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Michi Strausfeld über Südamerika
Zu viele Strukturen stammen noch aus Diktaturen

Junge Lateinamerikaner träumen von "Chancengleichheit, Demokratie, von Rechtsstaat, von Gewaltenteilung, die funktioniert", so Michi Strausfeld im Dlf. Die Literaturwissenschaftlerin, die auch Kulturvermittlung betreibt, hält soziale Ungleichheit für das größte Problem des Kontinents.

Michi Strausfeld im Gespräch mit Dirk Fuhrig |
Die Literaturwissenschaftlerin Michi Strausfeld
Die Literaturwissenschaftlerin und Lektorin Michi Strausfeld analysiert die Umbrüche in Lateinamerika (Deutschlandradio / Torben Waleczek)
Die Literaturwissenschaftlerin Michi Strausfeld sieht die soziale Ungleichheit als Hauptursache für die Unruhen in Lateinamerika. Dabei müsse man in die Geschichte zurückblicken: Viele Länder hätten es nicht geschafft, die in der Kolonialzeit geprägten gesellschaftlichen Klassenstrukturen zu überwinden. Der Großgrundbesitz sei nicht aufgeteilt worden.
Nach der Revolution in Kuba 1959 habe man geglaubt, die Dominanz der USA auf dem Kontinent überwunden zu haben. "Die Ernüchterung über die kubanische Revolution hat dazu geführt, dass die jüngeren Leute nicht mehr von einer Revolution träumen." Aber "die Menschen in Lateinamerika wollen demokratische Strukturen, die funktionieren", so Strausfeld. "In Chile gibt es eine Verfassung, die noch aus der Zeit von Pinochet stammt. Da sagt man, da sind viel zu viele diktatoriale Strukturen erhalten geblieben, wir wollen eine neue Verfassung". "Der Diktator", so zitiert Strausfeld den Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez, sei "der Beitrag Südamerikas zu den Gestalten der Weltliteratur. Was natürlich ein bisschen trist ist."
Epoche der politischen Intellektuellen ist zu Ende
Mit Blick auf die politisch engagierten Intellektuellen betrachtet Strausfeld diese Epoche "mit dem Tod von Octavio Paz, Carlos Fuentes, García Márquez" als beendet. Mario Vargas Llosa sei der letzte dieser Meisterdenker. "Sehr oft bin ich einverstanden", sagt Strausfeld, mit dem, was er alle zwei Wochen in seiner Kolumne in der Zeitung "El País" schreibt. "Und genauso oft bin ich natürlich überhaupt nicht einverstanden. Die jungen Menschen halten Vargas Llosa jetzt auch für viel zu liberal, für viel zu reaktionär. Und manche Texte sind auch so, dass junge Menschen sie nicht nachvollziehen können."
Aber Strausfeld lobt den neuen, gerade auf Spanisch erschienenen Roman von Vargas Llosa, in dem er sich mit dem Präsidenten von Guatemala, Jacobo Árbenz beschäftigt, der von der CIA gestürzt wurde, "weil sie die Interessen der "United Fruit Company", also ihre eigenen Wirtschaftsinteressen, wahren wollten. Und da ist Vargas Llosa wieder hoch politisch, und er sagt: Der Sturz von Árbenz hat den ganzen Kontinent um Jahrzehnte zurückgeworfen. Wenn er an der Macht geblieben wäre, wäre die Entwicklung in Mittelamerika ganz sicher eine völlig andere gewesen."
Die Literatur Lateinamerikas verändert sich
Michi Strausfeld plädiert dafür, dass sich Europa stärker mit den Ländern Lateinamerikas auseinandersetzt. "Es wäre im politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, ökologischen Interesse, dass wir diese Verbindungen neu anknüpfen, stärken und vor allen Dingen regelmäßig pflegen." Was die Literatur angehe, so würden "weiterhin sehr spannende Texte geschrieben, die auch zu einem größeren Teil sogar in Deutschland publiziert werden, aber sie finden nicht mehr das Echo von früher, weil man sagt: Es ist kein magischer Realismus mehr. Aber natürlich ist es kein magischer Realismus mehr, denn die neuen Autoren sind in den Megacitys groß geworden, mit Gewalt." Strausfeld hält es für sehr wichtig, zu verstehen, wie deren Alltag ist: "Wie leben sie, wovon träumen sie, was sind ihre Hoffnungen? Und das wird in der Literatur vorzüglich wiedergegeben, und das politische Engagement, das ist immer da."