Durch die Überbetonung von Fluchtmigration vermitteln die meisten im Bundestag vertretenen Parteien ein Zerrbild, das Migration mit Flucht gleichsetzt. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der IfW-Forschenden Finja Krüger und Tobias Heidland.
"Der Großteil macht ganz reguläre Arbeits-, Bildungs- und Familienmigration aus" sagte
Tobials Heidland im Deutschlandfunk-Interview
.
Der Wirtschaftswissenschaftler Heidland sieht vor allem die Gefahr, dass die positiven Chancen der Migration von den Parteien nicht gestaltet und genutzt werden könnten.
Die Forscherinnen und Forscher haben ermittelt, dass die Begriffe "Bildungsmigration", "Familienmigration" und "Arbeitsmigration" in den Wahlprogrammen der aktuell sechs Parteien im Bundestag nur selten auftauchen. Wenn von Migration die Rede ist, dann zu mindestens 75 Prozent im Zusammenhang mit Flucht und Asyl.
"Das erweckt natürlich den Eindruck, Migration bedeutet fast immer Fluchtmigration. Aber das stimmt so nicht", sagt Forscher Heidland und ergänzt: "Nur ungefähr 10 Prozent der Zuwandernden, die in den letzten Jahren gekommen sind, waren Menschen, die dann auch Asylanträge gestellt haben."
Wie die Wissenschaftler herausarbeiten, machen die anderen drei Migrationsarten – Familienmigration, Bildungs- sowie Arbeitsmigration – zusammen mehr als die Hälfte der Zuwanderung aus dem Nicht-EU-Ausland nach Deutschland aus.
Mit Blick auf die Prognose, dass die Bevölkerung im typischen Erwerbsalter zwischen 20 und 66 Jahren bis 2035 um mehr als ein Sechstel schrumpfen wird, halten die Wissenschaftler ein Gegensteuern der Politik für notwendig.
Heidland: "Wenn wir nicht wollen, dass jetzt in den nächsten ein, zwei Legislaturperioden das Renteneintrittsalter erhöht wird, das Rentenniveau gesenkt wird, dann brauchen wir eben Leute, die jene, die in Rente gehen, ersetzen können. Und wir brauchen Leute, die netto ins System einzahlen, also die mehr an Steuern, an Sozialversicherungsbeiträgen einzahlen als sie rausnehmen. Da sollte Arbeitsmigration und auch Bildungsmigration gerade von besser Qualifizierten eine ganz wichtige Rolle spielen."
Auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, appellierte im August an die Bundesregierung, gezielte Zuwanderung von rund 400.000 Menschen jährlich zu fördern, um Lücken auf dem Arbeitsmarkt schließen zu können. Und bei diesem Lückenschluss dürften die anderen EU-Länder den Deutschen mittel- und langfristig weniger helfen als bislang noch, wie die Forscher des IfW zeigen:
Steigender Wohlstand und die Alterung der Bevölkerung lässt die Migration aus den EU-Ländern nach Deutschland schrumpfen. Insofern dürfte eine positive Bruttozuwanderung künftig umso mehr von der Gestaltung der Arbeits- und Bildungsmigration aus dem Nicht-EU-Ausland abhängen.
Welche Auswirkungen zu geringe Einwanderung in den niedriger qualifizierten Bereich habe, könne derzeit in Großbritannien beobachtet werden, so Tobias Heidland vom IfW. Eine stark ablehnende Politik gepaart mit negativer Kommunikation gegenüber Migrierenden habe zum Beispiel im Erntebetrieb und in Schlachthöfen dazu geführt, dass Arbeitskräfte fehlen – aber auch in den Supermärkten und der Gastronomie. Mittelfristig würden Unternehmen große Schwierigkeiten haben, besonders für einfachere Tätigkeiten Menschen zu finden, sagte Heidland. Mit massiv steigenden Preisen könne deshalb beispielsweise bei Restaurantbesuchen gerechnet werden, prognostiziert der Wirtschaftswissenschaftler.
