Nicht so häufig treffen arbeitende Menschen, die Fußball lieben, auf arbeitende Menschen, die Infrastrukturen für Fußballgroßevents aufbauen. Bei „Reclaim the Game“ war das der Fall. Bei der Begegnung überwogen die Gemeinsamkeiten. Die Fußballfans interessierten sich für die Geschichten der migrantischen Arbeiter aus Katar. Und für beide Seiten wurde deutlich: Der FIFA sei es nicht geglückt, die Bedingungen der Arbeiter, die die Infrastruktur für die WM bauen, im Laufe der letzten Dekade entscheidend zu verbessern. „Das ganze System ist krank“, sagt Malcolm Bidali. „Wenn du dort ankommst, bist du unter dem Kafala-System, das deinem Arbeitgeber alle Macht gibt. Er kann kontrollieren, wo du schläfst, wo du isst, wie du isst, wie du dich in der Gegend bewegst, ob du überhaupt Jobs wechseln kannst. Das ist verrückt! Wie kann jemand so viel Macht haben?“
Das Grundproblem aus Malcolm Bidalis Sicht ist: Die enorme Abhängigkeit vom Arbeitgeber in Katar. Bidali, der aus Kenia stammt und einige Jahre als Wachmann auf Baustellen arbeitete, nennt das auch: Moderne Sklaverei. Hinzu kämen bekannte Probleme wie verwahrloste und überfüllte Unterkünfte. Schlechte oder verspätete Bezahlung. Unbezahlte Überstunden. Arbeit in der Hitze.
„Ja, viele migrantische Arbeiter sind gestorben“, erzählt Krishna Shrestha, ein Arbeiter aus Nepal, der in Katar ein Selbsthilfenetzwerk der Arbeiter mit ins Leben gerufen hat. „Wir sehen das anhand der Särge, die fast jeden Tag nach Nepal zurückgeflogen werden. Die Särge werden nicht grundlos transportiert, da sind Tote drin.“ Mit sanfter, ruhiger Stimme fordert Krishna Shrestha – wie bereits andere Menschenrechtsorganisationen - einen Entschädigungsfonds für die Toten, - das Mindeste, was die FIFA und das Organisationskomitee jetzt noch tun könnten: „Die Arbeiter, die ihr Leben verloren haben: Ihr Leben kann man nicht ersetzen, und auch nicht die emotionalen Schmerzen des Verlusts. Aber eine Entschädigung sollte es geben, ja.“
Fast täglich sterben in Katar noch Arbeiter
Bei dem Treffen mit den deutschen Fußballfans tritt Shrestha maskiert auf. Die Augen sind hinter einer Sonnenbrille versteckt, Mund und Nase hinter einer Corona-Maske. Er möchte nicht, dass er bei einem neuen Arbeitsvertrag in Katar von den Behörden als Arbeitervertreter erkannt wird. Denn was jemandem blüht, der öffentlich auf Probleme hinweist, kann Shrestha am Beispiel seines Kollegen aus Kenia ablesen. Malcolm Bidali wurde in Katar vor einem Jahr ins Gefängnis gesteckt, weil er über katastrophale Arbeitsbedingungen berichtete.
„Offiziell wurde ich festgenommen, weil ich von ausländischen Stellen zur Verbreitung von Falschinformationen bezahlt worden sei“, berichtet Bidali. „Aber ganz offiziell klagte mich die Staatsanwaltschaft zweier Dinge an: Der Benutzung von Social Media zur Verbreitung von Falschinformation und Verbreitung von Falschinformation durch Benutzen von Social Media.“ Malcolm Bidali lacht: „Es ist beides das gleiche.“
Bidali wies die Vorwürfe zurück. Er hatte online nur geschrieben, was er selbst erlebt und was ihm Kollegen über die Arbeits- und Lebensbedingungen erzählt hatten. Sein Fall war so eklatant, dass etwas ganz Neues in Katar geschah: Studenten und Mitarbeiter der Universität von Katar, die zur Qatar Foundation gehört, also dem Arbeitgeber von Bidali, forderten in einem offenen Brief ein faires Verfahren für ihn. Sie priesen ihn auch als beispielhaft für die Werte der Qatar Foundation, eben weil er sich für Arbeiterrechte einsetzt. Bidali griff diese Initiative nach seiner Freilassung auf. Er lud Sheika Hind zu einem Treffen ein, die Schwester des Emirs und Vorsitzende der Qatar Foundation.
„Ich wollte den Leuten, die sich für mich eingesetzt hatten, den Studenten der Qatar University, zeigen: ‚Hey Leute, ich bin immer noch mitten drin im Kampf, die Dinge zu verbessern. Und wenn die Sheikha ein Treffen akzeptiert hätte, wäre das episch gewesen. Denn das passiert nicht oft, dass jemand aus der Königlichen Familie sich mit einem migrantischen Arbeiter trifft.“
Sheikha Hind, eine kultivierte wie mächtige Frau, die sogar in London Menschenrechte studiert hat, reagierte allerdings nicht. Dabei hatte Bidali vor, deren Organisation als gutes Beispiel und Treiber für Veränderungen zu preisen. Die Qatar Foundation, die mit einem eigenen Stadion bei der WM dabei ist, gilt tatsächlich als einer der besseren Arbeitgeber. Auch sonst hat sich im Land einiges getan, vor allem auf Druck von außen. So beschreibt es Krishna Shrestha: „Es gab Reformen. 2015 machten sie eine Reform des Kafala-Systems, nach der es migrantischen Arbeitern möglich war, Katar ohne die Erlaubnis des Arbeitgebers zu verlassen. Eine weitere Reform gab es 2020. Damals wurde ein Mindestlohn festgelegt. Das ist gut für migrantische Arbeiter.“
Allerdings werden die Gesetze nicht immer eingehalten. Und wenn Arbeiter sich beschweren, etwa über nicht bezahlte Löhne, werden sie noch immer von der Polizei verhaftet und in ihre Heimatländer abgeschoben. „Wir hatten jüngst wieder einen Fall“, sagt Krishna Shrestha. 60 Arbeiter aus Nepal und Bangladesh wurden in ihre Heimatländer deportiert. Ihnen wurden sieben Monatslöhne nicht gezahlt. Sie forderten dies von ihrem Arbeitgeber. Aber der zahlte nicht. Sie protestierten. Und dann kam die Polizei und verhaftete sie.“ Die Firma baut vor allem Hotels, sie war auch am Bau des malerischen neuen Souk in der Hauptstadt Doha beteiligt. Keine kleine Firma. Die Arbeiter bezahlte sie trotzdem nicht. Rechtlosigkeiten im Land gehen weiter, ungeachtet der näher rückenden WM.
Shrestha hofft jetzt auf Solidarität von den auswärtigen Gästen der WM: „Wenn die Fußballfans oder besser noch die Nationalmannschaften mit einem Statement kommen würden, einem ganz einfachen Statement, dass sie die migrantischen Arbeiter unterstützen und an ihrer Seite stehen, wäre das gut. Oder auch eine Gedenkminute. Das könnte einen Unterschied machen, denn sie haben viel Macht und Einfluss in der Welt.“
Klare Botschaften der Teams und ein Entschädigungsfonds für die Toten – das sollte in der letzten Phase der WM-Vorbereitung doch zu machen sein.