Wer in Deutschland Asyl bekommt, kann seine Familie zu sich holen. Menschen, die hierzulande aber nur einen eingeschränkten Schutzstatus haben, dürfen das nicht. Für sie ist der sogenannte Familiennachzug derzeit ausgesetzt. Das war eines der großen Streitthemen bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin. Am Dienstag haben die Parteien einen Kompromiss erreicht: Es sollen nicht mehr als 1000 Angehörige pro Monat kommen dürfen. Allerdings soll es Ausnahmen für Härtefälle geben.
Um den Familiennachzug ging es jetzt auch bei einer Tagung in Hohenheim bei Stuttgart. Jedes Jahr finden dort die "Hohenheimer Tage für Migrationsrecht" statt, veranstaltet von der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Zusammenarbeit mit Caritas, Diakonie und Deutschem Gewerkschaftsbund. Für den Deutschlandfunk war Martin Gerner dort.
Monika Dittrich: Herr Gerner, hatten die Experten in Hohenheim ein Patentrezept, wie der Familiennachzug geregelt werden könnte?
Martin Gerner: Nein, sonst wäre das wahrscheinlich schon von den Koalitionären übernommen worden. Hohenheim, das ist - wie Sie es angedeutet haben - ja so ein bisschen das moralische Gewissen der deutschen Asylszene, der Aktivisten wie der Juristen, um Versachlichung bemüht und immer um Lösung mit Migranten zusammen. Und da stand natürlich der Familiennachzug nicht zum ersten Mal auf der Agenda. In den 80er-Jahren ging es um den Nachzug türkischer Ehepartner und Kinder, das war quasi die Gründungsstunde von Hohenheim. Die Befürworter des Familiennachzugs, muss man sagen, in Hohenheim rein massenmäßig in der Überzahl, treten dafür ein, dass diejenigen, die subsidiären Schutz haben, jetzt gleichbehandelt werden, was den Familiennachzug angeht. Und sie berufen sich vor allen Dingen auf den Schutz von Familie und Ehe nach dem Grundgesetz.
"Es geht immer auch um Migrationssteuerung"
Fälle, die dort genannt wurden, sind vor allen Dingen lange Verfahren, lange Wartezeiten, die eben verhindern, dass Kinder, Jugendliche, die noch 16 waren, als sie ankamen vor zwei Jahren, jetzt schon volljährig sind und einfach auf das Recht nicht mehr rekurrieren können, auch Vertrauensschutz genießen, weil ja Deutschland denen vor zwei Jahren, vor der Aussetzung, gesagt hat: Stellt schon mal Eure Anträge.
Die Kritiker - und dazu gehören einige namhafte Juristen, die dort gesprochen haben, sagen dagegen: Der Staat muss Einwanderung und Zuzug steuern. Wir hören jetzt mal Daniel Thym, Professor an der Universität Konstanz, die bekannt ist für eine konservative Rechtsauslegung:
"Also, was juristisch relevant ist, das sind die Menschenrechte. Und es gibt ein Menschenrecht auf Familieneinheit – aber es gibt kein Menschenrecht darauf, die Einheit in einem ganz bestimmten Land zu regeln. Das heißt, bei den ganzen Fragen geht es neben dem Grundrecht auf Familieneinheit immer auch um Migrationssteuerung. Und das erkennt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an, wenn er sagt, dass die Familien nicht zwingend jeden Antrag genehmigen müssen, sondern man muss im Einzelfall schauen, ob gewisse Härtelagen vorliegen, die dann erfordern, es doch zu genehmigen."
"Wir müssen das Humanitäre bewahren"
Humanität und Härtelage vereinbaren wollen vor allen Dingen die Städte und Gemeinden, weil die für Wohnungen, Schulplätze, Kindergartenplätze sorgen müssen in so einem Fall. Das schafft Mehrkosten in Milliardenhöhe, davon ist die Rede. Nun sagen die Kirchen: Achtung, wir müssen das humanitäre Asylrecht, also das Humanitäre darin bewahren, nicht nur als Kostenfaktor diese nachziehenden neuen Mitbürger, die es dann werden, berücksichtigen. Das wurde auch unterstrichen von Seiten der Deutschen Bischofskonferenz. Wir hören einen Anwalt aus dem Bereich Weltkirche und Migration, der allerdings anonym bleiben wollte:
"Wer sichere und legale Zugangswege versperrt, der stärkt das Geschäft der Schlepper, die die Menschen ja dann auf irregulärem und gefährlichem Wege hierherbringen. Familiennachzug ist eigentlich eine der besten und auch am besten zu steuernden Form sicherer und legaler Zugangswege."
"Das ist unsäglich"
Also, spätestens an dem Punkt kriegt man mit, dass die C-Parteien und die Kirchen hier über Kreuz sind, nicht zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und immer geht es dabei um das, was in Hohenheim die Lebenslüge hieß: Ist Deutschland ein Einwanderungsland oder nicht? Faktisch längst, sagt die Mehrheit der Experten, die dort zusammenkommen. Und die empfehlen, die Krise als Chance zu sehen. Jetzt noch mal zu den Zahlen, ganz wichtig: Die geringsten Zahlen bei dem Nachzug subsidiär geschützter Flüchtlinge hier gehen von 7000 aus, die höchsten seriösen, würde ich sagen, nennen 50.000 bis 60.000. Die weniger seriösen - da sind wir beim Populismus - gehen bis zu einer Million. Das lassen wir jetzt mal beiseite. Die Schlacht in den Medien und auch die Kritik an diesen Populismen hat Klaus Barwig, der scheidende Leiter der Akademie, thematisiert - und die dicke Luft, die herrscht in Deutschland:
"Was ist das für eine Diskussion, wo politisch Verantwortliche solche Zahlen haben, wo die Profis, die damit zu tun haben, Zahlen, die nicht einmal ein Zehntel dieser Größenordnung betreffen, benennen? Das ist unsäglich und zeigt eigentlich die Vergiftung, in der wir uns im Moment befinden. Und da sind die Kirchen, beide Kirchen, mit ihren Wohlfahrtsverbänden ganz klar der Meinung: Angesichts dieser Größenordnung sind da keinerlei Bedrohungs- und Überlastungseffekte aufs Ganze hin zu sehen. Man muss wahrscheinlich eher mal überprüfen, ob die Verteilungsmechanismen, die wir im Land haben, die vor Jahrzehnten mit dem Königsteiner Schlüssel, wie also Flüchtlinge in Deutschland verteilt werden, ob der Königsteiner Schlüssel so noch angemessen ist."
Zugespitzt hat Hohenheim gefragt: Willkommenskultur geht weiter oder Abschiebekultur? Zum Vergleich und zum Abschluss: 15 der 28 EU-Staaten gewähren subsidiär geschützten Personen gleiche Rechte wie den anerkannten Asylbewerbern, auch für Familien- und Kindesnachzug. Und Völkerrechtler haben gesagt - Achtung, weil die Völkerrechtler sind sich nicht einig: Achtung, Deutschland droht möglicherweise die Gefahr, international verklagt zu werden, weil es Familien- und Kinderschutz-Konventionen nicht einhält.
Dittrich: Martin Gerner, vielen Dank für diese Eindrücke von den "Hohenheimer Tagen zur Migrationspolitik". Es ging um das Thema Familiennachzug bei Flüchtlingen mit subsidiärem Schutz.