Zu den konkreten Handlungsempfehlungen der beiden Forschenden Finja Krüger und Tobias Heidland gehört ein punktebasiertes Verfahren für die Steuerung der Arbeitsmigration, wie auch Kanada es nutzt. Mit diesem Instrument soll das hochkomplexe deutsche Zuwanderungsrecht effizienter und transparenter gestaltet werden: Personen mit relevanten Fähigkeiten und guter Integrationsperspektive erhalten entsprechend ihrer Qualifikationen Punkte und können so bei der Visumsvergabe bevorzugt werden. Ein Verfahren wie dieses mache es einfacher, "Fachkräfte nach Deutschland zu locken und ist in der Lage, diese entlang von Kriterien wie Integrationsfähigkeit und -willigkeit auszuwählen."
Mit Blick auf die Migrationspolitik hat die Untersuchung des Kieler Forschungsinstituts Parallelen zweier ansonsten eher unterschiedlicher Parteien zutage gefördert: Sowohl die Grünen als auch die FDP sprechen sich in ihren Wahlprogrammen für ein solches punktebasiertes Migrationssystem aus. Kriterien, für die potenzielle Einwanderinnen und Einwanderer Punkte erhalten können, sind zum Beispiel ein vorhandener Berufsabschluss, Sprachkenntnisse oder ein bereits vorliegendes Jobangebot.
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Ansonsten bezeichnet das IfW die Einwanderungspolitik in den Wahlprogrammen als "unspezifisch und ohne konkrete Konzepte". Von allen Parteien würden die für Deutschland wichtigen Gestaltungsmöglichkeiten einer gezielten Arbeits- und Bildungszuwanderung versäumt.
"Wirklich einig sind sich die Parteien nur bei der Notwendigkeit, Fluchtmigration zu verhindern – auch wenn die Ansätze dabei sehr unterschiedlich sind und von einem Fokus auf der Bekämpfung von Fluchtursachen bis zu ausgeweiteten Abschiebungen zurück in die Herkunftsländer reichen", sagt IfW-Forscherin Finja Krüger.
CDU/CSU
Migration sei nur dann eine Chance, "wenn sie geordnet erfolgt und sich an klaren Regeln orientiert", heißt es im gemeinsamen Wahlprogramm von CDU und CSU. Die Union möchte das Asylverfahren und Rückführungen nach eigenen Angaben gerechter, strukturierter und effizienter gestalten. Damit die Zahl der nach Deutschland und Europa flüchtenden Menschen sich weiter reduziere, müsse unterschieden werden zwischen Menschen in Not und jenen, "die unser Land wieder verlassen müssen, weil sie nicht schutzbedürftig sind."
Falschangeben im Asylverfahren sollen künftig generell strafbar sein, straffällig geworden Asylbewerbern droht die schnelle Abschiebung.
Mit Blick auf die Arbeitsmigration spricht sich die Union für gezielte Zuwanderung aus. Mit Qualifizierungsangeboten, wie zum Beispiel Sprachkursen bereits in den EU-Heimatländern sollen die Potenziale der europäischen Binnenmarktmigration erhöht werden.
SPD
Auch im Wahlprogramm der Sozialdemokraten findet sich das Thema Migration hauptsächlich im Zusammenhang mit Flucht und Asyl. Die SPD möchte, dass der Globale Pakt für Migration umfassend umgesetzt wird und Fluchtursachen bekämpft werden.
Die Regelungen für den Familiennachzug will die SPD lockern, die zwangsweise Rückführung in Länder, in denen "Gefahr für Leib und Leben" droht, verbieten. Allen Menschen, die neu nach Deutschland kommen, sollen Integrations- und Sprachkurse angeboten werden - unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Alle Kinder sollen schnell die Möglichkeit erhalten, Kita und Schule zu besuchen. "Gut integrierten Menschen ohne gesicherten Aufenthalt wollen wir ein dauerhaftes Bleiberecht ermöglichen", heißt es im Wahlprogramm der SPD.
Gezielt zu den Themen Bildungs- oder Arbeitsmigration verrät das Programm nichts.
AfD
Migration wird im Wahlprogramm der AfD in unmittelbarem Zusammenhang mit Asyl und Flucht thematisiert. Der wesentliche Fokus liegt auf verschärften Maßnahmen der Einreise, der Abschiebung sowie der Ausweitung der sogenannten sicheren Herkunftsländer.
