Eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik – darüber sind die EU-Staaten schon seit Jahren zerstritten, genauer seit der großen Flüchtlingsbewegung 2015. Nun hat die EU-Kommission einen Vorschlag für die seit Jahren blockierte Reform der Asyl- und Migrationspolitik vorgelegt, über die EU-Länder und das Europaparlament anschließend verhandeln werden.
Der Vorschlag sieht eine verpflichtende Überprüfung der Identität, Gesundheit und Sicherheit des Asylsuchenden im ersten Ankunftsstaat vor. Die Verantwortung für Schutzsuchende soll besser verteilt werden. Darüber hinaus soll es ein europaweites System für die Rückführungen geben. Zudem will die Kommission die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitstaaten, aus denen die Menschen einreisen, verstärken.
Bislang gilt in der EU das sogenannte Dublin-System, bei dem das Land der ersten Einreise für das Asylverfahren und die Unterbringung zuständig ist.
Bislang gilt in der EU das sogenannte Dublin-System, bei dem das Land der ersten Einreise für das Asylverfahren und die Unterbringung zuständig ist.
Der Vorschlag der EU-Kommission für einen neuen EU-Asyl- und Migrationspakt ruht auf drei Säulen. Die erste Säule beschreibt die Prozeduren bei der Ankunft von Migranten an den EU-Außengrenzen. Die zweite Säule enthält Mechanismen der Lastenteilung unter den EU-Mitgliedstaaten. Und die dritte Säule umfasst die Kooperation mit den Herkunfts- und Transitländern der Flüchtlinge.
Säule 1: Prozeduren bei der Ankunft von Migranten an den EU-Außengrenzen
Alle ankommenden Flüchtlinge sollen in Aufnahmezentren, die an den EU-Außengrenzen errichtet werden, eine Aufnahmeprozedur durchlaufen. In deren Verlauf sollen sie dann registriert, medizinisch untersucht und einem Sicherheitsscreening unterzogen werden. Dieses Verfahren soll nicht länger als fünf Tage dauern. Dabei werden nationale Behörden mit EU-Institutionen zusammenarbeiten.
Nach Abschluss dieser Aufnahmeprozedur soll der größte Teil der Migranten an der EU-Außengrenze ein Asyl-Schnellverfahren durchlaufen. Wessen Asylantrag offensichtlich unbegründet ist, zum Beispiel, weil er aus einem Land stammt, das als sicheres Herkunftsland gilt, wird gleich vor Ort in ein Verfahren zur Abschiebung umgruppiert.
Jene Flüchtlinge mit Aussicht auf Anerkennung ihrer Fluchtgründe durchlaufen ein reguläres Asylverfahren. Und zwar in ihrem EU-Ankunftsland. Lediglich Migranten, die enge Verwandte in anderen EU-Mitgliedstaaten haben, oder die früher schon mal in einem anderen EU-Mitgliedstaat gearbeitet oder studiert haben, sollen dort ihr Asylverfahren durchlaufen. Dadurch soll die sogenannte Sekundärmigration verhindert werden.
Wofür setzt sich Deutschland bei der Reform ein?
Die Bundesregierung ist dafür, dass schon an den EU-Außengrenzen geprüft wird, ob ein Migrant schutzbedürftig ist. "Bei offensichtlich fehlender Schutzbedürftigkeit" solle die Einreise in die EU verweigert werden, heißt es im Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die noch bis Ende des Jahres läuft. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) argumentiert: Wenn diese Schlüsselfrage geklärt sei, werde auch die Verteilung einfacher.
Die Bundesregierung ist dafür, dass schon an den EU-Außengrenzen geprüft wird, ob ein Migrant schutzbedürftig ist. "Bei offensichtlich fehlender Schutzbedürftigkeit" solle die Einreise in die EU verweigert werden, heißt es im Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die noch bis Ende des Jahres läuft. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) argumentiert: Wenn diese Schlüsselfrage geklärt sei, werde auch die Verteilung einfacher.
Säule 2: Mechanismen der Lastenteilung unter den EU-Mitgliedstaaten
Dieser Teil der Kommissionsvorschläge unterscheidet drei Szenarien, aus denen eine abgestufte Pflicht der Mitgliedstaaten abgeleitet wird, den Ankunftsländern der Migranten solidarisch beizustehen.
