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Michael Köhlmeier: "Matou"
Die Welt ist alles, was man erschnuppern kann

Sprechende Tiere sind in der Literatur nicht selten – aber 230 Jahre europäische Geschichte aus der Perspektive eines philosophierenden Katers machen neugierig: Hat der Held in Michael Köhlmeiers 1.000seitigen neuem Roman das Zeug zu einer Kultfigur?

Von Florian Felix Weyh |
Michael Köhlmeier: „Matou“
Der Kater Matou als Zeitzeuge der Gesellschaft von der Französischen Revolution bis heute (Foto: Peter-Andreas Hassiepen, Buchcover: Hanser Verlag)
Ähnlich wie sprichwörtlich Katzen hat auch ein Rezensent sieben Leben. Die braucht er, weil er in der Jugend über die Stränge schlägt und sich dabei Gewaltandrohungen zuzieht. Später kosten ihn Tiefenvenenthrombosen aus Bewegungsmangel, heruntergeschluckter Ärger und anderes die Leben zwei bis sechs. Im letzten Berufsjahrzehnt, Leben Nummer sieben, gilt es, Umsicht zu bewahren: Augen auf bei der Buchwahl! "Die Lektüre meines Buches solltest du nicht unterbrechen – für kein anderes Buch, denn meine Memoiren sind ein inkommensurables Werk, das sich von allen anderen unterscheidet."
Das ist ganz schön herrisch im Ton – und voller Hybris bereits auf der allerersten Seite: "Ich beginne ein Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde. Ich will dir einen Kater in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Kater werde ich selber sein." Der Ur- und Idealkater gewissermaßen, denn Matou – französisch "Kater" – nennt sich der Ich-Erzähler, der an der Theorie des "Matouismus" bastelt, also an einer Weltanschauung aus dem Katzen-Blickwinkel, was konsequenterweise so klingen müsste, allerdings über 960 Seiten hinweg unerträglich wäre: "Mauuu-au-ai-iiiii-jao-uuuuu! Mauuu-au-ai-eeeee-jao-ooooo! Mauuu-au-ai-uuuuu-jao-jao-jao-iiiiii! Maiiiai-ai-uu-iiiii-jao-uuuuu! Maiiiai-ai-uu-eeeee-jao-ooooo! Maiiiai-ai-uu-uuuuu-jao-jao-jao-iiiiii!"

Der Kater spricht nicht nur, er kann auch schreiben

Matou beherrscht deswegen die menschliche Sprache, und nicht nur das: Mittels einer abgewinkelten Kralle bringt er in manierlicher Pfotenschrift seine sieben Katzenleben zu Papier. Das klingt nach dem richtigen Buch fürs letzte Rezensentenleben, reichhaltig, aber dennoch ungefährlich, weil ein abgeklärter Könner wie Michael Köhlmeier noch einmal alle Register zieht: "Ein Tier als Zeitzeuge eurer Gesellschaft von der Französischen Revolution bis heute! Ein unschätzbarer Schatz!"
Ja, sogar noch mehr als ein nur diesseitiges Historienpanorama, denn das Tier rapportiert sogar sechs Mal, was jenseits der Scheidelinie zwischen Leben und Tod liegt: "Ich nenne es das Weggemachte. Weil, was im Diesseits gezwickt, gezwackt, gejuckt und gezuckt hat, dort weggemacht ist. Ihr sagt ‚Jenseits‘ dazu und werdet dafür Gründe haben. Sie erschließen sich mir nicht. Der Begriff verwirrt mich. Ihr erfindet ein Wort für etwas so Mächtiges, Erhabenes, ohne Vergleich Heiliges, das seit Tausenden Jahren eure Fantasie auftreibt, und verwendet dasselbe Wort daneben auch für eine simple Ortsangabe. (…) Jenseits der Anhöhe gingen die Mäher im frischen duftenden Schatten‘, schreibt Tolstoi."
Tolstoi! Mit seiner literarischen Bildung kann Matou einfach nicht hinterm Berg halten. Hunderte von Büchern listet er im Verlauf der Geschichte auf – als Hinweis darauf, was man begleitend zu seinen Memoiren lesen möge, um die ganze Dimension seiner Persönlichkeit zu begreifen: "Du wirst keinen beleseneren Kater, keine belesenere Katze, keinen beleseneren Affen finden als mich. Wenigstens zwei meiner sieben Leben habe ich in Bibliotheken zugebracht."

