„Instrumentalisierte Migration“
Wenn Flüchtende als Druckmittel missbraucht werden

Belarus holte bisher Zehntausende Migranten ins Land, um sie nach Polen und in andere EU-Staaten zu schleusen und die Länder so unter Druck zu setzen. Auch in anderen Konflikten werden Flüchtende zum politischen Spielball. Was lässt sich dagegen tun?

    Polnische Sicherheitskräfte stehen an der Grenze hinter Stacheldraht.
    Nachdem Tausende Flüchtende über Belarus einreisen wollten, sicherte Polen die Grenze mit Zäunen und Stacheldraht. (picture alliance / dpa / Ulf Mauder)
    Spätestens seit im Jahr 2021 etliche Flüchtende im Grenzgebiet zwischen Belarus und der EU-Außengrenze strandeten, wird über "instrumentalisierte Migration" gesprochen. Auch die NATO erwähnt den Begriff in ihrem Sicherheitskonzept. Es gehe dabei um Flüchtende, die als Druckmittel für politische Interessen genutzt werden - durch Regierungen oder auch nicht-staatliche Akteure wie bewaffnete Milizen.
    Wie kann man auf solche vermeintlichen Drohszenarien reagieren? Ist eine schärfere Migrationspolitik, wie sie die EU vorantreibt, die richtige Antwort?

    Inhalt

    Was versteht man unter „instrumentalisierter Migration“?

    Die US-amerikanische Politologin Kelly Greenhill hatte sich in ihrem 2011 veröffentlichten Buch „Massenmigration als Waffe“ mit dem Phänomen beschäftigt – und auf die unterschiedlichen Formen des gezielten Missbrauchs von Flüchtlingen hingewiesen.
    Laut ihrer Definition handelt es sich bei „instrumentalisierte Migration“ um „Fluchtbewegungen von Menschen, die zu politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Zwecken geplant und durchgeführt werden. (...) Dabei handelt es sich um Zuwanderungen von großen Menschengruppen, die absichtlich geschaffen, manchmal auch einfach nur angedroht werden.“ Greenhill nutzt deswegen auch den Begriff „strategisch gesteuerte Migrationen“.

    Wo und warum wurde Flucht als Waffen eingesetzt?

    Flüchtende würden schon seit Langem für politische Interessen instrumentalisiert, sagt die Politikwissenschaftlerin Kelly Greenhill. "So tragisch das ist, es handelt sich um ein uraltes Phänomen", so Greenhill.
    Sie hat seit der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention 1951 weltweit etwa 100 Fälle von versuchter oder tatsächlicher „instrumentalisierter Migration“ gezählt, beispielsweise in Haiti, Nordkorea – oder auch im ehemaligen Jugoslawien. Damals, Ende der 90er-Jahre drohte Staatschef Slobodan Milosevic: Sollte die NATO ihn bombardieren, würde er eine Vielzahl von Kosovaren nach Europa vertreiben.
    Die Drohung hatte keinen Erfolg. Oft sieht es aber anders aus. „In gut 75 Prozent der Fälle, wo Staaten andere Staaten mit angedrohter Migration erpressen, bekommen sie zumindest einen Teil von dem, was sie fordern", sagt Greenhill. Das Mittel sei also „ziemlich erfolgreich“.
    Beispielsweise 2020, als die Türkei die Verlängerung des sogenannten EU-Flüchtlingsdeals verhandelte – und mit der von der EU angebotenen Geldsumme nicht zufrieden war. Die Türkei zog ihre Soldaten von der Grenze zu Griechenland ab und ermunterte Zehntausende Menschen, vor allem Flüchtende aus Syrien, die Grenze zu überqueren. Die EU lenkte in den Verhandlungen ein.
    Hinter solchen Erpressungen stecken nur selten direkt die Machthaber, die selbst Menschen vertreiben oder damit drohen, meint Greenhill. Stattdessen würden bereits vorhandene Migrationsbewegungen genutzt, die Gelegenheit also beim Schopf gepackt.

    Welche Fälle von „strategisch gesteuerter Migration“ betreffen die EU?