Das erste Szenario beschreibt gewissermaßen den Normalzustand an den europäischen Außengrenzen: Es kommt nur eine überschaubare Zahl von Migranten an, in der Mehrzahl handelt es sich dabei um Flüchtlinge, die aus Seenot gerettet wurden. In diesem Szenario können die Ankunftsländer nur auf freiwillige Solidarität hoffen. Die EU-Kommission wirbt dafür, dass eine Koalition der Willigen den Ankunftsländern beispringt.
Das zweite Szenario beschreibt eine Situation, in der das Asylsystem eines Mitgliedstaats durch deutlich steigende Flüchtlingszahlen unter großen Druck gerät. Auch in dieser Situation sollen die anderen EU-Staaten primär auf freiwilliger Basis Hilfe leisten. Reicht diese Hilfe aber nicht aus, dann kann die EU-Kommission die übrigen EU-Staaten zur Hilfe verpflichten.
Das dritte Szenario beschreibt schließlich eine Krisensituation wie 2015, als fast zwei Millionen Flüchtlinge in die EU kamen. Sollte sich so etwas noch einmal wiederholen, wären alle EU-Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Hilfe verpflichtet.
Wie handelten die EU-Länder bei der Flüchtlingsbewegung 2015?
Zu Beginn der Flüchtlingsbewegung 2015 herrschte unter den EU-Staaten noch weitgehende Einsicht, dass den Ländern an den EU-Außengrenzen geholfen werden muss. In zwei Mehrheitsentscheidungen entschieden die damals noch 28 Länder die Umverteilung von bis zu 160.000 Schutzsuchenden aus Italien und Griechenland. Ungarn, Polen und Tschechien stemmten sich jedoch beharrlich dagegen. Seitdem ist die EU in dieser Frage zerstritten.
Zu Beginn der Flüchtlingsbewegung 2015 herrschte unter den EU-Staaten noch weitgehende Einsicht, dass den Ländern an den EU-Außengrenzen geholfen werden muss. In zwei Mehrheitsentscheidungen entschieden die damals noch 28 Länder die Umverteilung von bis zu 160.000 Schutzsuchenden aus Italien und Griechenland. Ungarn, Polen und Tschechien stemmten sich jedoch beharrlich dagegen. Seitdem ist die EU in dieser Frage zerstritten.
Diese Hilfe, und das ist ein Unterschied zu allen bislang diskutierten Konzepten, muss nicht zwangsläufig aus der Übernahme eines Flüchtlingskontingents bestehen. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, können dem Kommissionsvorschlag zufolge ihre Solidarität auch anders ausüben, etwa indem sie sogenannte "return sponsorships" übernehmen. Das ist die bindende Verpflichtung, binnen maximal acht Monaten eine festgelegte Zahl abgelehnter Asylbewerber aus dem Staat, der der Hilfe bedarf, in ihre Heimatländer zurückzubringen. Gelingt die Abschiebung in der vorgegebenen Zeit nicht, dann muss das zur Hilfeleistung verpflichtete Land die abgelehnten Asylbewerber selbst bis zu deren Abschiebung aufnehmen.
Säule 3: Kooperation mit den Herkunfts- und Transitländern der Flüchtlinge
Die EU-Kommission hat angekündigt, einen Aktionsplan für die bessere Integration anerkannter Flüchtlinge vorzulegen. Außerdem sollen mit bestimmten Drittstaaten Abkommen geschlossen werden, die Wege der legalen Migration in die EU eröffnen. Maßgabe dafür sollen die Erfordernisse des EU-Arbeitsmarktes sein.
Seit Jahren streiten die EU-Staaten über die Verteilung von Schutzsuchenden - und seit Jahren kommen sie nicht voran. Die Fronten sind verhärtet. "Die EU muss den derzeitigen Stillstand überwinden und sich der Aufgabe stellen", fasste es etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Vorstellung ihrer Pläne für eine neue europäische Asyl- und Migrationspolitik zusammen.