Dieser Held buhlt nicht um Sympathie

Diesem andauernden Selbstlob kann man nicht entrinnen. Wie Köhlmeiers Held in "Die Abenteuer des Joel Spazierer" ist Matou keiner, der beim Leser um Sympathie buhlt. Im Gegenteil, er geriert sich als selbstbewusster, oft eitel gespreizter Besserwisser, dessen amoralische Lebenseinstellung der des Mehrfach-Mörders Joel Spazierer gleicht. Indes gibt ihm seine biologische Eigenart jedes Recht dazu; Katzen sind nun mal so:
"Ich finde nichts dabei, ein Tier zu quälen, im Gegenteil, nur wenig macht mir mehr Freude. (…) Todesangst riecht köstlich, nichts regt den Appetit mehr an, als einen Schwächeren zum Tode hin leiden zu sehen. Ich weiß, Euresgleichen schämen sich, wenn sie dabei beobachtet werden, wie sie einen anderen quälen; ihr wisst schnell eine Menge Gründe vorzubringen, warum das gut ist und nicht schlecht und warum ihr tun müsst, was ihr eigentlich nicht tun wollt – alles Lüge. Wir Katzen schämen uns nicht. Wir prahlen nicht mit unserer Grausamkeit, nein, aber wir schämen uns auch nicht für sie."
Damit wäre die Erzählposition bestimmt: Matou gehört dem humanen Kosmos nicht mal mehr als sozialer Außenseiter wie Joel Spazierer an, sondern bewegt sich als analysierender Außermenschlicher in einem überzeitlichen Kontinuum; das "Weggemachte" überwölbt die gesamte abendländische Geschichte seit Christi Geburt.

Von E.T.A Hoffmann bis Kafka – Matou trifft Real- und Fabelwesen

Diese Konstruktion ermöglicht Matous Erfinder Michael Köhlmeier alles. In sieben Katzenleben durchstreift er einerseits markante historische Epochen, driftet über literarische Referenzen andererseits in mythische und phantastische Gefilde ab. Geboren am 25. September 1792 in Paris, landet Matou wie sein Erstbesitzer Camille Desmoulins auf der Guillotine. Im zweiten Leben macht er sich zum meta-realen Vorbild von E.T.A. Hoffmanns literarischem Helden "Kater Murr". Im dritten führt er ein artgerechtes Leben unter Katzen auf der Insel Hydra; nur in diesem stirbt er keines gewaltsamen Todes. Allerdings kommt die Hydra-Episode als Allegorie menschlichen Machtstrebens daher – der Kater als absoluter Herrscher.
Nach dieser Tierwelt-Dystopie zur Mahnung menschlicher Leser wechselt Matou die biologische Gattung, um dennoch in der Familie zu bleiben: Er wird als Leopard wiedergeboren. Ein verstörender erzählerischer Umschwung, um den kongolesischen "Leopardenmenschen"-Mythos aus der brutalen belgischen Kolonialzeit aufgreifen zu können. Im fünften Leben wählt Matou das Prag der Kafka-Zeit aus, und Köhlmeier lässt ihn mit dem Affen Rotpeter aus dem "Bericht für eine Akademie" zusammentreffen. Im sechsten wird er zum Begleiter von Andy Warhol in den 1970er-Jahren. Das unweigerlich letzte, siebte Matou-Leben findet bei einem Wiener Philosophiestudenten und seiner Tante in der Jetztzeit statt. Hier schnurrt der Kater seine Memoiren herunter, die eigentlich aus sechs eigenständigen Kurzromanen und sechs Zwischenakten im Jenseits bestehen, zusammengehalten vom roten Faden der Rahmenhandlung in der Gegenwart.
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Von Sinnsuche und Geruchssinn

