, mit Pfeil und Bogen, mit Keulen und Blitzen, mit elf Winden, mit Sturmflut und Viergespann."
    Agententhriller in Beirut
    Der Erzählton des Mythos wird einige Seiten später durch die kolloquiale Ausdrucksweise einer älteren Dame kontrastiert, dann wieder wechselt orientalische Rhetorik mit einer essayistischen Erzählweise. Der weit gespannte literaturgeschichtliche Rahmen des Romans erzeugt für den, der die Texte kennt und die Bezüge dechiffrieren kann, ein reizvolles Flimmern und zieht weitere Bedeutungsebenen ein, ist aber keine Voraussetzung für die Lektüre des Buches. Es gibt locker dahinfließende Kapitel, wie das "Buch der drei Lieben" über drei deutsch-libanesische Paare, das zugleich eine Milieustudie ist, denn jede Familie gehört einer anderen Gesellschaftsschicht an, was während des Bürgerkrieges besonders markant hervortritt. Dem Leser werden die Geschehnisse aus der Perspektive eines arglosen Medizinstudenten vermittelt, der durch seine Freundin Mitte der achtziger Jahre in deren großbürgerlichem Elternhaus in Beirut landet. Während die Mutter, eine Freiburger Orchestermusikerin, einen mondänen Salon führt, steht der Patriarch Sam einer Privatklinik vor, in die er den jungen Mann aus Deutschland sofort einbindet. Die Kriegsgeschehnisse im Hintergrund empfindet der Gast als Abenteuer, das seiner eigenen Existenz eine nie gekannte Schärfe verleiht. Sein Schwiegervater kann von den Kampfhandlungen sogar profitieren. Das zweite Paar praktiziert eine Art teilnehmender Beobachtung, denn der Mann filmt die Kriegsgeschehnisse für das deutsche Fernsehen.
    Dem dritten Ehepaar ist jede Art von Zynismus fremd; für ihre humanistischen Grundüberzeugungen riskieren sie ihr Leben. Dieses Paar landet im Alter am Hauptschauplatz von Kleebergs Roman und fungiert in der Mechanik des Romans als Verbindungsglied zwischen den Erzählsträngen. Der Ehemann Younes ist immer noch von seinem Vertrauen in den Menschen getragen und komponiert für die Bewohnerschaft des Dorfes im Taunus eine "Sommeroper", wodurch sich plötzlich ein Gemeinsinn herstellt. In dem Libanon-Kapitel, das mit einer grausigen Pointe endet, gewinnt Kleebergs Idiot des 21. Jahrhunderts die Züge eines Gesellschaftsromans, ein Genre, das er in seinem Werk schon mehrfach virtuos variiert hat. Zu einem regelrechten Agententhriller steigert sich einige hundert Seiten später das "Buch des Orients", ebenfalls in Beirut angesiedelt. Es geht um einen braven deutschen Juristen, der auf die Fährte der mutmaßlichen Mörder des libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hari gesetzt wird und sich in salambôhafte, Flaubertsche Phantasien verwickelt. Am Ende zieht er genau die Schlussfolgerungen, die im Interesse eines bestimmten Machtblocks liegen. Hier durchleuchtet Kleeberg nicht nur die komplexen geopolitischen Verhältnisse, sondern zeigt zugleich, wie ein vermeintlich aufgeklärter Vertreter des Westens zum Opfer seiner eigenen postkolonialen Wahrnehmungsmuster wird.
    Die vielen Genrewechsel in Kleebergs Divan sind wohltuend, das manchmal überkandidelte, hochfliegende Pathos einiger Passagen wird durch eine mittlere Tonlage entschärft. Es gibt ein paar Figuren, die immer wieder auftauchen und dem Leser Orientierung bieten. Da wäre zum Beispiel Bernhard, genau wie der Sänger Hermann geprägt durch die alternative Szene. Obwohl Bernhard seine Leitungsposition in einer Sozialstation wegen eines kühl kalkulierenden Kollegen verlor, hält er an seinem zivilgesellschaftlichen Engagement fest und trainiert Flüchtlingskinder im Fußball und Schwimmen. Offenherzig schildert er seinen Frustrationen, wenn Jugendliche ihm plötzlich abhandenkommen.