Die Partei kritisiert das derzeitige Asylsystem als "dysfunktional" und als einer Lotterie gleichend. Die "desaströsen Folgen der unregulierten Massenzuwanderung seit 2015" seien unübersehbar und verschärften sich weiter. Die AfD fordert ein Schutzsystem "in Anlehnung an das australische Modell", das eine Zurückweisung von Asylsuchenden bereits an der Grenze vorsieht. Zugelassen werden dürfe "ausschließlich qualifizierte Einwanderung nach japanischem Vorbild".
FDP
Die FDP spricht das Thema Einwanderung in den Arbeitsmarkt konkret an. Letztere soll demnach verständlich und einfach gesteuert werden. Dafür setzt die Partei auf ein Zwei-Säulen-System aus sogenannter Blue Card und der Einführung einer Chancenkarte (Punktesystem) nach kanadischem Vorbild.
Die EU-Richtlinie 2009/50/EG gilt als Grundlage für die Blue Card. Dieses Instrument soll vor allem hochqualifizierten Drittstaatsangehörigen "den Aufenthalt in der EU ermöglichen, um dem künftig erwarteten oder bereits bestehenden Mangel an Fachkräften in vielen Beschäftigungssektoren zu begegnen", erläutert das Auswärtige Amt.
Bereits seit 2012 ist die "Blaue Karte" der zentrale Aufenthaltstitel für akademische Fachkräfte aus dem Ausland. Antragssteller müssen eine abgeschlossenes Hochschulstudium nachweisen sowie ein jährliches Bruttogehalt von derzeit mindestens 56.800 Euro.
Wer nicht Inhaber einer Blue Card ist, kann mittels Chancenkarte Punkte ansammeln, die die Wahrscheinlichkeit für die Einwanderung erhöhen – Kriterien hierfür sind unter anderem der Bildungsgrad, Deutsch- oder gute Englischkenntnisse, Alter und Berufserfahrung. So sollen auch qualifizierte Nicht-Akademiker eine reelle Chance bekommen, dauerhaft auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können.
Bezogen auf Flucht und Asyl fordern die Freien Demokraten einen schnelleren Ausbau der EU-Grenzschutzagentur Frontex und eine Reform und Erweiterung von Kontrollmechanismen. Verfolgten und Kriegsflüchtlingen soll unbürokratisch vorübergehender humanitärer Schutz geboten werden, "der auf die Dauer des Krieges begrenzt ist."
Die Linke
Anstatt auf gezielte Zuwanderung legt die Linke den Fokus auf die Verbesserung von Arbeitsbedingungen und von Qualifizierungen im Land. Die Partei möchte einen Weiterbildungsanspruch für alle sowie ein Weiterbildungsgeld, das für ein sicheres Einkommen während Zeiten der Weiterbildung sorgen soll.
Einwanderung sei keine Bedrohung, betont Die Linke – stattdessen Bestandteil unserer Gesellschaft und Alltag für viele. "Wir wollen Teilhabe statt Integration. Denn Demokratie setzt Teilhabe im Alltag voraus", so das Kredo der Partei. Weitere Bestandteile der Migrationspolitik der Linken sind die Einführung eines anonymen Krankenscheins für die Behandlung von Menschen ohne Absicherung und das Wahlrecht für alle, die langfristig in Deutschland leben. Nach fünf Jahren Aufenthalt sollen Migrantinnen und Migranten einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung bekommen.
Bündnis 90 / Die Grünen
Anders als die FDP möchten die Grünen die europäische Grenzschutzagentur Frontex eher einschränken anstatt stärken. Die Arbeitsmigration will die Partei hingegen ausbauen und verstetigen.
Ähnlich wie die FDP setzen auch die Grünen auf ein punktebasiertes Migrationssystem, das im Wahlprogramm als "Talentkarte" bezeichnet wird. Eine weitere Gemeinsamkeit erwähnt zudem die Studie des IfW. Beide, Grüne und FDP, fordern die Möglichkeit eines sogenannten Spurwechels. Dahinter verbirgt sich der "Wechsel vom Asylrecht in dauerhafte Aufenthaltstitel unabhängig vom Asylstatus, sofern Personen erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert sind", wie das IfW erläutert.
Quellen: Institut für Weltwirtschaft (IfW), Auswärtiges Amt, Wahlprogramme der Partein, Jan-Martin Altgeld