Inhaltlich geht es um Sterblichkeit, Grausamkeit, Moral und Gewissen, Sprachphilosophie (insbesondere der Funktion von Metapher und Konjunktiv), den Unterschied zwischen Charme und Charisma, Natur, Tier- und Menschsein … um nur einige wiederkehrende Themen zu erwähnen, die den intellektuellen Kater umtreiben; die historischen Schauplätze und Ereignisse bleiben dagegen Dekor. Doch da ist auch noch etwas spezifisch Katzenhaftes, schon ab dem ersten Lebensmoment Matous: "Ich hörte, ich sah, ich roch."
Am präzisesten erfasst Michael Köhlmeier den eigenartigen Charakter seines hochliterarischen Garfield, wenn er ihn über Gerüche reden lässt: Die Welt ist alles, was man erschnuppern kann: "Robespierre roch nach Tod. Stell dir scharfen Chili vor, der in einer Pfanne erhitzt wird. Hast du? Gut. Kennst du den Geruch von verbranntem Eisen? Denk an Schweißarbeiten! Hast du? Gut. Nun vermische diese Gerüche und verdünne sie in einem Verhältnis von eins zu zehn mit dem faden Duft von faulendem Gras. – So riecht der Tod. – Wenn einem Menschen dieser Geruch anhaftet, ist er für uns Katzen gekennzeichnet. Er kann sich schrubben, er kann ins Schwitzbad gehen, er kann sich parfümieren, es nützt ihm nichts – wir riechen den Tod."
Und nicht nur den: "Unrecht riecht nach faulen Kartoffeln im Keller. Und ähnlich riecht das schlechte Gewissen – nach kalten faulen Kartoffeln."
Was – fragt sich der Rezensent ein bisschen hinterhältig – was erschnupperte Matou wohl mit seiner Spürnase, legte man ihm dieses Buch des Menschen Köhlmeier zur geruchlichen Beurteilung vor? Trägt Scheitern ein feines Odeur von vergossenem Schweiß und verdunsteten Tränen der Mühe? Oder steigt da ein seltsamer Küchengeruch auf? "Verzweiflung riecht nach vergorenen Salatblättern."

Das Buch hat eine Struktur, aber keine Ökonomie

Das wäre dann allerdings die Ausdünstung des Lesers, der auf dieser Seite 696 noch immer nicht weiß, ob sich sein Durchhaltevermögen wirklich auszahlt. Gewiss, Michael Köhlmeier ist ein großartiger Autor, sprachmächtig, gebildet, ein "Welthaltigkeitserzählweltmeister", wie ihn Hubert Winkels einst nannte. Aber geriet er, indem er seinen Helden Menschenblut lecken ließ – wirkliches Menschenblut, auf der Richtstätte in Paris –, nicht selbst in einen unkontrollierten Rausch?
Statt Blut will er nun Worte sprudeln sehen, Worte in jeder Dimension. Einmal sind sie so groß gesetzt, dass nur vier davon auf die Seite passen – womit neben Listen, Lyrik und Lautmalerei auch das Stilmittel der Konkreten Poesie zum Einsatz kommt. Das alles, um den Ich-Erzähler Matou zum Homer der Gegenwart zu erheben, zum Meister aller Klassen, Formate, Stilarten; natürlich dichtet er auch Oden. Dabei ist er doch nur eine Katze.
"‘Nur‘ eine Katze – was bildet ihr euch eigentlich ein! (…) Ich bin ein Kater, der nachdenken kann – über Dinge wie Meteorologie, Hermeneutik, Immanuel Kant, Ökonomie, die Kunst der Renaissance, Linguistik, Statistik, (…) Holzarchitektur, Medizin, Abgasregelung, (…) Anarchismus, Anthropologie, Hygiene, Astrophysik und Metaphysik. Aber ich bin ein Kater – das merke dir siebenmal! Mit der Sicherheit und Ruhe, die dem wahren Genie angeboren, übergebe ich der Welt meine Biografie, damit sie lerne, wie man sich zum großen Kater bilde."
In dieser Aufzählung sind mehrere Zeilen gekürzt, und doch ahnt man schon in der Kurzversion, woran das voluminöse Buch krankt: Es hat einen Einfall zum Ursprung – genauer: eine Redewendung, nämlich die von den sieben Leben der Katze –, aber keine Ökonomie. Vertrackter: Der Einfall zwingt es in eine Verschwendung hinein, für die nicht genügend konsistentes Material existiert. Erhebt man die sieben Leben der Katze zum Erzählprinzip, dann sitzt man in einer Strukturfalle: lauter leere Räume, die vollgestopft werden wollen.
Und Michael Köhlmeier ist keiner, der das nicht könnte. Er hat von allem etwas zu bieten, von manchem allerdings zu viel. Dass Märchen wie Mythen eine Fundgrube für Anspielungen darstellen, versteht sich von selbst. Doch wenn Köhlmeiers literarisches Über-Ich E.T.A. Hoffmann – Matous zweiter Besitzer – gleich doppelt geehrt wird (mit dem Kater Murr und einer sehr breit ausgeführten Variation von "Meister Floh"), entzückt das nur Kenner der romantischen Literatur.

