Wer sich zur Migration oder Flucht in ein fremdes Land entschlossen hat, ist meistens sehr willensstark und physisch belastbar. Psychisch gesehen jedoch weisen Migranten ein erhöhtes Risiko auf, depressiv zu werden, an Angststörungen oder Schizophrenie zu erkranken. Vor allem bei der Schizophrenie sind es nicht die negativen Erfahrungen aus dem Herkunftsland, sondern Diskriminierung und soziale Ablehnung in den Einwanderungsländern, die die Krankheit bei den Betroffenen auslösen.
Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass Migration eine besondere Form von sozialem Stress zu sein scheint, der die Psyche schädigen und das Gehirn verändern kann. Und zwar nicht nur bei Flüchtlingen, die schon von vornherein traumatisiert sind - auch Migranten der zweiten Generation sind gefährdet.
"35 Prozent unserer Patientinnen und Patienten haben Migrationshintergrund, Durchschnittszahlen von 2014!"
Der aus der Türkei stammende Psychotherapeut Ali Gün muss das Interview in seinem Dienstzimmer der Psychiatrischen Klinik des Landschaftsverbands Rheinland in Köln kurz unterbrechen. Eine dringende Mail kommt an. Ein Psychiater bittet um Hilfe bei der Behandlung eines Patienten mit Migrationshintergrund. Das sei schon die dritte Mail wegen dieses Patienten, sagt Ali Gün, der Integrationsbeauftragter seiner Psychiatrischen Klinik ist. Über mangelnde Arbeit könne er nicht klagen.
"So sehe ich in meiner täglichen Praxis sehr viele Migranten und Migrantinnen, sind also wegen depressiver Erkrankungen bei uns in Behandlung, wegen suizidaler Krisen, bei den Jugendlichen Doppeldiagnosen, also Drogenabhängigkeit und eine psychische Erkrankung, und so weiter und sofort."
Die Diskussion, ob Migranten überdurchschnittlich häufig psychisch erkranken, hat durch die aktuelle Flüchtlingsbewegung neue Brisanz gewonnen. Sie wird aber schon seit vielen Jahren geführt, wobei sich immer wieder auch Kritiker zu Wort melden. Sie meinen, die Forschungsergebnisse würden nicht generell belegen, dass Migranten häufiger psychisch krank werden als andere Bevölkerungsteile.
Wenn Ali Gün diese Kritik hört, erzählt er gern von einem seiner vielen Fälle. Zum Beispiel von einem Syrer, der seine ganze Familie verloren hatte und nach Deutschland kam.
Wenn Ali Gün diese Kritik hört, erzählt er gern von einem seiner vielen Fälle. Zum Beispiel von einem Syrer, der seine ganze Familie verloren hatte und nach Deutschland kam.
"Weil er aber Bekannte in Köln hat, möchte er nach Köln, hat sogar hier eine Wohnung in Aussicht, aber konnte nicht in diese Wohnung rein, weil Schwierigkeiten aufgetaucht sind.
Und dieser Patient ist auf der Straße geblieben und hat also zunehmend Flashbacks bekommen und die posttraumatischen Belastungssymptome sind akuter geworden und im Zuge dessen ist er suizidal geworden, das heißt, er hatte Lebensüberdrussgedanken, wollte sterben, wollte nicht mehr leben. Und deswegen ist er in unsere Klinik gekommen."
Der Mann hoffte, in Deutschland einen sicheren Ort zu finden - und wurde enttäuscht.
"Das ist allerwichtigste Bedingung erst einmal, wenn die Menschen aus Kriegsgebieten kommen, traumatisiert sind. Aber dann ging es weiter um die Existenzprobleme. Jedes Ereignis, das ihm das Gefühl vermitteln kann, es wird doch nicht klappen, ich bin doch unsicher, wird ihn aus den Bahnen werfen und wird ihn zur Re-Traumatisierung führen."
Schizophrenie bei Migranten
Neuere Studien zeigen, dass Flüchtlinge und Migranten tatsächlich in besonderem Ausmaß gefährdet sind. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den psychischen Erkrankungen. Bei Depressionen spielt zum Beispiel eine Rolle, woher die Migranten kommen, wie ihre Biografie verlaufen ist und welches Schicksal sie erlitten haben.
"Beispielsweise wenn eine Traumatisierungssituation jetzt gerade vorliegt, also beispielsweise bei Flüchtlingen ja häufig, bei den Gruppen, die jetzt gerade aus Syrien kommen, ist eine hohe Anzahl traumatisierter Personen. Das hat natürlich auch einen Effekt auf Symptome der Depression und Angst."
Andreas Meyer-Lindenberg ist Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim und forscht selbst zur psychischen Gefährdung von Migranten. Für ihn ist die Forschungslage eindeutig: Jemand, der bereits schreckliche Erfahrungen in seinem Herkunftsland machte und fliehen musste, besitze ein zwei-bis dreifach erhöhtes Risiko, anschließend depressiv zu werden, an einer Angsterkrankung oder posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden.
