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Migrationsgeschichten in der Politik
Chancen und Hürden der Diversität

In deutschen Parlamenten hat nur höchstens jeder zehnte Abgeordnete einen Migrationshintergrund. Parteien wollen diesen Anteil durch freiwillige Selbstverpflichtung erhöhen. Dabei geht es um die Frage, ob in unserer Demokratie die Gesellschaft hinreichend politisch repräsentiert wird - und werden kann.

Von Vivien Leue |
Blick in das Plenum des nordrhein-westfälischen Landtags.
Im nordrhein-westfälischen Landtag haben nur drei Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund (picture alliance / dpa / Federico Gambarini)
Der Landtag in Nordrhein-Westfalen, Mitte Mai.
"Meine Damen und Herren, ich freue mich …"
Zweieinhalb Jahre lang haben 13 Landtagsabgeordnete aller Fraktionen darüber beraten, wie Vielfalt in der Demokratie gestärkt werden könnte. Dazu stellen sie nun als Enquete-Kommission "Subsidiarität und Partizipation – Zur Stärkung der parlamentarischen Demokratie" ihren Abschlussbericht vor.
"Wir haben intensive Diskussionen gehabt", sagt der Kommissionsvorsitzende und CDU-Abgeordnete Stefan Nacke. 85 Handlungsempfehlungen haben er und sein Team erarbeitet. Es geht darum, politische Bildung schon früh in der Schule zu verankern, Prozesse direkter Demokratie zu fördern und Beteiligungsmöglichkeiten außerhalb der Parlamente zu schaffen.
"Demokratie braucht mündige Bürger und braucht politische Bildung."
Farhad Dilmaghani, DeutschePlus (l), Ferda Atamam, Neue deutsche Medienmacher (M), Tahir Della, Initiative Schwarze Menschen (h.r) und Leila Youngs El-Amaire, JUMA - Jung, Muslimisch, Aktiv (r) am 09.02.2015 bei der Pressekonferenz «Wer wir sind, was wir wollen» in Berlin
Migrantenparteien- und Initiativen
Fast jeder vierte Bundesbürger hat eine Zuwanderungsgeschichte. In der Politik wird diese Realität aber kaum abgebildet: Gerade einmal acht Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Inner- und außerparteiliche Initiativen versuchen das zu ändern.

Menschen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert

Ein Schlagwort allerdings, das in der Vorstellung fehlt, ist Repräsentanz. Dabei ist sie ein Grundpfeiler unserer parlamentarischen Demokratie: Die Bürger und Bürgerinnen werden durch gewählte Vertreter und Vertreterinnen repräsentiert – so zumindest das hehre Ziel. Was aber, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen chronisch unterrepräsentiert sind? Nachfrage:
"Es gibt schon einige Frauen, aber Menschen mit Migrationshintergrund sehe ich kaum und in den Parlamenten ist das natürlich ein großes Problem. War das bei Ihnen überhaupt Thema, diese Frage Diversität?"
Kurzes Schweigen – und dann fraktionsübergreifende Selbstkritik:
"Parlamente müssen schon die unterschiedlichen Interessen in der Bevölkerung aufgreifen und deshalb war es uns ein Anliegen, da Lösungen anzubieten. Da sind wir nun nicht an allen Stellen übereingekommen."
"Ich finde, sie haben den Finger durchaus in eine richtige Wunde gelegt, weil wir natürlich aus einem Parlament kommen, das nicht repräsentativ in dem Sinne besetzt ist."
"Wir haben wirklich viele sehr intensive Diskussionen darüber geführt …"
"… hatten dann aber auch Grundfragen zu klären: Wer repräsentiert denn eigentlich wen in so einem Parlament?"
Die Zahlen lassen hier wenig Interpretationsspielraum: In Deutschland haben laut Statistischem Bundesamt 26 Prozent der Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund – das heißt: Sie selbst oder ihre Eltern sind zugewandert. Etwa aus der Türkei, Polen oder einem anderen Land.
In den Parlamenten sind die Anteile dagegen weitaus geringer: In Nordrhein-Westfalen haben nur drei Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund, im jüngst gewählten Landtag von Rheinland-Pfalz liegt der Anteil bei zwei Prozent, in Baden-Württemberg immerhin bei knapp zehn Prozent. Im Bundestag haben gut acht Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund.