Die bisherige Situation führte des Öfteren zu Notfällen und Ad-hoc-Lösungen. Vor allem Länder an den Außengrenzen wie Griechenland, Italien und Malta fühlen sich durch das aktuellen System überlastet. Sie fordern, dass andere Länder ihnen Migranten abnehmen. Staaten wie Tschechien, Ungarn und Polen lehnen eine verpflichtende Umverteilung von Migranten auf alle EU-Länder jedoch kategorisch ab.
Hilfsorganisationen verweisen auf die humanitäre Lage in den überfüllten Flüchtlingslagern, beispielsweise in Griechenland. Dort war im September im Flüchtlingslager in Moria auf Lesbos ein Brand ausgebrochen. Italien und Malta verweigern Schiffen mit aus Seenot geretteten Migranten teilweise wochenlang die Einfahrt in einen ihrer Häfen.
Ein weiteres Argument für die Reform der Asyl- und Migrationspolitik ist wirtschaftlich orientiert: Europa brauche aus wirtschaftlichen Gründen eine Einwanderung – diese aber gesteuert und zielführend. Denn durch die Überalterung der Gesellschaft stünden künftig nicht mehr genügend Fach- und Arbeitskräfte zur Verfügung.
Die sogenannte Dublin-III-Verordnung wurde am 26. Juni 2013 vom EU-Parlament und Rat beschlossen und trat am 1. Januar 2014 in Kraft und ersetzte die Dublin-II-Verordnung. Das erste Dubliner Übereinkommen wurde am 15. Juni 1990 ebendort – der Hauptstadt der Republik Irland - von Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Spanien und Großbritannien unterzeichnet. Anschließend wurde es weiter entwickelt zur Dublin-Verordnung. Sie gilt mittlerweile in allen EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen, Island und der Schweiz.
Die Verordnung regelt, in welchem EU-Mitgliedstaat ein Schutzsuchender Asyl beantragen kann.
Demnach ist der EU-Staat für einen Asylantrag zuständig, auf dessen Boden der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat. Dies belastet vor allem Länder an den EU-Außengrenzen - etwa Griechenland, Italien oder Spanien. Für sie heißt das Dublin-III-Abkommen in der Praxis: Es ist ihre Aufgabe, das Flüchtlingsproblem zu lösen. Mit der Flüchtlingsbewegung von 2015 gingen die Mittelmeer-Anrainer unterschiedlich um: Griechenland setzt seitdem auf Abschreckung, Italien zeigte den Flüchtlingen ohne Registrierung und Bearbeitung von Asylanträgen den Weg nach Norden, in die anderen EU-Staaten. Auch dies trug zum Streit zwischen den EU-Staaten bei.
Bei ihren Reformvorschlägen setzt die EU-Kommission deshalb nicht mehr auf eine Überarbeitung der geltenden Dublin-Regeln. EU-Kommission-Präsidentin Ursula von der Leyen bekräftigte bei der Vorstellung ihrer Pläne, sie wolle die Dublin-III-Verordnung nicht reformieren, sondern abschaffen. Die wesentlichen Grundsätze von Dublin III sind allerdings auch in dem neuen Vorschlag enthalten.
In den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 beantragten 196.620 Menschen erstmals Asyl in einem der 27 EU-Staaten, das ist ein Rückgang um 34 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2019 - so Medienberichte unter Berufung auf die Auswertung neuer Zahlen des EU-Statistikamtes Eurostat. Grund für den Rückgang sei offensichtlich die Coronakrise. Die Zahlen brachen erst mit Beginn des ersten Lockdowns im März massiv ein.
In Deutschland beantragten den Daten zufolge zwischen Anfang Januar und Ende Juni 46.655 Menschen erstmals Asyl - ein Rückgang um 36 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aus den Zahlen ergibt sich, dass Deutschland weiter das wichtigste Zielland für Asylbewerber in der Europäischen Union ist, dahinter liegen Spanien und Frankreich - der deutsche Anteil aller Erstanträge in der EU liegt allerdings mit 23,7 Prozent deutlich niedriger als während der Flüchtlingsbewegung 2015/2016, als der Anteil über 30 Prozent betragen hatte.
Für das Jahr 2015 hatte die EU-Grenzschutzagentur mehr als 1,8 Millionen irreguläre Grenzübertritte in die EU und den Schengenraum registriert.
(Text: Catherine Shelton, Peter Kapern)