Diese Skala reicht vom aufdringlichen Blick über die anzügliche Bemerkung und das anständige Benehmen bis zur Folter, Vergewaltigung und Tötung.
In Diagnose und Therapie gehen die Autoren mit aller Vorsicht zur Werke. Friedrich Schillers Frage, woran es denn läge, dass wir immer noch Barbaren sind, bildet den gemeinsamen Fixpunkt. Im einzelnen behandeln die klug komponierten Studien die Mechanismen militärischer Gehorsamsproduktion, den Zusammenhang von Aufklärung, Religion und Politik und die Aktualität von Schellings Metaphysik des Bösen.
Bei der Beschreibung des ersten Völkermords im 20. Jahrhundert, des Genozids an den Armeniern 1915 durch die Türkei, wird die Erfahrung sprachlicher Grenzen deutlich. Die Literatur, die von jener Katastrophe berichtet, weist Züge eines versehrten Schreibens auf. Das ist das Thema der spiegelbildlich angelegten Beiträge von Krikor Beledian und Janine Altounian.
Als Treuhänder einer solchen Wirklichkeit bleiben jene Vermittler, die die Erben der Katastrophe sind, in ihren Identifikationen gespalten, mit einem Teil ihres Selbst an beschädigte, stumme Objekte gefesselt, und müssen doch, um ihre Existenz zu legitimieren oder überhaupt zu begründen, als Sprachrohr der nicht begrabenen Toten auftreten, die kryptisch in ihnen selbst eingeschrieben sind.
Der manierierte Satzbau zeigt, dass die Autorität des Wortes eine Geisel der Gewalt bleibt, die sie verschoben repräsentieren muss. Selbst umsichtige Vermittler, die gestochen scharfe Definitionen von Macht und Herrschaft aufbieten, scheinen von der Krankheit der Zeit wie von einer Heimsuchung befallen: ebenso scharf wie hilflos bestimmt Hermann Lübbe die Nazi-Ideologie als Versuch,
gewisse Menschen als anspruchsuntaugliche Subjekte aus dem Lebenszusammenhang prinzipiell auszuscheiden.
Ein Beitrag hat die logische Aporie, das geschichtliche Dilemma, das politische Paradox auf den Punkt gebracht:
Eine Lösung des Gewaltproblems wäre selbst eine Gewaltlösung.
Gewaltsamkeiten bilden die Kehrseite jeder Ordnung, die ihren Bestand behaupten will. Stets geht es darum, ein anderes auszuschließen, das als mögliche Bedrohung eines stabilen Systems wahrgenommen wird. Dabei findet ein verwickelter Kampf um Anerkennung statt, wie der Aufsatz von David Wood über 'Philosophie und Gewalt' darlegt.
Terror, sadistische Folter, Vergewaltigung, Gewalt im Fußball, Demütigung - all dies sind Verbrechen aus Anerkennung, in denen ein Teil des Gewichtes der Handlung darin besteht, wenigstens einen Teil der Anerkennung der eigenen Stärke und 'Überlegenheit' von Seiten des Opfers zu erzwingen."
Die Dialektik der Anerkennung bildet eine Grundfigur der Philosophie Hegels. Seiner Metaphysik ist der ungescheute Blutrausch verpönt, der heute nicht nur in den archaischen Formen ethnischen Fremdenhasses, sondern in modernen Strategien rationaler Barbarei und geplanten Genozids auftritt. Für Hegel ist die Politik eine symbolische Form der Gewalt, die verstanden und entwickelt werden will, um sie begrenzen zu können.
An Hegels Dialektik geschulte Überlegungen hat Jacques Rancière beigesteuert. Sein wuchtiger Text, der in Denkungsart und Schreibweise besticht, entfaltet eine Meditation über das Ideal der Gleichheit. Ihm zufolge ist die Gleichheit eine außergewöhnliche Grenzerfahrung, die einer durch Ideen und Interessen verstellten Wahrnehmung abgerungen werden muss. Das illustriert Rancière durch eine minutiöse Lektüre klassischer Lehrfabeln, die die gesellschaftliche Arbeitsteilung als naturgegeben und gottgewollt vorstellen.
Die Politik ist das Werk einer besonderen Art von Subjekten, derer nämlich, die Szenen des Streithandels produzieren, in denen zwei einander entgegenstehende Welten zusammengebracht werden.
Rancière verankert den Klassenkampf bereits in der Struktur der Wahrnehmung. So will er der drohenden Zerstörung der Politik durch den Konsens trotzen, der die symbolische Gewalt umgeht.
Der Konsens ist eine soziale Theodizee.
Für ihn verkörpert der Dissens in der Buchhalterwelt des Politbarometers, der Meinungsumfrage und der Wahlprognose etwas Unberechenbares.
Der Dissens ist nicht das verlorene Paradies des Heroismus oder aber die hinter sich gelassene Hölle der Gewalt. Er ist vielmehr die politische Vernunft im eigentlichen Sinn.
Die These vom Dissens als Quelle des Politischen liefert gewiss kein Patentrezept gegen die Krankheit der Zeit. Doch der zivilisierten Grausamkeit, die kriegerische Gewalten entfacht, weil sie symbolische Gewalten verkennt, bietet sie wenigstens die Stirn.
"Gewalt. Strukturen, Formen und Repräsentationen" heißt der eben von Khosrow Nosratian besprochene Band, herausgegeben von Mihran Dabag, Antje Kapust und Bernhard Waldenfels. Er ist in der Reihe Genozid und Gedächtnis im Münchener Wilhelm Fink Verlag erschienen. Das Buch hat 357 Seiten und kostet 68 DM.