Unterschiedliche Interessen brauchen unterschiedliche Vertreter

Was bedeutet das für unsere Demokratie, wenn zwar – je nach Region in Deutschland - ein Viertel bis ein Drittel der Menschen einen Migrationshintergrund haben, aber in den Parlamenten höchstens jeder Zehnte? Kann man hier noch von Repräsentation sprechen?
"Der Begriff der Repräsentanz ist überaus schwierig", stellt die Juristin Sophie Schönberger klar. Sie sitzt nahe der Universität in Düsseldorf in ihrem Garten. Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht sowie Ko-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung.
"Also Repräsentanz in unserer repräsentativen Demokratie bedeutet nicht und kann nicht bedeuten, dass wir ein exaktes Abbild haben der Bevölkerung im Parlament. Das Parlament ist keine Miniatur-Bevölkerung. Das geht auch gar nicht, denn dann hätten wir keine freie Wahl mehr."
Eine gemischte Gruppen von Frauen und Männern mit farbigen Sprechblasen in den Händen.
Mehr Quoten wagen?
Laut Grundgesetz sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Die Realität sieht anders aus - deshalb fordern viele eine Frauenquote. Auch andere Gruppen wollen Teilhabe: Menschen mit Migrationsgeschichte, mit Behinderungen. Brauchen wir mehr Quoten?
Gesetzliche Quoten – ob nun für Frauen oder für Menschen mit Migrationshintergrund – hätten deshalb verfassungsrechtlich kaum eine Chance.
"Aber auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass Demokratie davon lebt, dass unterschiedliche Interessen artikuliert werden. Und dafür ist es ganz zentral, dass eben das Parlament divers zusammengesetzt ist und auch Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit sehr unterschiedlichen beruflichen Hintergründen und natürlich auch mit unterschiedlichen sonstigen biografischen Hintergründen inklusive einer Migrationsgeschichte eben dann vereint."

Geld und Netzwerke als Hürden

Hieran mangelt es in deutschen Parlamente allerdings. Und offenbar – so zeigt es das Beispiel der Enquete-Kommission im NRW-Landtag – können sie daran eigenmächtig kaum etwas ändern.
"Es ist im Moment definitiv nicht divers genug."
Woran liegt das? An mangelndem Interesse wohl nicht. Verschiedene Studien, zum Beispiel der Bertelsmann-Stiftung, haben in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass sich Menschen mit Zuwanderungsgeschichte durchaus engagieren wollen – und sie tun das auch, allerdings vor allem in Sportvereinen, Kulturclubs, Kirchen und Moscheen. Warum nicht auch in der Politik?
"Wenn man nicht einen seltenen Quereinsteiger-Weg wählt, muss man sich sehr früh dafür entscheiden, darauf zuarbeiten. Man muss sehr viel Zeit investieren, mitunter auch Geld investieren für solche Kandidaturen. Das ist etwas, was natürlich Hürden aufbaut, völlig klar. Und diese Hürden sind natürlich größer für jemanden, der vielleicht nicht den familiären Hintergrund hat, wo irgendwie schon der Onkel oder wer auch immer in der politischen Partei aktiv war, vielleicht mal ein kommunales Mandat hatte. Also das sind faktische Hürden."
Einer, der diese Hürden schon genommen hat, ist Ibrahim Yetim. Der 56-Jährige ist Sohn türkisch-kurdischer Einwanderer, gelernter Bergmechaniker und seit 2010 SPD-Abgeordneter im nordrhein-westfälischen Landtag. Dreimal wurde er bisher als Direktkandidat ins Parlament gewählt. Zuvor war er jahrelang in Kommunalparlamenten aktiv, auch in der Gewerkschaft engagierte er sich. So baute Yetim wichtige Netzwerke auf und setzte sich innerparteilich durch.
"Allein diesen Wahlkreis zu holen, ist ja wirklich schon schwierig. Das sind ja auch eigene Erlebnisse, die ich hatte. Wo dann natürlich so im Flurfunk, insbesondere dann, wenn es eben mehrere Bewerber gibt, dann natürlich auch intern gesagt wird: ob wir das mit einem türkischen Namen auf einem Wahlplakat schaffen."