Muss man Katzen mögen, damit einem "Matou" gefällt?

Matous philosophische Ausflüge haben einen Zug ins Tautologische ("Das Problem einer Katze ist ihr Leben und nichts als ihr Leben, ihr ganzes Leben, ihr Leben als Ganzes. Andere Probleme kennt eine Katze nicht."), und ja, an dieser Stelle muss der Rezensent zugeben, dass er Katzen zwar nicht hasst, sie ihm aber herzlich gleichgültig sind.
Damit fehlt möglicherweise die Grundvoraussetzung, um 960 Seiten ohne einen Anflug von Gelangweiltsein zu überstehen. Der Katzenfreund nickt dagegen vermutlich anerkennend-kennerisch, wenn er von der kommunikativen Kompetenz seiner Lieblinge hört: "Eine Katze verfügt über durchschnittlich vierundzwanzig Schnurrhaare, fachgerechter Ausdruck: Vibrissae. Wenn nur eines davon auch nur um ein Millimeterchen sich bewegt, so ist das, auf Menschensprache übertragen, als ob ihr eine Wortwendung gebrauchtet, die sich aus mehreren Gliedern zusammensetzt, und selbstredend bedeutet es jeweils etwas anderes, ob sich das Haar nach oben, nach unten, nach rechts oder nach links bewegt; und bedeutet wieder etwas anderes, wenn ich zugleich ein zweites Barthaar hebe oder senke oder damit nach rechts oder nach links zucke; und wieder etwas anderes, verfahre ich mit einem dritten und vierten ähnlich und so weiter. Bei vierundzwanzig Haaren kannst du dir die verschiedenen Kombinationen ausrechnen, sie bewegen sich im Yotta-Bereich, es sind Quadrillionen."
Einen Absatz weiter schweift der Großintellektuelle Matou von hier zu Charles Sanders Peirce ab, den er selbstredend gelesen hat, weil ihn, den sprechenden Kater, Probleme der gattungsübergreifenden Kommunikation fortwährend beschäftigen. Die Lektüreliste umfasst viele Namen – "auch scheint ein Dasein, ohne je ein Buch von Noam Chomsky gelesen zu haben, eine vergeudete Strecke Zeit."
Deswegen trifft Matou im sechsten Leben bei Andy Warhol seinen Hausgott Noam Chomsky höchstpersönlich und spricht mit ihm; eine Handlungsweise, die er sonst tunlichst vermeidet. Ansprechpartner ist eigentlich immer nur der Besitzer im jeweiligen Leben, die anderen Menschen wären zu leicht verstört. Der Linguist natürlich nicht: "Noam Chomsky kniete sich vor mich hin. ‚Darf ich dich einmal ausleihen?‘, fragte er. ‚Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.‘ Er drückte seinen Kopf gegen meinen und flüsterte in mein Ohr: ‚Sag nur ein Wort, nur ein Wort. Bitte!‘ Ich sagte: ‚Ich bin ein Wunder.‘ (…) Dieser alle Intellektuellen überragende Intellektuelle flüsterte in meinen Pelz hinein: ‚Das bist du, ja. Du bist ein Wunder. Ein Wesen aus einer anderen Welt. Fürwahr! Ich habe nie an die Droge geglaubt. Aber ich glaube an Wunder.‘"

