Sechs Grad plus können sich anfühlen wie Minusgrade. An diesem Abend am Strand von Oye, auf der französischen Seite des Ärmelkanals pfeift der Wind. Er peitscht den Militärpolizisten, den Gendarmen, den Regen ins Gesicht, wie kleine Nadelstiche fühlen sich die Tropfen auf der Haut an. Commandante Marie-Laure Peznant trägt eine dicke, regenfeste Jacke, Mütze, Handschuhe. Durch den nassen Sand stapft sie die Düne hinunter. Am Strand wartet ihre Einheit:
"Sie haben gegen 18 Uhr angefangen, seitdem überwachen sie das Ufer, den Strand."
Schon gut eine Stunde sind die drei Polizisten am Strand unterwegs. Taschenlampe in der einen, Wärmebildkamera in der anderen Hand, suchen sie auch bei diesem schlechten Wetter nach Menschen, Migranten, die sich am Strand versteckt haben könnten.
"Wir suchen den Strand ab, die Dünen. Wir haben eben einen einzelnen Schuh gefunden, da werden wir natürlich skeptisch und schauen noch einmal genau nach, dass sich niemand irgendwo versteckt hält. Das Wetter ist übel, eine denkbar schlechte Nacht für eine Überfahrt nach England. Trotzdem verstecken sich ab und an Migranten auch bei diesem Wetter am Strand, übernachten hier und warten darauf, aufbrechen zu können."
"Wir haben ja keine andere Wahl"
Ihr Ziel ist das britische Dover. Knapp 35 Kilometer Meer trennen die französische Seite des Ärmelkanals von der britischen Steilküste. Mit kleinen Booten, meist Schlauchboote mit Außenbordmotor, versuchen seit Ende Oktober immer mehr Geflüchtete nach Großbritannien überzusetzen. Viele stammen aus dem Iran.
Auch Jaber. Der 36-jährige kam vor vier Monaten nach Frankreich. Wie lange er davor schon unterwegs war, erzählt er nicht. Jetzt lebt er in einem dschungelähnlichen Camp mit rund 100 anderen Männern am Rande eines Industriegebietes von Calais. Auf einem kleinen Stück Wiese, direkt neben einem Umspannwerk haben die Iraner Zelte aufgebaut, die sie von Hilfsorganisationen kriegen. Kleine Holzfeuer brennen in dem Camp. Es ist Januar, es ist kalt. Jaber erzählt, er habe schon mehrmals versucht, nach Großbritannien zu kommen. Mit dem LKW und mit dem Boot:
"Bei jedem Versuch mit dem Boot musst du mitten in der Nacht am französischen Strand sein. Dort steht dann das Boot bereit, ein kleines. Da gehst du drauf. Manchmal ist das Wetter richtig schlecht. Es ist sehr kalt, die Wellen sind hoch. Aber wir haben ja keine andere Wahl. Es ist unsere einzige Chance."
Weit ist der Weg nicht. Die Überfahrt von Calais nach Dover dauert in der Regel drei bis vier Stunden. Trotzdem ist der Weg extrem gefährlich, sagt Commandante Marie-Laure Pezant:
"Die Menschen bringen sich wirklich in Gefahr. Sie sind auf sich alleine gestellt. Steigen mit zehn Leuten in ein Boot, das nur für vier Personen zugelassen ist. Sie tragen keine warme Kleidung, haben oft noch nicht mal Rettungswesten an. Wissen nicht, wie man navigiert. Wenn diese Boote kentern, dann wird es wirklich dramatisch."
Der Ärmelkanal gehört zu den meist befahrensten Wasserstraßen Europas
Das wissen auch die Migranten, das weiß Jaber. Er sieht es aber als einzige, als letzte Möglichkeit noch irgendwie nach Großbritannien zu kommen. In ein Land, dessen Sprache er spricht, in ein Land, wo er Familie und Freunde hat:
"99 Prozent von uns haben es mit dem LKW versucht und sind gescheitert. Deshalb versuchen wir es mit dem Boot."
Das ist gefährlich.
"Ich weiß. Das weiß ich. Das wissen wir von Anfang an. Natürlich fürchten wir um unser Leben."
Von den Dünen aus, lässt sich die Wasserkante nur erahnen. Es ist stockdunkel am Strand. Die andere Seite der Küste ist nicht zu sehen. Nur die Lichter einiger Schiffe sind auf dem Wasser auszumachen. Wer mit dem Boot über den Ärmelkanal will, muss navigieren. Jeden Tag verkehren mehr als 400 Frachter, Fähren, Fischerboote zwischen Calais und Dover. Der Ärmelkanal gehört an dieser Stelle zu den meist befahrensten Wasserstraßen Europas.
In Kondomen liegen die wichtigsten Dokumente - wasserdicht
Am Strand von Oye hat sich die Patrouille in die Dünen geschlagen. Im Lichtkegel der Taschenlampe suchen sich die Polizisten ihren Weg durch das dichte Gestrüpp. Ein schmaler, fast unsichtbarer Weg führt die Düne hinauf. Hinter dem Dornengebüsch liegt ein alter Weltkriegsbunker. Unter anderm in solchen Bunkern warten Geflüchtete auf ihre Überfahrt. An diesem Abend ist der Bunker leer. Spuren von Menschen finden die Polizisten trotzdem:
"Hier, da sind ein paar Plastiksäckchen, auch Kondome. In den Kondomen verstauen die Migranten ihre wichtigen Dokumente, wasserdicht."
"Und hier, Rasierklingen, eine Zahnbürste. Das sieht so aus, als ob jemand hier war."
