Archiv

Michael Wildenhain
Parabel über Schuld

Der 1958 geborene Autor Michael Wildenhain arbeitet sich immer wieder an den Widersprüchen zwischen politischen Programmen und den Möglichkeiten des einzelnen ab. Seinen neuen Roman "Das Lächeln der Alligatoren" sieht Wildenhain selbst "abseits aller zeitgeschichtlichen Panoramen" - dafür eher als "eine Parabel über Schuld".

Von Detlef Grumbach |
    Der Schriftsteller Michael Wildenhain posiert am 12.03.2015 auf der Buchmesse Leipzig (Sachsen).
    Der Schriftsteller Michael Wildenhain auf der Buchmesse Leipzig. (picture alliance / dpa - Jens Kalaene)
    "Im Kern ist es eine Liebesgeschichte weit abseits der eigentlichen politischen Ereignisse, die dann erst später ins Bild rücken. Es ist auch eine Familiengeschichte, insofern, dass eine Brüderkonstellation sehr wichtig ist, und damit bin ich auch schon beim Kern des Themas, jedenfalls so, wie ich den Roman sehe. Für mich ist dieses Buch abseits aller zeitgeschichtlichen Panoramen, man könnte fast sagen, eine Parabel über Schuld."
    Drei Begegnungen
    Drei Mal begegnen sich Marta und Matthias innerhalb der 30 Jahre, die der Roman umspannt: das erste Mal 1972 auf der Insel Sylt. Matthias ist 15 und besucht widerwillig mit seiner Mutter den behinderten Bruder Carsten, der dort in einem Heim lebt. Er verliebt sich in die drei Jahre ältere Marta, die sich um Carsten kümmert und ihn damals noch vergeblich animiert, sich stärker zu Carsten zu bekennen. Das zweite Mal begegnen sie sich 1977 in Berlin. Matthias lebt nach dem Tod seiner Mutter bei seinem Onkel, einem Mediziner, der jetzt sein Stiefvater ist. Er studiert Informatik, beschäftigt sich mit künstlicher Intelligenz und besucht einen Vortrag über Kognitionswissenschaft.
    Marta stört die Veranstaltung durch kritische Fragen, Matthias springt ihr bei, sie kommen zusammen. Marta ist Teil einer radikalen politischen Gruppe, es geht um die Geschichte der Eugenik, um die RAF. Als Matthias etwas eher als erwartet aus einem Urlaub nach Hause kommt, wird er Zeuge, wie Marta seinen Stiefvater erschießt. Der Grund: Er war als junger Arzt einer der Protagonisten der Nazi-Eugenik und vertritt seine damaligen Positionen etwas kaschiert noch immer.
    Das dritte Mal sehen sie sich, als Matthias 45 ist und seine Antrittsvorlesung in vergleichender Kognitionswissenschaft hält. Die aus der Haft entkommene Marta sitzt im Publikum, die beiden treffen sich, fahren nach Sylt zum Bruder Carsten. Marta lockt dabei heimlich die Polizei auf ihre Fährte. Bei deren Versuch, sie festzunehmen, wird sie vor Matthias Augen erschossen.
    "Das Lächeln der Alligatoren" nennt Michael Wildenhain seinen in drei Kapiteln streng durchkomponierten Roman, den er in eher lose nebeneinander stehenden Episoden erzählt. Im Zentrum stehen die Fragen nach der Schuld, der Erinnerung und dem Verstehen. Der leibliche Vater von Matthias hat die Familie wegen Carstens Behinderung schon früh im Stich gelassen. Matthias Stiefvater und seine Geliebte Marta haben tödliche Schuld auf sich geladen und sie haben Matthias getäuscht. Und er selbst wird von Kind an von dem Gedanken geplagt, dass er es war, der durch eine Unvorsichtigkeit beim Spielen für die Behinderung Carstens verantwortlich ist. Matthias hat keinen politisch motivierten, keinen ideologischen Blick auf die Geschehnisse. Er ist ihnen eher ausgeliefert - und er muss irgendwie damit umgehen.
    "Er ist eher frappiert, als bestimmte Dinge passieren, und das wird ja auch formal klar gemacht. Immer dann, wenn sich Dinge zutragen, die ihn extrem betreffen, dann fällt er aus der Welt und das zeigt sich daran, dass er in die dritte Person zurückfällt, so wie das Buch auch anfängt. Er geht sehr wohl mit den Fragen um und er geht mit den Fragen auch auf eine für ihn sehr intensive Weise um. Der zweite Punkt, der ihn persönlich sehr stark umtreibt, ist ja, dass sie ihn letztlich instrumentalisiert hat."
    Matthias im Roman ist etwa so alt wie Michael Wildenhain. Der 1958 geborene Autor ist in Westberlin aufgewachsen. Seit seinem Debüt im Jahr 1983 hat er sich zu einem Chronisten der linksautonomen politischen Szene Berlins entwickelt und richtet dabei sein Augenmerk auf das Auseinanderklaffen hoher politischer Ansprüche und den konkreten Möglichkeiten der handelnden Subjekte. Zuletzt erschien sein Roman "Träumer des Absoluten". Jochen und Tariq, Sohn libanesischer Migranten, werden schon in Schule zu Freunden, weil Jochen den unbeugsamen Stolz Tariqs akzeptiert und ihm in einem existenziellen Konflikt beisteht. Beide werden Teil der Berliner Hausbesetzerszene, die Rigorosität Tariqs führt aber schließlich zum Zerwürfnis. In seinem neuen Roman evoziert Wildenhain Bilder eines radikalen Antifaschismus' und des Deutschen Herbsts.