    "Bin ich also zu den Eltern. Es war eine ziemlich kleine Wohnung. Und sie hatten regelmäßig Klagen am Hals wegen Mietrückständen. Bis dann der Fußballersohn jeden Monat einen Teil seines Gehaltes zu Hause ablieferte. Danach entspannte sich die Situation. Klingle da also, werde eingelassen und frage, warum Zuheyra denn plötzlich nicht mehr zum Schwimmen soll. 'Wir wollen das nicht mehr', sagte der Vater, und plötzlich sehe ich hinten im Zimmer das Mädchen sitzen, und es trägt ein Kopftuch. 'Warum willst du denn nicht mehr?', frage ich sie ganz direkt. 'Du hast doch immer so viel Spaß gehabt.' 'Nein, wenn meine Eltern das nicht wünschen, dann will ich auch nicht mehr.'"
    Bänkelsänger des 21. Jahrhunderts
    Bernhard, der wie ein Bänkelsänger an die Rampe tritt und von seinen Erfahrungen berichtet, drückt sich umgangssprachlich aus. Nicht jede Stimme klingt organisch. Manche Bemerkungen des Sozialarbeiters hören sich an wie Rezitationen eines Leitartikels, und manche Dialoge, die wiederum der Sänger Hermann mit Bernhards Sohn führt, einem Philosophiestudenten namens Ernst, wirken gestelzt und entfalten eine gewisse Oberseminarhaftigkeit.
    "'Dabei gehört Bernhard zu den wenigen, die sich ihre Ideale nie haben korrumpieren lassen', sagt Hermann. 'Ja, leider', erwidert Ernst. 'Sonst könnte er vielleicht heute auch von seinem Management 50.000 pro Vortrag verlangen lassen wie Joschka Fischer.' 'Na komm, es reicht doch auch so. Wobei, du hast insofern recht, als wenn wir alle auf Hartz IV wären und nur unsere Armut zu teilen hätten, auch dieser Ort hier nicht existieren würde. Die innere Freiheit ist und bleibt bis zu einem gewissen Punkt eine Funktion der Mittel, die du dir erwirtschaftet hast.' 'Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung.' 'Ja, und da wäre wir bei den "überschüssigen Bewusstsein' von Marcuse oder Bahro oder beiden. Den humanen Kapazitäten, die übrigbleiben, nachdem du für dein materielles Überleben geschuftet hast. Die beiden haben zwar geglaubt, dass nur im Sozialismus so ein geistiger Mehrwert herauskommt, aber das wissen wir ja nun besser.'"
    Ob ein junger Mann von Anfang zwanzig mit seinem väterlichen Freund wirklich so sprechen würde und dieser dann dermaßen gedrechselte Antworten parat hätte? Aber entscheidend ist das nicht, im Hintergrund schwingt die französische Tradition des conte philosophique mit, was auch einen gewissen Charme hat. Vor allem ist sympathisch, dass Michael Kleeberg seine Figuren nicht mit besserwisserischem Zynismus behandelt, sondern sie in ihren Lebensträumen ernst nimmt. In seiner Tischgesellschaft im Taunus scheint sogar ein Modell für ein modernes Miteinander auf, eine kleine, zarte Gesellschaftsutopie. Hier schwingt ein weiteres Thema mit, das Goethe in seinem Divan ebenfalls beschäftigte: das des Alterns. In gewisser Weise führt Kleeberg sein vor elf Jahren begonnenes Generationenporträt weiter, aber wer die vorangegangenen Romane Karlmann und Vaterjahre kennt, reibt sich verwundert die Augen. Keine Spur mehr von dem triebgesteuerten Materialismus, den sein Held genussvoll praktizierte, auch das großsprecherische Machotum ist ganz verschwunden, stattdessen ein Verständnis für Sehnsucht nach Spiritualität, Erfüllung und Gemeinschaft. Auch der kalte Blick des Erzählers, mit dem er damals die Nächstenliebe einer Pastorin demontierte, hat sich gewandelt.