Zunehmender Rassismus blockiert

Yetim ist in Dinslaken geboren, in Duisburg aufgewachsen, hat in Essen studiert und wohnt heute mit seiner Familie im niederrheinischen Moers. Und trotzdem sei seine Partei nach der Landtagswahl 2010 gefragt worden: "Habt Ihr denn keinen Deutschen?" Rassismus begleite ihn und seine politische Arbeit seit jeher, sagt Yetim. Allerdings hätten die Angriffe und Beleidigungen zuletzt zugenommen.
"Über all die Jahre hinweg baut man sich ja auch so eine Mauer um sich herum und lässt so etwas nicht an sich herankommen. Ich habe aber sehr deutlich gemerkt, dass diese Mauer auch anfängt zu bröckeln."
Er habe Verständnis dafür, dass sich viele diesen Angriffen nicht aussetzen wollen.
Aminata Toure (Bündnis 90/Die Grünen), Vizepräsidentin und Abgeordnete des Landtages von Schleswig-Holstein, spricht während der 39. Sitzungswoche im Landtag. Themen sind unter anderem die Schleswig-Holsteinische Impfstrategie und eine Änderung des Maßregelvollzugsgesetzes.
Aminata Touré (Grüne): "Rassistische Strukturen an ganz vielen Stellen"
Nach rassistischen Drohungen hat der Grüne Tareq Alaows seine Bundestagskandidatur zurückgezogen. Seine Erfahrung zeige, dass es in Deutschland für Personen mit Fluchthintergrund nicht leicht sei, ein politisches Mandat anzustreben, sagte die Grünen-Politikerin Aminata Touré im Dlf.
Die polizeiliche Statistik zählte bundesweit im Jahr 2020 mehr als 3.000 politisch motivierte Übergriffe auf Amts- und Mandatsträger in Deutschland, fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die meisten Angriffe passierten verbal, per Hassbotschaft im Netz oder über Droh-Mails, aber auch 89 Fälle von Gewalt wurden gezählt. Der syrische Flüchtling Tareq Alaows zum Beispiel wollte als Direktkandidat der Grünen für den Bundestag kandidieren – und zog seine Kandidatur jüngst wegen rassistischer Angriffe und Drohungen zurück.

Gesetzliche Quote problematisch

Ibrahim Yetim, der Landtagsabgeordnete, Familienvater und Bürger mit Migrationshintergrund, sieht hier nicht nur den Staat mit seiner Polizei und den Gerichten in der Pflicht, sondern auch die politischen Parteien. Wenn sich wirklich etwas ändern soll, die Parlamente diverser werden sollen, müssten die Parteien mit gutem Beispiel vorangehen.
"Diskriminierung findet ja nicht nur in den Feldern außerhalb der Parteien und der Politik statt, sondern auch in Parteien und Politik."
Zwar sprechen sich fast alle Parteien offen gegen Rassismus aus und geloben, mehr Vielfalt in den eigenen Reihen zu fördern. Aber bei konkreten Maßnahmen sieht es dünn aus, auch in Yetims eigener Partei.
"Was wir jetzt für den Bundestag aufgestellt haben – das ist, das habe ich auch sehr deutlich gesagt - das ist ein Armutszeugnis für uns als NRW-SPD."
Unter den ersten 20 Listenplätzen sei niemand mit Migrationshintergrund.
"Die Parteien, wir tragen ja zur Willensbildung bei. Wir sagen ja immer alle – bis auf eine Partei – sagen wir ja immer: Wir sind ein Einwanderungsland und so weiter. Das ist ja mittlerweile Konsens bei uns. Und wenn wir unseren Auftrag wahrnehmen wollen, die Willensbildung in der Gesellschaft voranzubringen, dann müssen wir genau das tun."
Die Bundeskanzlerin Angela Merkel unterhält sich bei der Sitzung des Bundestages mit den SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby und Yasmin Fahimi.
Vielfalt Fehlanzeige - Migranten in der Politik wenig vertreten
In den Parlamenten sitzen kaum Menschen mit ausländischen Wurzeln. Auch die Parteien tun sich mit der Vielfalt in den eigenen Reihen schwer. Das führt zu einem Demokratiedefizit – und Frust bei migrantischen Wählern. Wie lässt sich das ändern?
Die unterrepräsentierten Gruppen fördern. Natürlich gilt auch bei der Aufstellung der Landeslisten für die Bundestagswahl: Quoten sind verfassungsrechtlich höchst problematisch. Professorin Sophie Schönberger:
"Mit gezielten Maßnahmen von oben, also wirklich mit staatlicher Steuerung kann man da relativ wenig erreichen."
Was also tun? Schönberger sieht wie Yetim die Verantwortung bei den Parteien.
"Die Parteien selber sind natürlich gefragt, die Menschen zu ermutigen, und natürlich auch eigene Hürden abzubauen, eigene rassistische Strukturen und Vorurteile zu hinterfragen."
Als erste Partei in Deutschland haben sich Ende vergangenen Jahres die Grünen ein sogenanntes Vielfaltsstatut gegeben. Es ist so etwas wie eine parteiinterne Quote. Bisher unterrepräsentierte Gruppen sollen bei den Grünen künftig gemäß ihrem Anteil an der Gesellschaft vertreten sein – und zwar auf allen Ebenen der Partei.
Noch ist es zu früh, um abschätzen zu können, ob solch eine Selbstverpflichtung wirklich greift. Blickt man auf die aktuellen Fraktionen im Bundestag, zeigen Berechnungen des Mediendienstes Integration: Bei den Grünen haben 15 Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund, bei den Linken sind es 19 Prozent, bei der SPD etwa zehn Prozent. Die Quoten der restlichen Fraktionen liegen im einstelligen Bereich, die CDU hat mit nur drei Prozent den geringsten Anteil an Abgeordneten mit Migrationshintergrund im Bundestag.

