"Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die mich umgeben, ebenso frei sind wie ich."
Das war die Lebensphilosophie von Michail Alexandrowitsch Bakunin. Er gilt als Begründer des Anarchismus. Als Spross einer aristokratischen Familie wurde er am 30. Mai 1814 in einem kleinen Ort der zentralrussischen Provinz Twer - rund 200 Kilometer von Moskau entfernt - geboren. Mit zehn Geschwistern wuchs Bakunin in einem liberalen, westlich orientierten Elternhaus auf. Er wird als aufbrausender Charakter beschrieben, der sich gegen Unrecht und Autorität auflehnte. Wolfgang Eckhardt, Bibliothekar, Autor und Bakunin-Experte:
"Er ist sozusagen ein Rebell von Natur aus, ein geborener Rebell gewesen. Bakunins Hauptthema ist schon in seiner Jugendphase - und das ist ihm erhalten geblieben bis zum Schluss - die Idee der Befreiung von Herrschaft."
Dazu passte kaum der militärische Drill, dem sich Bakunin - nach Wunsch seines Vaters - in einer Karriere als Artillerie-Offizier hätte unterwerfen müssen. Er quittierte den Militärdienst, den er als 14-Jähriger begonnen hatte, und zog nach Moskau. Mit Gleichgesinnten - wie dem Literaturkritiker Wissarion Belinski oder dem Sozialisten Alexander Herzen - teilte er die Leidenschaft für deutsche Philosophie, studierte Kant, Fichte und Schelling und avancierte zum besten russischen Hegel-Kenner seiner Zeit. Später erinnerte er sich allerdings:
"Ich überzeugte mich ziemlich rasch von der Nichtigkeit und Eitelkeit der ganzen Metaphysik. Ich suchte Taten, sie aber ist die absolute Untätigkeit".
Ab 1840 reiste er rastlos durch Europa. Inspiriert von politischen Freunden wie dem französischen Frühsozialisten Pierre-Joseph Proudhon, entwickelte er seine Ideen eines antiautoritären Sozialismus:
"Anarchismus ist sozialrevolutionär, weil er nichts hält von einer Teilnahme an Herrschaftsverhältnissen, sondern er propagiert die Verweigerung dieser Teilnahme und die Auflösung dieser Herrschaftsverhältnisse und die Schaffung neuer, freiheitlicher Gemeinschaftsformen."
Lebenslange Feindschaft mit Karl Marx
Handwerkerbünde, Berufsgenossenschaften, gemeinschaftlich organisierte Speiselokale oder Bildungsstätten - Bakunin plädierte für Assoziation und Vergemeinschaftung des Zusammenlebens - frei von jeglicher staatlich geprägter oder klerikaler Fremdbestimmung. Für diese Ideale ging Bakunin in den Freiheitsbewegungen ab 1848 überall in Europa auf die Barrikaden: In Frankfurt, Dresden, Paris oder Prag. Er wollte die Revolution von unten:
"Demgegenüber stand die Idee von Marx, diese von unten gewachsenen, organischen Strukturen abzuschaffen, zugunsten von Parteien."
Karl Marx und Bakunin verband eine lebenslange Feindschaft. Marx und Engels lästerten in ihren Briefen über den "fetten Russen", der sich anmaße, sich an die Spitze er Arbeiterbewegung zu stellen. Bakunin dagegen sah in der "Diktatur des Proletariats" den kommunistischen Staatsterror voraus, der im 20. Jahrhundert Wirklichkeit wurde. Zum endgültigen Bruch zwischen Marxisten und Anarchisten kam es im September 1872 beim fünften Kongress der "Ersten Internationale" in Den Haag. Ein Ausschluss Bakunins aus der 1864 gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation, sei jedoch nirgends anerkannt worden - so Wolfgang Eckhardt:
"In Wahrheit haben sich Marx und Engels mit ihrem Gewaltstreich, ihr Minderheitenprogramm durchsetzen zu wollen, aus der Internationale rausgekickt und die Organisation ist dann ihren eigenen Weg gegangen - ohne Marx und Engels."
Als Gegenbewegung etablierte sich die "Antiautoritäre Internationale". Sie überlebte die Organisation Marxscher Prägung um mehrere Jahre. Während dieser Auseinandersetzungen hatte die letzte Lebensphase Bakunins bereits begonnen. Nach acht Jahren Kerker in Deutschland, Österreich und Russland und vier Jahren in sibirischer Verbannung, aus der er 1861 entflohen war, war er gesundheitlich schwer angeschlagen. Die Zeit, die ihm noch blieb, nutzte er trotzdem ausgiebig für revolutionäre Aktivitäten. Er agitierte die Arbeiterbewegung in Spanien, war Inspirator der Anarchisten in Italien, versuchte die "Internationale Liga für Frieden und Freiheit" bei ihrem Gründungskongress in Genf zu radikalisieren und nahm trotz Krankheit an einem Aufstand in Bologna teil. 1876 starb er in Bern. Für Wolfgang Eckhardt ist Bakunin bis heute ein "intellektueller Geheimtipp":
"Die Frage ist einfach: Wie wollen wir leben? Und ein Denker, der dazu Antworten und Anregungen geben kann, der ist aktuell wahrscheinlich noch im nächsten Jahrhundert."