Es geht der Patrouille nicht in erster Linie darum, Geflüchtete zu finden und sie, weil sie illegal im Land sind, der Ausländerbehörde zu übergeben. Dafür, sagt Commandante Pezant, Leiterin der Einheit, seien ihre Polizisten auch nicht zuständig.
Patrouille soll Leben retten
Für sie steht im Vordergrund, Überfahrten zu verhindern, oder früh genug zu entdecken und dann die Küstenwache zu alarmieren. Ende November, erzählt Pezant konnten durch den Einsatz ihres Teams Menschen gerettet werden. Am Strand fanden sie Fußspuren:
"Und es gab Spuren eines Bootes, das ins Wasser gezogen wurde. Als wir das gesehen haben, haben wir die Küstenwache informiert. Zur selben Zeit hatten die Migranten einen Hilferuf abgesetzt. Und weil wir wussten, wo in etwa das Boot in See gestochen war, konnten wir die Suche eingrenzen. Die Menschen wurden gerettet und an Land gebracht."
Wie schwierig es sein kann, ein kleines Schlauchboot mit Außenbordmotor nachts auf dem Wasser ausfindig zu machen weiß auch der Iraner Jaber. Bei seinem ersten Versuch per Boot über den Ärmelkanal zu gelangen, gerieten er und die anderen Geflüchteten in Seenot:
"Unser Motor lief nicht richtig, wir haben dann die Küstenwache, die Rettungskräfte gerufen. Sie konnten uns nicht finden. Alle haben geschrien, wir hatten Angst, dass wir untergehen werden. Wir hätten es keine fünf Minuten länger geschafft. Das war wirklich sehr gefährlich."
Am Ende konnte ein Fischerboot helfen, Jaber und die anderen Migranten an die Küstenwache übergeben. Tote hat es bei den Überfahrten nach Angaben der französischen Küstenwache noch nicht gegeben. Sonst wären leere Boote gefunden, Leichen angeschwemmt worden.
Seit Oktober steigen die Zahlen sprunghaft an
Die Zahl der Menschen, die den Ärmelkanal überqueren wollen, ist seit Oktober 2018 deutlich angestiegen. 2016 und 2017 verzeichnete die Küstenwache vereinzelte, privat organisierte Überfahrten. 35 insgesamt. Aber seit Oktober haben nach Angaben des Innenministeriums mehr als 500 Migranten versucht von der französischen Küste aus nach Großbritannien zu gelangen. Die Behörden gehen davon aus, dass nun auch an den Stränden Schleppernetzwerke operieren.
"Wir haben da noch recht wenige Erkenntnisse, weil wir bis jetzt nur sehr wenige Schlepper festnehmen konnten. Aber wir wissen, es gibt einige, die mit den Migranten an den Strand kommen. Andere geben ihnen die Boote und lassen sie alleine, wieder andere begleiten sie aufs Wasser. Die haben dann bessere Boote und wollen ihre Boote auch wieder mit zurücknehmen."
Und so suchen die Polizisten auf ihrer Patrouille auch nach Menschen, die Boote an den Strand bringen, oder Rettungswesten in den Dünen verstecken.
Anfang Januar haben Frankreich und Großbritannien ein Abkommen geschlossen, um gemeinsam gegen die Schleppernetzwerke vorgehen zu können. Eine engere Zusammenarbeit der Grenzpolizei an Land und der Küstenwachen auf dem Wasser sind ein Teil davon. Nächtliche Patrouillengänge wie die von Marie-Laure Pezants Einheit ein anderer wichtiger Punkt.
"Seit Januar sind die Zahlen wieder zurückgegangen. Das liegt auch an unserer Arbeit, an den Kontrollgängen. Die Schlepper wissen, dass wir an den Stränden unterwegs sind und es gab weniger Versuche."
Dünen bieten ein gutes Versteck
Natürlich spielt auch das Wetter eine große Rolle. An einem Abend wie diesem, peitschender Wind, strömender Regen, einer Wassertemperatur von unter acht Grad und nicht gerade sanftem Wellengang versucht niemand überzusetzen. Trotzdem, die Strände rund um Calais bleiben ein guter Startpunkt:
"Wenn jemand ein Boot hierher bringen will, kann er mit dem Anhänger bis fast an den Strand fahren."
Außerdem, sagt Commandante Pezant bieten die Dünen ein gutes Versteck für all diejenigen, die die Überfahrt wagen wollen. Vergangenes Jahr haben rund 250 von 500 Migranten den Weg übers Meer nach Großbritannien geschafft. Zumindest geht davon die französische Küstenwache aus. Auch der junge Iraner Jaber und andere in den Flüchtlingscamps haben von erfolgreichen Überfahrten gehört. Sie wollen es weiter versuchen. In Frankreich fühlen sie sich nicht sicher:
"Mit einem kleinen Boot auf Meer raus zu fahren, kann tödlich für mich enden. Hier zu leben ist auch nicht besser. Beides kann mir den Tod bringen. Was macht es da für einen Unterschied? Da kann ich auch versuchen den gefährlichen Weg auf mich zu nehmen und einen Ort zu finden, an dem ich ohne Angst leben kann."
Für Jaber und viele andere Migranten ist dieser Ort irgendwo in Großbritannien. Mit allen Mitteln versuchen die Geflüchteten auf die Insel zu gelangen. Es ist der einzige Grund, warum sie überhaupt in den dschungelähnlichen Camps in und um Calais hausen. Sie sind bereit wieder und wieder auf Boote zu steigen, auch wenn sie den Schleppern jedes Mal aufs Neue viel Geld dafür bezahlen, auch wenn sie wissen, dass Patrouillen wie die von Marie-Laure Pezant Einheit Nacht für Nacht an den kilometerlangen Stränden des Ärmelkanals unterwegs sind und alles dafür tun, diese gefährlichen Überfahrten zu verhindern.