Schema des klassischen Politikers greift immer noch

Serap Güler möchte den CDU-Schnitt im neuen Bundestag heben – die nordrhein-westfälische Integrationsstaatssekretärin geht als CDU-Direktkandidatin für den Wahlkreis Köln-Mülheim ins Rennen um ein Bundestagsmandat. Seit 14 Jahren ist sie auf landespolitischer Ebene aktiv – und erinnert sich an ihre Anfänge:
"Meine Motivation war ja auch, dass ich mir dachte: Okay, ein Cem Özdemir hat es geschafft. Also kann man das schaffen. Es ist nicht einfach, er war ja lange der einzige. Lale Akgün war ja die zweite, die haben es geschafft. Also kannst du das auch schaffen."

Es sei natürlich nicht immer einfach gewesen, aber das gehöre zur politischen Karriere dazu und habe nicht immer gleich etwas mit ihren türkischstämmigen Eltern zu tun, sagt Güler.
"Manche Dinge sind anstrengend, das ist richtig, und in manchen Bereichen ist die Konkurrenz auch größer. Das ist richtig. Aber ich glaube, das belebt auch hier politisch das Geschäft, weil man immer ein Stückchen besser sein will als der andere. Das ist gut für eine Demokratie."
Sophie Schönberger beschreibt das politische Geschäft so:
"Man darf nicht vergessen, es geht hier auch um die Verteilung von Machtpositionen. Also Listenplätze sind begehrt. Und da greifen eben ganz schnell alte Mechanismen, Seilschaften, die schon vorhanden sind. Und da gibt es dann Hürden, dass Menschen, die irgendwie anders sind und die nicht in das Schema des klassischen Politikers – der eben immer noch weiß, mittelalt und männlich, sehr, sehr grob vereinfacht, ist – die da nicht so ganz reinpassen."
Serap Güler, CDU-Landtagsabgeordnete in NRW, integrationspolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion
Serap Güler, CDU-Landtagsabgeordnete in NRW, integrationspolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion (Deutschlandradio / Ellen Wilke)

Lamya Kaddor für die Grünen in den Bundestag

Lamya Kaddor entspricht diesem Schema nicht: 42 Jahre alt, zweifache Mutter, die Eltern aus Syrien. Sie bezeichnet sich selbst als liberale Muslimin und gibt an Schulen im Ruhrgebiet islamischen Religionsunterricht. Außerdem ist sie Publizistin und vergangenen Oktober den Grünen beigetreten – und die wählten sie jüngst auf Platz zwölf der NRW-Landesliste für den Bundestag, ein quasi sicheres Ticket nach Berlin.
"Ja, ich glaube, es ist eine Sache zu kritisieren, zu kommentieren, zu beobachten und vielleicht auch zu analysieren. Und eine ganz andere Sache ist, dann auch die Möglichkeit zu haben, das in gewisser Weise umzusetzen und zu verändern."
Lamya Kaddor beim Landesparteitag der Grünen NRW 
Lamya Kaddor beim Landesparteitag der Grünen NRW (picture alliance/dpa/Revierfoto )

