Mafule Camara sitzt auf einer einfachen Holzbank vor ihrer Hütte in der guineischen Hauptstadt Conakry. Sie erinnert sich noch genau an den Tag, an dem ihr kleines chinesisches Billigtelefon klingelte und auf dem gesprungenen Bildschirm eine unbekannte Nummer aufleuchtete. Sie sagt: "Es waren Freunde von ihm, die uns mitteilten, dass Lansana tot ist." Was genau geschah, lässt sich nicht rekonstruieren. Feststeht nur, dass Lansana Bangoura die Reise nicht überlebte. Mafule Camara: "Oh, Lansana! Mon bébé, mon bébé!"
Mafule und ihr Mann Sekou kannten das Risiko. Sie hatten Geschichten gehört. Geschichten von Menschen, die in der Sahara verdursten oder in die Hände brutaler Menschenhändler fallen. Sie wussten, dass einige Migranten von Foltergefängnisse in Libyen erzählten. Und sie wussten, dass regelmäßig Menschen im Mittelmeer ertrinken. Und dennoch haben sie ihren Jungen auf die Reise geschickt. Warum? - "Lansana war unsere einzige Hoffnung auf ein besseres Leben", sagt sein Vater. Er selbst kann die Familie nicht mehr ernähren. Seit Jahren muss Lansanas Mutter mit dem Verkauf selbstgebrannter Holzkohle einen Großteil des Familieneinkommens erwirtschaften. Viel ist das nicht. An jedem Plastiksäckchen mit Kohle verdient sie gerade einmal rund 5 Cent, erzählt sie. Ihre einzige Hoffnung, für die Familie einen Weg aus der Armut zu finden, ist eine vernünftige Ausbildung für die Kinder. Aber, sagt Lansanas Vater: "Wir hatten nur genug Geld, um eines unserer Kinder zur Schule zu schicken."
Alle Ressourcen für die Flucht
Lansana machte Abitur und studierte Soziologie. Alle Ressourcen der Familie flossen in seine Ausbildung. Sie hofften, dass er so eines Tages die Familie ernähren könne. Aber Lansana fand auch Jahre nach dem Ende seines Studiums keine Arbeit in Conakry. Kein Einzelfall in einem Land, das wie so viele Länder in Westafrika unter extremer Jugendarbeitslosigkeit leidet. Von Jahr zu Jahr schwand die Hoffnung. "Wenn du nicht aus einer einflussreichen Familie kommst, hast du hier keine Chance", sagt Lansanas Onkel bitter. Und sein Vater fügt hinzu:
"Deshalb haben wir irgendwann beschlossen, Lansana nach Europa zu schicken. Wir dachten, dort wäre es einfacher, und er würde uns so bald ein gutes Einkommen sichern."
Um das Geld für die Reise aufzubringen, verkauften sie für umgerechnet 3.000 Euro ein kleines Stück Land am Stadtrand von Conakry, das seit jeher im Besitz der Familie war. Eine enorme Summe in einem Land, mit einem Durchschnittseinkommen zwischen hundert und hundertfünfzig Euro im Monat. Aber nicht genug, um es bis nach Europa zu schaffen. Aus Libyen meldet sich Lansana bei der Familie und sagt, er brauche noch einmal 3.000 Euro - für die Überfahrt. Lansanas Vater:
"Aber wir hatten nichts mehr. Deshalb haben wir rumgefragt: bei Verwandten und Bekannten, bei Freunden und Leuten aus dem Viertel."
Sie versprechen, das Geld zurückzuzahlen, sobald Lansana erst in Europa ist und Geld verdient. Europa - das ist hier in den Köpfen vieler Menschen ein Ort unermesslichen Reichtums. Ein Bild, das aus der Kolonialzeit stammt und das sich in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt hat - auch, weil sie gut bezahlte, westliche Entwicklungshelfer vor Augen haben. Fernsehen und soziale Medien befördern diese Erzählung vom reichen Westen noch, so dass Schlepper leichtes Spiel haben, aus den Träumen der Migranten Geld zu machen.
Unbequeme Schuldfrage
Von Europa kennen die Menschen hier eher Mercedes und Ronaldo als Hartz IV und Arbeitsamt. Außerdem kennt fast jeder irgendwen, der es nach Europa geschafft hat und von dort regelmäßig Geld an die Familie schickt. Tatsächlich stellen Migranten und ihre sogenannten Rücküberweisungen in vielen afrikanischen Ländern eine wichtige Wirtschaftssäule dar. Inzwischen fließt längst mehr Geld über private Kanäle nach Afrika als durch staatliche Entwicklungshilfe. Angesichts dessen dauert es nicht sehr lange, und die Familie hat das nötige Geld zusammen. Alle gehen davon aus, dass die Investition sich schon bald auszahlen werde. Stattdessen kommt irgendwann jener Anruf von einer unbekannten Nummer mit der Todesnachricht. Fühlen sie sich schuldig? Lansanas Vater schüttelt den Kopf:
"Schuld war die Armut. Sie hat uns keine andere Wahl gelassen. Trotzdem ist es schwer mit dem Wissen zu leben, dass wir ihn auf diese Reise geschickt haben. Ich muss jedes Mal weinen, wenn ich daran denke."
Doch vor die Trauer schiebt sich die existenzielle Krise, in die die Familie durch Lansanas Tod gestürzt ist. Seine Mutter sagt:
"Unsere ganze Hoffnung lag auf ihm. Jetzt ist er tot. Wovon sollen wir nun leben?"
Als Lansana Bangoura starb, versanken die Träume und Hoffnungen seiner ganzen Familie mit ihm im Meer. Aber der Fokus auf den finanziellen Verlust werde mit der Zeit der Trauer weichen, ist Damaye Kouroumah überzeugt. Sie weiß, was es heißt, mit dem Verlust eines Kindes leben zu müssen. Ihr Sohn starb bereits vor zwanzig Jahren bei dem Versuch nach Europa zu kommen. Selbst den schlimmsten finanziellen Verlust könne man irgendwann irgendwie verkraften. Der Verlust eines Kindes hingegen lasse einen nie mehr los. Damaye Kouroumah: "Seit zwanzig Jahren denke ich jeden Tag an meinen Sohn. Jeden einzelnen Tag. Die Erinnerung schwindet nicht."