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Michael Sontheimer und Peter Wensierski
"Berlin - Stadt der Revolte"

Man kann dieses Buch wie einen Stadtführer lesen: Die Journalisten Michael Sontheimer und Peter Wensierski beschreiben Schauplätze der Revolte in Berlin - von wichtigen Orten der Studentenbewegung über ehemals besetzte Häuser bis hin zu Treffpunkten DDR-Oppositioneller.

Von Benjamin Dierks |
    Hintergrundbild: Studentendemonstration 1968 in Berlin. Vordergrund: Buchcover
    Berlin: Gen der Revolte (dpa / Konrad Giehr & Verlag Ch. Links)
    "Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt!" Dass sich diese Parole in der heutigen Hauptstadt der eine oder die andere über die Jahre zu Herzen genommen hat, zeigt schon die erste Doppelseite des Buchs "Berlin - Stadt der Revolte": Auf einem Stadtplan markieren Fähnchen nicht die üblichen Sehenswürdigkeiten, sondern Orte, an denen von der Mitte der 60er-Jahre bis zur Nachwendezeit Jugendliche und Studenten aufbegehrten, Oppositionelle wohnten, an denen Pamphlete gedruckt, Häuser besetzt, Lesungen abgehalten und Aufstände geplant wurden.
    Ganz im Westen die Waldbühne, die die Besucher eines Konzerts der Rolling Stones 1965 in Schutt und Asche legten und am östlichen Ende Friedrichshain, wo nach der Wiedervereinigung der Stadt in den frühen 90ern der Häuserkampf tobte. Dazwischen die Treffpunkte der 68er, Orte wie die Kommune 1, der erste alternative Kinderladen, Verstecke von Terroristen der RAF und der Bewegung 2. Juni, die Wohnung von Wolf Biermann oder die Kirchen, in denen sich DDR-Oppositionelle trafen.
    Michael Sontheimer: "Und dann ist es so, dass sich eine gewisse Topografie der Revolte ergibt. Wenn man sieht, dass sich in der Studentenbewegung in Kreuzberg noch gar nicht viel abgespielt hat, sondern alles in Charlottenburg/Wilmersdorf. Und dann wird Kreuzberg so erobert, mit 'Ton Steine Scherben' und den Hippies und Anarchos. Und dann spielt sich ganz viel in Kreuzberg ab. Und in Ost-Berlin ist es auch so, dass man sehen kann: Prenzlauer Berg war der Schwerpunkt der DDR-Opposition. Das heißt, für mich spannt sich so ein Netz über die Stadt und das wollten wir zum Teil weitergeben."
    Chronik kleiner und großer Aufstände
    Michael Sontheimer zog als Schüler nach West-Berlin, wurde Hausbesetzer und gründete mit anderen die taz, deren Chefredakteur er später wurde. Gemeinsam mit Co-Autor Peter Wensierski, der schon früh über die sozialen Kämpfe in West-Berlin und später als Korrespondent über die Ost-Berliner Unangepassten schrieb, suchte er Zeitzeugen auf, ging Archive durch und rief eigene Erinnerungen wach.
    Daraus haben die Autoren eine besondere Chronik dieser bewegten rund 30 Jahre verfasst, die Berlin und das Land geprägt haben. Sontheimer und Wensierski haben ihr Buch grob thematisch und chronologisch unterteilt in das Aufbegehren der 60er-Jahre, den ersten Widerstand im Osten, die Radikalisierung der West-Linken, das Erstarken der Ost-Berliner Opposition, die Hausbesetzerszene der 80er-Jahre und schließlich den Weg bis zum Ende der DDR.
    Innerhalb dieser Blöcke sind es die Kulissen und Schauplätze der kleinen und großen Aufstände, die ihre Erzählung bestimmen. Das macht die Geschichte der Revolte nicht nur besonders anschaulich. Die beschriebenen Orte und Ortswechsel machen auch Bewegungen in der Szene deutlich, sie zeichnen Beziehungen und Entwicklungen nach, sagt Michael Sontheimer:
    "Eine gewisse Parteilichkeit sollte man nicht verhehlen für diejenigen, die revoltiert haben. Meine Erfahrung ist: von der Regierung, unserer schönen Landesregierung kommt eigentlich nichts, was die Stadt voranbringt. Es waren immer Subkulturen, außerparlamentarische Bewegungen, die überhaupt mal irgendwas in Bewegung gebracht haben. Und von daher sehe ich das als so eine Art unterbelichteten Teil der Berliner Stadtgeschichte. Und dem wollte ich zu seinem Recht verhelfen."