Im sechsten Leben ändert sich der Erzählstil

Man merkt es dieser Passage kaum an, aber das sechste Leben wird stilistisch auffallend anders beschrieben als alle vorigen. Während Matou sonst immer ein Erbe E.T.A. Hoffmanns bleibt, lange Sätze mit Schnörkeln und Verzierungen liebt, protokolliert er die Zeit mit Andy Warhol ebenso lakonisch, wie der Popkünstler sie selbst im Rahmen eines Kunstprojekts auf Tonband sprach: "Tag ohne Worte. Andy malt in der Factory. Von zehn Uhr am Morgen bis ein Uhr in der Nacht. Mit dem Taxi nach Hause. Fahrt 3 Dollar 50 Cent, Trinkgeld 1 Dollar."
Das ist natürlich Parodie, wobei man sich bei Köhlmeier in diesem Buch nie ganz sicher sein kann, auf welcher Ebene er sich gerade bewegt. Manches scheint ihm tiefernst zu sein, etwa die langen Diskurse über Sprache oder die Überlegungen zur Verführungskraft von Charismatikern. Anderes funkelt zwischen den Textmassen als aphoristische Naturbeobachtung auf, die ganz eigen daherkommt, obwohl man dafür keine Katze zu sein braucht, sondern nur – wie der Autor – in ländlicher Gegend lebend muss: "Die Kuh ist meiner Einschätzung nach das einzige Wesen auf unserer Welt, dem es gelingt, das Nichts sichtbar zu machen. Wer beweisen möchte, dass das Nichts IST, der soll sich von einer Kuh anschauen lassen."
Selbstredend lohnen solche Stellen, auch wenn sich im ausdruckslosen Kuhauge die überhebliche Blasiertheit des Katerhelden noch einmal widerspiegelt. Doch es bleibt die Frage, ob ein Buch, das für jeden irgendwas enthält, letztlich für niemanden etwas ist? Wie in einem Ladengeschäft entrollt Inhaber Köhlmeier vor seinem Kunden immer neue Stoffbahnen: "Hier hab ich dies, das ist auch noch schön, und daraus können Sie was ganz Tolles schneidern." Nur: Er bleibt Stoffverkäufer, wird nicht zum Schneider; als Schneider würde er sich notgedrungen begrenzen. Unentwegt, selbst auf den allerletzten Metern, reißt er neue erzählerische Horizonte auf, die er dann selbst nicht mehr bedienen mag, sondern seinen Figuren zuschiebt. Etwa dem Studenten Daniel, dem letzten Besitzer Matous, der einen historischen Roman schreiben will:
"Also, der erste Satz, hör zu, sag aber nichts: ‚Vierzehnmal haben Charles de Gaulle und Konrad Adenauer einander getroffen, das ist historisch vermerkt und verbürgt. Personen aus dem engen Umkreis der beiden aber wussten, es war öfter.‘ Und dann wird von einem dieser sogenannten geheimen Treffen berichtet. Die beiden haben sich nämlich nicht nur inoffiziell, sondern auch geheim getroffen, das ist historisch, völlig historisch. Aber was dort passiert ist, das ist fiktiv, das weiß nämlich niemand. Das denke ich mir aus. Bei diesem Treffen ist es nämlich zu einem Streit zwischen den beiden gekommen, wahrscheinlich wegen einer Kleinigkeit, weiß ich noch nicht genau, Büchsenöffner oder so, dass sich einer von den beiden geschnitten hat zum Beispiel. (…) Aus der kleinsten Kleinigkeit kann etwas Großes werden, das meine ich."
Leider kann sich das Große auch in Kleinigkeiten verlieren, meint der Rezensent, der in seinem siebten Leben, dem gefährdetsten, weder den Zorn des Besprochenen, noch den Ärger treuer Fans riskieren will. Ihm bleibt also nur, sich auf Matou selbst zurückzuziehen, auf den Kernsatz des Matouismus. Er gilt gleichermaßen für mürrische Kater wie für misslaunige Kritiker: "Die Welt und die Natur bringen Arschlöcher hervor, das ist bekannt, das muss man akzeptieren, auch wenn man selbst eines ist, vor allem dann."
Michael Köhlmeier: "Matou"
Hanser Verlag, München 2021. 960 Seiten, 34 Euro.