"Interessanterweise ist es aber so, dass das für das Schizophrenierisiko keinen großen Einfluss zu haben scheint. Also das scheint tatsächlich egal zu sein, ob ich jetzt emigriere, weil ich es will, oder ob ich emigriere, weil ich vertrieben worden bin. Das Risiko ist um dasselbe erhöht."
Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit besitzen Migranten ein bis zu dreifach erhöhtes Risiko, an Schizophrenie zu erkranken. Schizophrene haben Denkblockaden, ihr Sprechen und Fühlen ist gestört, sie verlieren oft völlig den Bezug zur Realität und entwickeln Wahnvorstellungen.
Obwohl es sich also um eine schwere psychische Erkrankung handelt, kann sie Migranten unabhängig davon treffen, wie schwer ihr bisheriges Schicksal war. Es ist offenbar auch völlig gleich, aus welchem Land und aus welcher Bevölkerung sie kommen und in welche sie hinein wachsen.
"Weil es eine ganze Reihe von Studien gibt, die zeigen, dass bei unterschiedlichen Populationen das Risiko sich genauso erhöht, wenn die Leute aus Population A nach Population B auswandern wie von Population B nach Population A, also genetische Unterschiede, die es natürlich gibt zwischen einzelnen Ländern, scheinen dabei überhaupt keine große Rolle zu spielen."
Lange hielt sich das Argument, Einwanderer würden nur deshalb häufiger psychisch krank werden, weil sie schon von Haus aus gesundheitlich beeinträchtigt seien. Das ist inzwischen eindeutig widerlegt, sagt Andreas Meyer-Lindenberg:
"Die Migration ist anstrengend, man muss eine Menge Dinge organisieren, man muss sich dazu entschließen und wenn man sich Migranten im Heimatland anguckt, also Leute, die den Entschluss gefasst haben, dann sind die eher gesünder als ihre Landesgenossen im Land. Und das macht es umso erstaunlicher, dass dann dieses Schizophrenierisiko in der neuen Situation auftritt."
Für Andreas Meyer-Lindenberg ist daher nur ein Schluss möglich:
"Wichtig ist das Leben in der Lebenswelt, die nicht die ist, in der ich selber aufgewachsen bin."
Nicht die Herkunft, nicht das bisherige Lebensschicksal, sondern die Situation und die Probleme in den Einwanderungsländern selbst führen zum erhöhten Schizophrenierisiko von Migranten. Das wird auch dadurch bestätigt, dass die Krankheitsanfälligkeit nach der ersten Einwanderer-Generation nicht einfach aufhört. Im Gegenteil.
"Auch bei den Kindern der Migranten, also den Zweitgenerationsmigranten, ist das Risiko genau so stark erhöht, also da denken wir auch, dass das Risiko nach den großen Studien so um 300 Prozent erhöht ist."
"Also ich unterscheide immer zwischen subtilen Erfahrungen, also subtilen Diskriminierungserfahrungen, und konkreten und offenen, die mir tatsächlich lieber sind, denn die subtilen regen mich eher zum Nachdenken und Grübeln an, als jemand, der offensichtlich einen ganz klaren Standpunkt hat."
Sozialer Stress als Krankheitsauslöser
Canan Koc ist eine junge Türkin, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Sie gehört also zur zweiten Migrantengeneration.
"Also wenn ich jetzt in der Bahn sitze und jemand neben mir rassistische Lieder laut singt, das ist für mich offensichtlich. Dann weiß ich, dieser Mensch hat seine Ansichten und damit kann ich eher umgehen und dann kann ich eher sagen, okay, der ist so wie er ist.
Subtil ist für mich sehr viel schwieriger damit umzugehen, wenn ich im Alltag diese kleinen Erfahrungen mache, wenn ich jemanden neu kennenlerne und die Person macht mir ein Kompliment und sagt " Oh, du siehst überhaupt nicht türkisch aus". Das regt mich zum Nachdenken an, weil ich mich dann frage, Okay, die Absicht war wahrscheinlich positiv, aber ausgelöst hat es in mir etwas ganz anderes: Wut!
Subtil ist für mich sehr viel schwieriger damit umzugehen, wenn ich im Alltag diese kleinen Erfahrungen mache, wenn ich jemanden neu kennenlerne und die Person macht mir ein Kompliment und sagt " Oh, du siehst überhaupt nicht türkisch aus". Das regt mich zum Nachdenken an, weil ich mich dann frage, Okay, die Absicht war wahrscheinlich positiv, aber ausgelöst hat es in mir etwas ganz anderes: Wut!