    Verstehen von inneren Vorgänge
    Matthias Stiefvater erinnert an die reale Figur Werner Catel, der am Kinder-Euthanasieprogramm der Nazis beteiligt war. Kastel, so der Name der Roman-Figur, wird im Herbst 1977 als Experte in Fragen der Zwangsernährung von RAF-Häftlingen hinzugezogen. Marta und ihre Gruppe wollen ihn eigentlich entführen. Das Scheitern des Plans und der Tod Kastels erinnern an die versuchte Entführung und Erschießung Jürgen Pontos. Doch geht es nicht vordergründig um die ohnehin stark verfremdeten Ereignisse, die auch das Leben des Autors mit geprägt haben. Es geht darum, wie diese in die Gegenwart hineinwirken, wie Matthias damit konfrontiert wird und welche Haltung er zu ihnen einnehmen soll.
    "Es geht um das Verstehen innerer Vorgänge. Verstehen bedeutet ja immer: Unterwerfen unter ein bestimmtes Interpretationsmuster: Hat Marta mich tatsächlich geliebt? Hat sie mich nur benutzt? Ist es beides, ist es eine Ambivalenz? Bin ich wirklich nur instrumentalisiert worden und Werkzeug? Und dazu versucht er, zu einem Interpretationsmuster zu finden, das ihm genehm ist, aber er ist sich gleichzeitig darüber bewusst, dass er, ja, einen Rahmen über das Ganze stülpt und damit bestimmte Aspekte unter Umständen wegschneidet."
    "Vielleicht ist es falsch, sich zu erinnern - sich zu erinnern, um zu verstehen und dem Geschehen im Nachhinein einen Sinn zu geben", heißt es ziemlich am Anfang des Romans: "Vielleicht wäre es nötig, alles noch einmal zu erleben, schneller - oder langsamer und jedenfalls, als sei es wieder erste Mal." Matthias misstraut der Erinnerung, eine Haltung, die Wildenhain durch ein manchmal etwas hakendes Erzählpräsenz unterstreicht. Die Haltung geht nicht auf, sie kann gar nicht aufgehen. Das ist dem meist in der ersten Person agierenden, nur manchmal in die dritte Person wechselnden Erzähler bewusst, und es führt dazu, dass es manchmal knirscht in den Satzkonstruktionen. Doch das nimmt der Autor in Kauf, es verweist in der Figur des Erzählers auf ein gesellschaftliches Problem: Der Versuch einer Gesellschaft, sich über zentrale Ereignisse zu verständigen - ob Nazi-Erbe oder RAF - führt, so Wildenhain, schnell zu einer verfälschende Vereinnahmung, durch wen auch immer. Dagegen stellt er die Ereignisse in einen auf das ganze Leben seiner Figuren angelegten Kontext und erklärt:
    "Dass für mich Kern von Literatur auch so etwas ist wie sich langen Verläufen zu widmen, also langen Zeiträumen, und sich dadurch der Zeitgeschichte anzunähern und in spezifischer Weise tatsächlich zu erinnern. Aber eben mit subjektiver Einfärbung."
    Politisches Verständnis von Literatur
    Matthias hat sich getäuscht und ist getäuscht worden: über und von Marta, die er aber auch nach dem Mord an seinem Stiefvater nicht hassen kann, über und von seinem Stiefvater, der ihm ein Zuhause gegeben hat und dem Bruder das Recht auf Leben abspricht. "Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen", der Satz Faulkners, der in der Literatur immer wieder zitiert wird, könnte auch als Motto über Wildenhains auf intelligente und unterhaltsame Art und Weise fordernden Roman stehen. Matthias muss sich mit Fragen beschäftigen, die für ihn existenziell sind, vor denen aber auch die Gesellschaft als Ganze steht. Er muss sich erinnern und ist sich bewusst, dass er Marta, seinem Stiefvater, aber auch sich selbst nicht gerecht werden kann. Wildenhains Absage an vorschnelle und oft bequeme Deutungsmuster, sein Verzicht, den herrschenden Mustern in der Person von Matthias ein anderes entgegenzusetzen, machen sein politisches Verständnis von Literatur aus, sie versetzen seine Leserinnen und Leser in eine produktive Unruhe.
    "Also bei Brecht gibt es ein Lehrstück und es gibt eine Lehre. Und bei mir gibt es ein Lehrstück, wenn man so will, ein Dilemma, und es gibt keine Lehre. Es ist nicht didaktisch und es ist wird nicht aufgelöst. Ich glaube, der Unterschied liegt darin, dass Brecht zumindest in der Phase seiner Lehrstücke einen großen Geschichtsoptimismus hatte, trotz sich ankündigender finsterer Zeiten, und ich habe diesen Geschichtsoptimismus absolut nicht. Insofern stehen bei mir am Ende ganz wesentliche Widersprüche ganz unversöhnlich einander gegenüber und lösen muss sie der Leser. Also der muss damit umgehen, und das ist der Zweck der ganzen Geschichte, der Zweck der Übung, wenn man so will."