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"Migranten werden als Belastung angesehen"

Ausländische Fachkräfte kämen nicht wegen eines Begrüßungsgelds nach Deutschland, meint der Grünen-Politiker Memet Kilic. Ihnen sei wichtig, in welcher Gesellschaft sie lebten. Die Akzeptanz gegenüber Migranten sei hierzulande nicht positiv und das schrecke Fachkräfte ab.

Memet Kilic im Gespräch mit Anne Raith | 03.08.2010
    Anne Raith: Memet Kilic sitzt für die Grünen im Bundestag und ist stellvertretender Vorsitzender des Bundesausländerbeirats. Macht die anhaltende Debatte über ein Begrüßungsgeld Ausländern Lust, nach Deutschland zu kommen?

    Memet Kilic: Das glaube ich nicht. Ausländische Fachkräfte achten nicht nur darauf, was sie bekommen als Geld, sondern in welcher Gesellschaft sie leben werden, zu welcher Schule das Kind gehen wird und wie wird dein Ehegatte im Supermarkt behandelt, das ist auch wichtig. Deshalb kann ich nur empfehlen, wir müssen gegenüber Migranten eine Herzlich-Willkommen-Kultur entwickeln und das wäre dann unsere Lockprämie aus meiner Sicht. Dann können wir mit richtigen Rahmenbedingungen auch ausländische Fachkräfte hierher einladen und das Land für die auch attraktiv gestalten.

    Raith: Woran hapert es denn, was lockt ausländische Fachkräfte derzeit nicht nach Deutschland?

    Kilic: Einmal, die gesellschaftliche Diskussion über Migranten ist negativ besetzt nach wie vor. Die Migranten werden als Belastung angesehen. Unser dreigliedriges Schulsystem benachteiligt sehr die Migrantenkinder, weil die Muttersprache in unserem Land nicht als Zusatzfaktor, sondern als Last angesehen wird. Und in der Öffentlichkeit ist die Akzeptanz gegenüber Migranten nicht so positiv und das schreckt die Fachkräfte ab. Die bevorzugen solche Länder wie Kanada oder USA, wo die Akzeptanz gegenüber Migranten höher ist.

    Raith: Der CDU-Wirtschaftspolitiker Joachim Pfeiffer schlägt jetzt eine sogenannte Kontingenzregelung vor, das heißt, dass das Modell dann erlaubt, die Zuwanderung wenn nötig sofort wieder abzustellen. Das heißt, genau das Gegenteil von dem, was wir brauchen?

    Kilic: Eine Zuwanderung nach Punktesystem kann erfolgreich sein als Ergänzung, das hat sogar die Süssmuth-Kommission seinerzeit schon vorgeschlagen. Wir sind dafür, dass wir neben humanitärer Zuwanderung, Familienzusammenführung, aber auch eine eine Zuwanderung nach Punktesystem brauchen, damit wir den demografischen Wandel hier in unserem Land kompensieren können. Das darf natürlich keine Lohndumpinggeschichte sein, darauf müssen wir achten. Wir müssen auch darauf achten, dass wir erstmals unsere Arbeitslosen in Deutschland sozusagen nach Kräften qualifizieren und denen einen Job anbieten können. Aber man darf die einen nicht gegen die anderen ausspielen. Das ist eine Milchmädchenrechnung, aber die CDU-Politiker waren immer so, die haben sozusagen eine strenge Haltung proklamiert, aber andererseits auch die Krankenschwester aus dem Ausland angeworben, um sie hier als Altenpfleger zu beschäftigen.

    Raith: Sie haben eben einen Punkt angesprochen, den auch SPD-Chef Gabriel heute Morgen im Deutschlandfunk angesprochen hat: Er will vor allem in Deutschland lebende junge Migranten aufbauen, von denen im Moment 40 Prozent nicht über einen Berufsabschluss verfügten. Woran liegt das?

    Kilic: Es liegt deutlich an unserem Schulsystem. Unsere Kinder werden zu früh und zu stark selektiert. Mit neun Jahren haben die Kinder in unserem Land Zukunftsängste, die Migrantenkinder sind gerade dabei, neben ihrer Muttersprache auch ihre Bildungssprache Deutsch zu befestigen, dann wird entschieden. Wir wissen, dass die dann überwiegend in die Hauptschulen geschickt werden, die wissen, diese kleinen Kinder wissen schon, dass die auf Abstellgleise gestellt worden sind. Somit werden denen die Flügel abgeschnitten, Selbstbewusstsein weggenommen. Das kann nicht die Zukunft unserer Republik sein. Deshalb meinen wir, dass unser Schulsystem sich reformieren muss. Lange gemeinsam lernen ist eine Erfolgsgeschichte für uns aus unserer Sicht, darauf müssen wir aufbauen, damit wir diese Kinder auch voranbringen. Wir müssen auch die Einsicht bringen, dass diese Kinder auch unsere Kinder sind, aber die Republik ist noch nicht dabei. Man glaubt daran, dass man diese Kinder von unseren Kindern trennen kann, damit unsere Kinder bessere Bildungschancen haben. – So ist es nicht. Wir sind eine Gesamtgesellschaft, wir tragen Verantwortung gegenüber diesen Kindern. Andererseits müssen wir auch Studiengebühren abschaffen. Sie werden fragen: Warum das? – Eben, damit wir auch hoch qualifizierte Menschen in unserem Land entwickeln können. Viele Kinder, die nicht so gut finanziell situiert sind, verzichten auf ein Studium mittlerweile. Das kann nicht die Zukunft unserer Republik sein, dass wir hier keine Ingenieure produzieren, sondern aus China anwerben, das kann nicht Zukunft unserer Republik sein.