Gerade sitzt Kaddor in Duisburg in einem schicken Hinterhof-Büro. "Dass die Grünen sehr homogen wirken, auch lange mit dem Vorwurf zu kämpfen haben, als weiße, als zu weiße Partei, das wissen wir. Es ist ein erster Schritt gewesen, mit mir jedenfalls auch mal was dagegen zu tun, aber es reicht natürlich nicht."
"Wir haben genau wie viele andere Parteien das Problem, dass Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Rassismuserfahrung bei uns unterrepräsentiert sind", sagt Felix Banaszak, Vorsitzender der NRW-Grünen. "Das ist jetzt nicht der alleinige Grund, sondern es geht natürlich auch um die Person Lamya Kaddor, die extrem viel beizutragen hat, enorm vernetzt ist, die ganz viel Expertise hat in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen. Aber es geht natürlich auch darum, dass wir besser werden müssen, diese vielfältige Gesellschaft auch in unseren eigenen Strukturen abzubilden und auch zur politischen Teilhabe über parlamentarische Arbeit zu verhelfen. Deshalb ist das, glaube ich, eine Win-Win-Situation."
Lamya Kaddor, Islamwissenschaftlerin und Autorin, in der ARD-Talkshow "Hart aber Fair" am 19.06.2017 in Berlin. Das Thema der Sendung: "Wenn Terror Alltag wird - Ist Mutigsein jetzt Buergerpflicht?"
"Ich lasse mir von niemandem erklären, wie deutsch ich bin
Die Autorin Lamya Kaddor ermutigt Migranten dazu, sich trotz der Erfahrung von Diskriminierung nicht in der Opferrolle zu sehen. Sie sagt, wichtige Integrationshelfer seien Menschen, die an einen glauben.
In Duisburg lächelt Lamya Kaddor, als sie auf die Win-Win-Situation angesprochen wird. Sie wolle nicht die Quoten-Migrantin sein, sagt sie und weiß dabei natürlich, dass sie als politische Quereinsteigerin aktuell genau das mitbringt, was die Grünen brauchen: den Migrationshintergrund und ihren Glauben. Wenn sie dafür später von Berlin aus Innenpolitik mitgestalten kann, vielleicht auch ein Vorbild sein kann für andere Frauen und Minderheiten, wenn sie ihre Ideen zu Integration, Gesellschaft und Demokratie voranbringen kann, dann sei das aber ein kleiner Preis.
"Es ist auch dringend notwendig, dass wir ein stückweit auch unsere Gesellschaft im Bundestag darstellen. Also die können doch nicht über unsere Gesetze entscheiden, über unsere Gesellschaft entscheiden, über uns, über unser Zusammenleben entscheiden, wenn nicht unterschiedliche Teile dieser Gesellschaft schlichtweg auch mitentscheiden dürfen."

Repräsentation wird immer noch unterschätzt

Diese Erkenntnis nehme in der Gesellschaft mittlerweile zu – aber es bewege sich trotzdem noch viel zu wenig, sagt die Journalistin und Vorsitzende der Neuen Deutschen Medienmacher, Ferda Ataman. Die Parlamente in Deutschland seien schlichtweg immer noch zu weiß.
"Weil das im Jahr 2021 immer noch so ist, gehöre ich zu denjenigen, die finden, wir brauchen eine Quote, damit es tatsächlich endlich umgesetzt wird. Denn wir wissen aus dem Frauen-Gleichstellungsbereich, dass das ohne Quote in manchen Gruppen einfach nicht passiert."
Ataman plädiert für freiwillige Quoten, Selbstverpflichtungen der Parteien oder Institutionen.
"Ich glaube, dass Parteien immer noch massiv unterschätzen, wie wichtig Repräsentation ist und das Gefühl haben, sie würden es ja alles irgendwie mitdenken und mitberücksichtigen. Und deswegen sei das schon okay."
Sei es aber eben nicht.
"Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass Menschen sich mit Dingen identifizieren, wenn sie ein Nähe-Gefühl haben, das kennt aber auch jeder und jede aus ihrem Alltag. Wenn ich eine junge Frau bin, dann fühle ich mich von einem 60, 70-jährigen Mann, der vielleicht auch noch ganz anders redet, von seiner Art her als ich und ein anderer Typ ist, nicht unbedingt repräsentiert oder angesprochen."