Das ist genau das, was ich meine, dass einem immer wieder permanent verdeutlicht wird, dass man eben nicht dazu gehört, warum auch immer oder permanent immer wieder subtil Zeichen kommen: Man ist anders. "
Womöglich reagieren Vertreterinnen und Vertreter der zweiten Generation sogar noch sensibler auf Signale der Ausgrenzung als ihre Eltern. Für den Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg ist es jedenfalls kein Zufall, dass Canan Koc auch solche subtilen Situationen als stressig bezeichnet. Denn der sogenannte "soziale Stress" ist die unangenehmste Form von Stress überhaupt und ein Risikofaktor für psychische Krankheiten wie Schizophrenie.
"Ein nicht sozialer Stress ist Schmerz, also beispielsweise ich lege meine Hand in einen Eimer mit kaltem Wasser, das ist ein Experiment was häufiger mal gemacht wird, das ist unangenehm, aber nicht gefährlich, und das stresst. Aber wenn man einfach eine kleine Kamera daneben stellt und die Leute also den Eindruck haben, sie werden beobachtet, während sie diesen Schmerz aushalten, dann ist der Schmerz subjektiv höher und dann ist auch der Stress dramatisch höher. Also sozialer Stress in diesem Sinne ist für Menschen der stärkste Stress."
Grunderfahrung des Andersseins
"Etwas ist anders mit mir und ich werde dabei von anderen beobachtet und bewertet". Das ist eine Grunderfahrung von Migranten. Ein Team um die Neuropsychologin Heike Tost konnte kürzlich am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit zeigen, dass sozialer Stress das Gehirn von Migranten besonders stark beeinflusst. Ihre Gefühlsareale reagierten auf sozialen Druck viel aktiver als bei hier Geborenen. Offenbar können Migranten sozialen Stress weniger gut regulieren und verarbeiten. Der Kölner Psychotherapeut Ali Gün kann das sehr gut mit Erfahrungen in seiner Arbeit in Verbindung bringen.
"Wenn sie Gruppenarbeiten machen mit Migrantinnen und Migranten und nicht nur fragen, wie ist die Ausländerfeindlichkeit oder diese gesellschaftliche Entwicklung, Ablehnung, Diskriminierung der Migranten, sondern wenn sie die Frage stellen: Wie erleben Sie das? Sie persönlich? Dann fangen die Menschen nach einer gewissen Erwärmungsphase an zu weinen, weil sie selber Erfahrungen haben. Ich habe hier im Laufe dieser Jahre, wo ich hier arbeite, mehrere, ich kann nicht aufzählen wie viele, Menschen erlebt, die sich diskriminiert gefühlt haben, die sich gemobbt gefühlt haben, aufgrund ihres Aussehens, und ihrer Hautfarbe, aufgrund ihrer Herkunft und so weiter."
Heike Tost konnte in den Mannheimer Experimenten nachweisen, dass sich auch solche Erfahrungen direkt im Gehirn niederschlagen.
"Da den theoretischen Modellen nach ein ganz plausibler Faktor auch Diskriminierungserfahrungen sind bei Menschen, die einer ethnischen Minderheit angehören, haben wir das auch erhoben und haben geguckt, ob da ein Zusammenhang zu sehen ist und es war eben in der Tat der Fall. Genau in dem Areal, was hyperaktiv war, hat man auch gesehen; die Menschen, die der Auffassung waren, dass ihre eigene ethnische Gruppe in der deutschen Gesellschaft besonders stark diskriminiert wird, die haben da auch die größten Sensibilisierungen gezeigt."
Es war weniger das Gefühl, als einzelne Person oder mit seiner Familie ausgegrenzt zu werden. Vielmehr belastete die Migranten vor allem die Erfahrung, als Mitglied einer Gruppe ethnisch diskriminiert zu werden. Ich bin als Türke, Nigerianer oder Libanese diskriminiert und dem als Individuum ohnmächtig ausgeliefert. Je stärker die Betroffenen davon überzeugt waren, umso sensibler reagierten die Stressareale in ihrem Gehirn.
Wobei Migranten, die in städtischen Lebensräumen lebten, etwas weniger davon betroffen waren. Auf dem Land ist die gegenseitige Kontrolle stärker als in der Stadt, man wird ständig beobachtet. Wer dort als Migrant erst einmal nicht dazu gehört, hat es schwer. Die Stadt dagegen bietet Migranten auch deshalb Schutz, weil dort bereits Menschen verschiedener Kulturen leben.
Insgesamt fordern die neuen Forschungsergebnisse zum psychischen Erkrankungsrisiko von Migranten nicht nur dazu auf, mehr Therapeuten zur interkulturellen Behandlung einzustellen. Sie unterstreichen auch gerade angesichts der aktuellen Diskussionen noch einmal, wie wichtig die soziale Akzeptanz und Integration von Migranten bleibt.