    Orte der Subkultur
    Besonders macht das Buch, dass Sontheimer und Wensierski nicht nur die Rebellion in West-Berlin nacherzählen, sondern auch die Geschichten derer, die in Ost-Berlin aufbegehrten - und die Begegnungen beider Seiten. Dazu kam es zum Beispiel, als der Ost-Berliner Journalist und angehende Schriftsteller Klaus Schlesinger 7.000 Ostmark sammelte und aus Solidarität Bauhelme und Regenmäntel für die APO-Aktivisten jenseits der Mauer kaufte, damit die sich besser vor den Wasserwerfern und Knüppeln der West-Berliner Polizei schützen konnten. West-Aktivisten reisten daraufhin über die innerstädtischen Grenzübergänge, um sich bei den Mitstreitern im Osten die Ausrüstung abzuholen.
    Zitat aus dem Buch: "An diesem Wochenende Ende April 1968 kam es zwischen jungen Ost-und West-Berliner Linken zu aufregenden Begegnungen. Sie diskutierten intensiv miteinander. Über den Krieg in Vietnam, die Revolte in Paris, den ideologischen Frühling in Prag."
    Auch Treffpunkte wie das baufällige Haus in der Fehrbelliner Straße 7 in Prenzlauer Berg, in das in den 70er- und 80er-Jahren Ost-Berliner Musiker, Künstler und Politaktivisten zogen, seien für ihn eine Entdeckung gewesen, berichtet Sontheimer.
    Es seien ohnehin die weniger populären Orte gewesen, die ihn besonders gereizt hätten: "Denn ich denke, es geht ja nicht nur um den Ort, an dem Rudi Dutschke 1968 angeschossen wurde, sondern es geht ja auch um Orte der Subkultur."
    Zu einer Analyse der Revolten schwingen sich Michael Sontheimer und Peter Wensierski nicht auf. Sie erzählen, ohne dabei einen großen Deutungsanspruch erkennen zu lassen, und stellen es den Lesern frei, die Punkte zu verbinden. Das macht das Buch gerade in diesem Jubiläumsjahr, in dem wieder allerorten über die Bedeutung von 1968 debattiert wird, angenehm unprätentiös.
    Gen der Revolte
    Die Autoren lassen subjektiv gefärbte Berichte von Beteiligten und Augenzeugen einfließen und werden kaum ausschließen können, dass die eine oder andere - womöglich auch persönliche - Erinnerung über die Jahre etwas Schlagseite bekommen hat. Das räumen sie freimütig ein, nach Sigmund Freud, demzufolge die Jahre, in denen man gekämpft hat, rückblickend die schönsten seien.
    Wenn Städte Erbmaterial besitzen, so Sontheimer und Wensierski, würden sie Berlin ein Gen der Revolte zuschreiben. Schon die Demokraten von 1848 hätten hier gekämpft, wie auch kommunistische Arbeiter 1919.
    Wie es kommt, das hier so gern aufbegehrt wird, können auch sie nicht abschließend beantworten. Und hat der Geist der Revolte in Berlin überlebt? Diese Antwort wollen die Autoren Jüngeren überlassen. Für eine historische Betrachtung sei es zu früh, sagt Michael Sontheimer: "Eine Prognose ist leichtfertig, denn gerade wenn man es nicht erwartet, springt irgendein Funke über und plötzlich gibt es eine politische Bewegung."
    Bis dahin lassen sich mit diesem Band trefflich die Orte erkunden, an denen die Revolte einst getobt hat.
    Michael Sontheimer und Peter Wensierski: "Berlin. Stadt der Revolte",
    Ch. Links Verlag, 448 Seiten, 25 Euro.