    Eines der jüngsten Beispiele für eine mögliche Instrumentalisierung von Migration zeigte sich 2021: Damals versuchten geschätzte 30.000 Menschen, die meisten davon aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, von Belarus nach Polen, Litauen oder Lettland zu gelangen. Viele von ihnen wurden wieder zurückgeschickt – zum Teil gewaltsam.
    Migranten campieren bei einem Waldstück in der Nähe der polnischen Grenze.
    Migranten campieren bei einem Waldstück in Belarus nahe der polnischen Grenze. (picture alliance / dpa / Ulf Mauder)
    Die Europäische Union ist davon überzeugt, dass die Geflüchteten von der belarussischen Regierung instrumentalisiert worden sind. Denn nachdem die EU-Sanktionen gegen das Land verhängt hatte, drohte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko mit unangenehmen Folgen. Die Sanktionen könnten zu „illegaler Migration“ führen. Er hob die Visumspflicht für Staaten wie Irak oder Syrien kurzfristig auf. Wem es finanziell möglich war, konnte aus den Ländern nach Minsk fliegen und wurde von dort an die Grenze weitergeschickt. Andere kamen über den Landweg nach Belarus, oft aus Russland.
    „Damit soll Europa destabilisiert werden“, sagt die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. Lukaschenko möchte in der Europäischen Union Zwietracht sähen, so wird vermutet. Denn schon die 2015 nach Europa Geflüchteten hatten großen Streit zwischen den EU-Mitgliedsstaaten ausgelöst und zu einem Erstarken rechter Parteien geführt.
    Ein weiteres mögliches Motiv Lukaschenkos: die EU zu massiven Gegenmaßnahmen und Abschottung zwingen und damit die liberalen Verfassungen und die europäischen Grundwerte wie das Asylrecht zu entwerten. Tatsächlich gibt es zahllose Berichte von Übergriffen durch polnische Grenzpolizisten. In den grenznahen Wäldern erfroren demnach Menschen.
    Auch Russland will Europa durch Flüchtlingsbewegungen offenbar gezielt destabilisieren. Dabei bedient sich der russische Präsident Wladimir Putin des Krieges und der Gewalt. Nach seinem Überfall auf die gesamte Ukraine und deswegen ausfallender Getreideexporte prophezeite er: „Die Lebensmittelknappheit und die Preissteigerungen werden weltweit zu einer Hungersnot führen. Der nächste Schritt ist unvermeidlich: Wellen der Migration, unter anderem nach Europa.“
    Mit seiner gezielten Bombardierung ziviler Ziele und Infrastruktur hat Putin die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst: Sechs Millionen Menschen haben allein in der Europäischen Union Schutz gesucht. Die Aufnahmebereitschaft in vielen EU-Mitgliedstaaten sinkt. Sollten noch viele weitere Ukrainerinnen und Ukrainer in EU-Länder fliehen, könnte das die wirtschaftliche und militärische Unterstützung der Europäischen Union für Kiew untergraben. Und das wäre in Putins Sinne.
    Die russischen Nachrichtensender nutzen die Flüchtlingssituation schon jetzt für Propagandazwecke. Die Ukrainer seien zunehmend unbeliebt und eine Gefahr für Europa, heißt es dort immer wieder.

    Welche Maßnahmen gegen „instrumentalisierte Migration“ werden diskutiert?

    Die Vorschläge umfassen Abwehrmaßnahmen wie das Aufrüsten der Grenzen und schärfere Sanktionen von illegaler Migration. Auch Abkomme mit Drittstaaten sind immer wieder Thema. „Aus Sicht der Migrationsforschung wird das sehr skeptisch betrachtet, weil man damit sich abhängig macht von Regimen mit einer zweifelhaften menschenrechtlichen Bilanz“, sagt Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. Auch die verstärkte Bekämpfung von Fluchtursachen und eine Ausweitung der legalen Migration – also von dringend benötigten Arbeitskräften in die EU – werden diskutiert.
    Polnische Soldaten bauen 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus.
    Abschottung als Antwort. Polnische Soldaten bauen 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus. (picture alliance / NurPhoto / Dominika Zarzycka)
    Ob aber der immer härtere Kurs in der EU-Migrationspolitik mit Pushbacks und Inhaftierungen die richtige Antwort ist? Nein, genau damit tappe Europa in die Falle seiner Gegner, meint zumindest Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl. Denn Machthaber wie Lukaschenko könnten dann die angebliche Doppelmoral der EU in Bezug auf ihre Grundrechte anprangern.
    Schon die Begriffe der "instrumentalisierten" oder "strategischen Migration" sind problematisch, findet Jonas Wipfler von der Hilfsorganisation Misereor. Denn darin kämen flüchtende Menschen lediglich als Objekte in einem politischen Machtspiel vor. Was aber würde passieren, wenn Flüchtende nicht mehr allein als Gefahr und Bürde betrachtet werden? Würden die Drohungen von Potentaten wie Lukaschenko dann nicht einfach ins Leere laufen?
    Ähnlich sieht es Migrationsforscher Andreas Pott. Er fordert in der Debatte zu mehr Analyse und Sachlichkeit auf. Stellt sich die von Lukaschenko angedrohte „Massenmigration“ nach genauer Betrachtung als gar nicht so massenhaft heraus, verliert sie auch ihr Drohpotenzial. Schließlich ist das Kapital eines Erpressers stets die Angst, die er erzeugen kann.
    Doch das mag manchmal weder im Sinne der vermeintlich drohenden noch der vermeintlich bedrohten Länder sein. Regierungen würden inzwischen andere der „Instrumentalisierung der Migration“ beschuldigen, „um rigorose Maßnahmen im eigenen Land zu rechtfertigen“, sagt die Politikwissenschaftlerin Kelly Greenhill. Auf diese Weise ließen sich scharfe Einwanderungs- und Asylgesetze durchsetzen.

    lkn