Projekt "Brand New Bundestag" will zu Diversität verhelfen

Wahlberechtigte entscheiden sich dann einfach für die Parteien, die es verstanden haben – oder für gar keine. So zeigte eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen nach der Bundestagswahl 2017, dass die Wahlbeteiligung von türkischstämmigen Deutschen deutlich unter der Gesamtbevölkerung lag.
Einige Menschen wollen auf die Eigeninitiative von Parteien und Parlamenten nicht mehr warten – und versuchen, selbst Einfluss auf die Zusammensetzung von Parlamenten zu nehmen. Max Oehl ist einer von ihnen. Der Anwalt hat das Projekt "Brand New Bundestag" mitgegründet.
"Brand New Bundestag ist eine Graswurzelorganisation, die gezielt Menschen dabei hilft, politisch erfolgreich zu sein und sich dabei auf die Fahnen geschrieben hat, den Bundestag zum einen progressiver und zum anderen diverser zu machen."
Edwin Greve (links) und Armand Zorn von Brand New Bundestag.
Brand New Bundestag: Das Parlament soll jünger und bunter werden
Eine progressive, zukunftsweisende Politik – dafür engagiert sich die Bewegung "Brand New Bundestag". Die unterstützt acht ausgewählte Kandidatinnen und Kandidaten bei ihrem Weg ins Parlament. Das Vorbild kommt aus den USA.
Elf Bundestagskandidaten und -kandidatinnen unterstützen Oehl und sein Team– unter anderem mit Coachings, Zugang zu Netzwerken und Pressearbeit.
"Es ist ja kein Geheimnis, dass zum Beispiel allein Frauen im Bundestag unterrepräsentiert sind, Menschen mit Migrationsbezug unterrepräsentiert sind, aber eben auch Ostdeutsche. Vor allem großes Problem: Menschen ohne höheren Bildungsabschluss sind im politischen Betrieb generell unterrepräsentiert. Und wir haben quasi auch Leute, die alle diese Erfahrungen und Perspektiven mit in ihre politische Arbeit mit einbringen in unserem Kandidierenden-Portfolio."
Vorbild von "Brand New Bundestag" ist das US-amerikanische Projekt "Brand New Congress", das die 31 Jahre alte Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez unterstützte. Sie wurde 2019 in den Kongress gewählt und gilt mittlerweile als eine Ikone der Linken in den USA.
Oehl ist optimistisch, dass der neu zu wählende Bundestag zumindest ein bisschen vielfältiger aufgestellt sein wird.
"Wenn man sich vor Augen hält, was für große Reformen wir ja vor der Brust haben, als Gesellschaft, die große, nachhaltige Transformation, da brauchen wir natürlich auch einen breiten Rückhalt und da können wir es uns nicht erlauben, auf gewisse Gruppen mehr oder weniger zu verzichten, weil das natürlich auch total destabilisierend sein kann für unser ganzes System."

Bessere Integration erforderlich

Letztlich müssen mehrere Ansätze greifen, um unterrepräsentierte Gruppen wie Menschen mit Migrationshintergrund in die Politik zu bringen, sagt Verfassungsrechtlerin Sophie Schönberger.
"Ich glaube, man kann das nicht isoliert lösen, sondern man kann das nur lösen, so wie man es in der gesamten Gesellschaft lösen kann. Sobald da einfach die Integration noch besser wird, sobald da Hürden abgebaut werden, sobald rassistische Vorurteile stärker abgebaut werden. Aber sobald eben auch insgesamt die Chancen von Menschen mit Migrationsgeschichte besser werden, auch im beruflichen Bereich, sodass überhaupt vielleicht erst Ressourcen frei werden, um zu sagen: Okay, jetzt habe ich auch die Zeit und die materiellen Ressourcen, um mich in der Partei zu engagieren. Sobald das erreicht ist, wird sich das auch in den politischen Parteien verbessern."
Und damit auch in den Parlamenten, ob nun in Düsseldorf, Mainz oder Berlin.