    Den heißen Kern von Kleebergs vielschichtigem Idioten des 21. Jahrhunderts bildet aber, genau wie bei Goethe und Hafis, die Liebe. Auch davon gibt es verschiedene Ausformungen. Das Paar, das im Zentrum steht und sowohl Leila und Madschnun, Goethe und Marianne, den Erzähler und seine imaginäre Marianne spiegelt, sind Hermann und Maryam. Als junge Gesangsstudentin und leidenschaftliche Musikerin bekam Maryam im Iran des Ayatollahs Khomeini Schwierigkeiten, war geflohen und in Offenbach gelandet. In der feindseligen Bundesrepublik der 70er Jahre bot ihr Hermann mit seiner Musik einen Halt. Nach einigen Monaten treten die beiden eine Reise Richtung Süden an, steigen im Tessin aus dem Zug und lassen sich treiben. Hermann schildert seine Erinnerungen in hehren Worten:
    Die Schöpfung als Abglanz des Schöpfers
    "Unsere Herzen jedenfalls waren an die Hand genommen, und als wir drüben am jenseitigen Ufer anlangten, führte diese Hand uns die Gassen des Städtchens entlang, hinauf, hinauf über den Hafen, bis zu einer mächtigen verschlossenen Kirche, auf deren Vorplatz wir uns über die Balustrade beugten und in die immense Nacht und ihre fernen Lichter blickten, und da, in diesem Augenblick, an diesem Ort, offenbarte sich uns die Schöpfung als Abglanz des Schöpfers, und wir verstanden: Alles war gut. Und wir verstanden einander als Spiegel des andern und beide als Spiegel des Schöpfers. Und wir waren wach und durften einen Blick in die Wahrheit werfen und sahen in einer gewaltigen, lautlosen, furchterregenden Erschütterung ihre Schönheit und unsere Bestimmung."
    Hier ist er wieder, der hohe Ton, der riskant ist, aber den Sänger und Philosophen Bernhard auszeichnet. Kleeberg unternimmt mit seinem Idioten des 21. Jahrhunderts eine ambitionierte Grenzwanderung zwischen Ost und West, und er muss sich den Vergleich mit einigen Werken ähnlicher Ausrichtung gefallen lassen. Dazu gehören Thomas Lehrs rhapsodisches Prosagebilde September, Fata morgana von 2010, Navid Kermanis ziegelsteindicke iranisch-deutsche Lebensbeschreibung Dein Name von 2011, der historische Roman Der Trost des Nachthimmels über den Wesir Nizam al-Mulk von Dzevad Karahasan, der 2016 erschien, und vor allem Matthias Énards von Musik durchdrungener Liebeswahn in Kompass aus demselben Jahr. Thomas Lehr hatte mit seinem nur durch Absätze synkopierten Roman die Schicksale zweier Väter-Töchter-Paare zwischen Bagdad, New York und Paris inmitten der zerrissenen Zeitläufte enggeführt, ein vibrierendes Tableau mit einem ganz eigenen Sog erschaffen und auf mitreißende Weise von Krieg, Trauer und Liebe erzählt. Navid Kermani war in Dein Name eine einprägsame, schillernde Geschichte seiner Großfamilie in Isfahan, der Revolution und der Auswanderung geglückt. Der Bosnier Dzevad Karahasan wiederum hatte in seinem historischen Epos Der Tod des Nachthimmels vom Niedergang einer prächtigen islamischen Kultur erzählt und dabei die Ursachen des Fundamentalismus bloßgelegt. Der französische Romancier Matthias Énard schließlich, an dessen Expertise für orientalische Musik kaum jemand in Deutschland heranreicht, war mit Kompass ein grandioser Abgesang auf die vermeintliche Überlegenheit Europas gelungen – sein Liebender ist dem Tod geweiht, er trauert um den versinkenden Reichtum des östlichen Untergrunds der westlichen Kultur und die vielen gekappten Verbindungen.
    Die Intensität dieser Werke erreicht Michael Kleeberg mit seinem Idioten des 21. Jahrhunderts nicht. Lesen sollte man seinen Divan. Sein Roman ist schließlich auch eine Huldigung an das Erzählen überhaupt, und indirekt formuliert er die entscheidenden Fragen: Wo kommen wir her und wie wollen wir leben? Am schönsten ist deshalb vielleicht der dialogische Charakter seines Erzählens: Seine Helden, ob sie singen oder sich erinnern, richten sich immer wieder an ein Gegenüber, an ein Publikum, an ihre Freunde oder eben an uns – die Leser. Der Akt des Zuhörens ist zentral und somit das Organ des Ohres. Und damit ist Michael Kleeberg sehr nahe an dem, was der Goethe-Freund Wilhelm von Humboldt erkannte und als die Quintessenz seiner Sprachphilosophie betrachtete. Das Sprechen und somit auch das Erzählen passiert immer angesichts des Anderen. Es geht um das Ohr, das lauscht.
    Michael Kleeberg: "Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan"
    Galiani Verlag, Berlin. 454 Seiten, 24 Euro