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Michael Rutschky: "Gegen Ende". Tagebuchaufzeichnungen
Selbstzerstörerische Aufzeichnungen

In seinem dritten Tagebuch-Band "Gegen Ende" hat der Publizist Michael Rutschky die letzten Jahre seines Lebens beschrieben. Darin schont er weder sich noch seine Weggefährten. Rutschky hinterließ ein Selbstportrait, in dem ihn sogar seine besten Freunde wohl kaum wiedererkennen werden.

Von Walter van Rossum |
Michael Rutschky: "Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1997-2009" / Zu sehen ist das Buchvover und ein Bild des Autoren
Am Ende Düsternis (Cover: Berenberg Verlag /Foto: Deutschlandradio / Matthias Horn)
Als Michael Rutschky im März 2018 starb, hinterließ er ein unvollendetes Manuskript: sein Tagebuch der Jahre 1996 bis 2009. Vor seinem Tod hatte er seinen langjährigen Freund Jörg Lau zu seinem Universalerben eingesetzt und Kurt Scheel, Freund seit fast 40 Jahren mit der Edition seines unvollendeten Tagebuchtextes beauftragt. Entsetzt mussten Lau und Scheel feststellen, dass sie in den Aufzeichnungen des Verstorbenen fast durchweg mit lieblosen Worten, wenn nicht Schlimmerem bedacht worden waren.
Selbstportrait des Grauens
Trotzdem kamen die beiden dem Wunsch Rutschkys nach: Der dritte Band der Tagebücher erschien wie geplant im Berenberg Verlag. Der Mitherausgeber Kurt Scheel gibt in seinem Vorwort sein blankes Entsetzen über den Verrat des Freundes zu Protokoll, dessen Veröffentlichung er soeben auf den Weg gebracht hatte. Im Nachwort beklagt Jörg Lau den Freitod des gemeinsamen Freundes Kurt Scheel. Wenige Tage, nachdem er das Manuskript und sein Vorwort pünktlich beim Verlag abgegeben hatte, nahm er sich das Leben. Er wurde 70 Jahre alt.
Neben der persönlichen Kränkung erschraken die beiden Nachlasswalter noch über etwas anderes: Das Selbstbild, das Rutschky in diesen Tagebuchaufzeichnungen zeichnete, hatte kaum Ähnlichkeit mit jenem Michael Rutschky, mit dem man sich seit geraumer Zeit befreundet wähnte. Der als freundlich cooler Typ geschätzte Rutschky entpuppte sich als von Depressionen geplagter, niederträchtiger Narziss voller Ängste.
"Sein Haarausfall nimmt einen merkwürdigen Verlauf. Am Hinterkopf entsteht um den Wirbel herum die bekannte "Platte". Auf dem Oberkopf jedoch zieht sich das Haar nicht mit "Geheimratsecken" symmetrisch zurück, vielmehr entstanden formlose Löcher. Weder schließen sie sich wieder, noch nehmen sie zu. Es schaut aus wie eine Krankheit. Eine Friseurin meinte mal, sie habe diese Stellen oben auf dem Kopf die ganze Zeit für Narben gehalten; sie riet zu einem Arztbesuch."
Vom Schwinden der Hoffnung
Wie schon in den beiden Tagebuchbänden zuvor, schreibt Rutschky nicht in der Ich-Form, sondern macht den Tagebuchschreiber selbst zu einer Figur, die stets als die Initiale R. auftritt. Doch im Gegensatz zu den beiden früheren Bänden geht es in "Gegen Ende" fast ausschließlich um R. R. beobachtet sich beim allmählichen Verwelken, hadert mit seiner Aufgedunsenheit, die ihm unausweichlich im Spiegel begegnet, wie der Bauch und die schlaffe Gesichtshaut. Ihn fasziniert das kleine Hautgeschwulst, das er tagelang mit lüsternem Ekel aufkratzt, er beobachtet die Mühen der Erektion und die kargen Ejakulationserträge – eigenhändig Hand gerieben und im faltigen Detail beschrieben.
"Gegen Ende" dämmert ihm, es wird nicht viel bleiben. Die Karriere als Geistesriese, von der er insgeheim phantasiert haben muss, kommt nicht mehr. Die Nachfrage nach seinen Erzeugnissen geht zurück, stattdessen schaut er begeistert Gerichtsshows im Nachmittagsfernsehen, in seinen Träumen erfindet er sich ausgerechnet als Laudator von Jürgen Habermas im Rampenlicht.
"Gestern besetzte ihn der Gedanke an Rainald Goetz quälend. Morgens meldete Gerrit Bartels im Tagesspiegel, dass er aus dem Schweigen der letzten Jahre triumphal aufgewacht sei: mit einem Blog für die Zeitschrift Vanity Fair. Schwerer Neid kam auf, warum bietet Ulf Poschard, Chef von Vanity Fair, R. keine Kolumne an? (…) Rainald Goetz war sein Schüler. Was er als laufendes Internettagebuch und Chronik geschrieben hat, lernte er bei R."
Ganz schlimm: Seine Frau Kathrin steigt zur erfolgreichen Konkurrentin auf. Noch schlimmer: Kathrin ist der Aufgabe nicht gewachsen und braucht für jede Rezension ein paar Flaschen Wein. Am Ende – beinahe hätte man es überlesen, so beiläufig erzählt Rutschky davon – am Ende hat Katharina Rutschky Krebs, an dem sie 2010 stirbt.
Und was geschieht sonst noch so?
"Die junge Frau ist fett. Olivgrüner Armee-Parka, dünne Dreadlocks, die außerdem einfach verdreckt sind. In der Hand eine pralle Plastiktüte. – Als sie anfängt zu reden, mein R., sie wolle betteln. Aber sie schimpft und klagt nur vor sich hin. Man habe ihr ihre Isomatte geklaut, ihre Isomatte, und jetzt müsse sie auf dem kalten Steinboden schlafen, auf dem kalten Steinboden. – Aber das interessiere ihn natürlich nicht, redet sie einen hässlichen jungen Mann an, der an der U-Bahn-Tür steht und gleich wegschaut. Arier sei er doch wohl, ja, Arier. Er interessiert sich natürlich nicht dafür, dass ihre Isomatte geklaut wurde, ja, die Isomatte, und jetzt muss sie auf dem nackten Steinboden schlafen."
Man hat so seine Rituale: mit dem Hund spazieren, Mittagsschlaf mit fallweiser Erektionsbesichtigung, Silvester an der Ostsee, Klatsch und Treffen mit Freunden, die vermutlich keine sind: überwiegend Kulturfunktionäre vom Schlage Kurt Scheel oder Jörg Lau. Rutschkyianer der ersten Stunde, die gelernt haben, ihr inneres Reihenhaus als Kunst und höhere Tugend zu zelebrieren.
In seinen ersten Tagebüchern hatte Rutschky das Schema seiner Aufzeichnungen erklärt: "Die Aufzeichnungen folgen einer Regel, die ich in Anna Freuds Londoner Zentrum für die Psychoanalyse von Kindern aufgeschnappt zu haben meinte, 'to write a card'. Hospitanten sollten, fiele ihnen eine Szene oder eine Einzelperson deutlich auf, diese Beobachtung niederschreiben. Jeden Tag (…) findet sich eine solche Beobachtung."
Die Verkleinerung der Welt
Darin erschöpft sich in gewisser Weise auch die Poetologie des Essayisten Rutschky. Er wurde zurecht bekannt mit Büchern wie "Erfahrungshunger" oder "Wartezimmer". Da gelang ihm auf verblüffende Weise, aus ein paar Alltagsbeobachtungen, aus Büchern oder Filmen treffende Skizzen gesellschaftlicher Gesinnungslagen abzuleiten. Das war Anfang der 80er Jahre. Viele Exlinke wie Rutschky suchten damals Auswege aus den Dramen der Gesellschaftskritik. Autoren wie er oder Enzensberger entdeckten neue Feinde: Die Geschichtsphilosophie und die Kulturkritik. Fortan galt es, sich aus den Fängen der Begriffe zu befreien.
Man beschränkte sich darauf, ironisch die Zeremonien des Alltags zu entziffern. Notfalls wurde die Realität auf Augenhöhe zurückgeschrieben. Beispielsweise wollte Rutschky in Kanzler Kohl partout nichts anders entdecken als die verkörperte Harmlosigkeit der Bundesrepublik. Während die Welt immer größer wurde, verzwergten Rutschky und die Seinen sie. In seinen letzten Tagebüchern verkürzt sich die Wahrnehmung gesellschaftlicher Realitäten auf Spaziergänger mit Hund, auf ältere Damen im Café und so weiter. Doch aus diesen Beobachtungen zieht er keine Schlüsse mehr. Unter seiner kalkuliert präzisen Schrift verkümmern die Realitätsfragmente zu einem Achselzucken der Vergeblichkeit.
Warum wollte Rutschky seine letzten Tagebücher unbedingt veröffentlichen, seine hässliches Selbstportrait für welche Ewigkeit protokollieren? Oder wollte er am Ende noch einen Roman hinterlassen - den Roman vom Ende? Aber der Plot ist sterbenslangweilig, das Ende bekannt, und der Held so trostlos, dass nicht einmal der Autor ihn mag. Vielleicht jedoch wollte er nach Jahrzehnten feiner Ironie, kühler Lakonie und endloser Bagatellisierung schreibend etwas schaffen: seine Annullierung. Doch die Gleichgültigkeit des Universums bedarf seiner Mitarbeit nicht.
Michael Rutschky: "Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1996 – 2009".
Zusammengestellt von Michael Rutschky und Kurt Scheel.
Mit einem Nachwort von Jörg Lau.
Berenberg Verlag, Berlin. 360 Seiten. 24 Euro.