Archiv

Milad Karimi über islamische Spiritualität und Corona
"Vor dem Virus sind alle gleich"

Der islamische Religionsphilosoph Milad Karimi sieht in der Coronakrise ein "Zeichen Gottes". Die "konsumorientierte, umweltverschmutzende Weise zu leben darf so nicht weitergehen", sagte Karimi im Dlf. Die Pandemie biete auch die Chance, Fehler in der Flüchtlingspolitik zu korrigieren.

Milad Karimi im Gespräch mit Andreas Main |
Prof. Ahmad Milad Karimi in Kitzingen.
Professor Ahmad Milad Karimi (Daniel Biskup)
Milad Karimi hat einen ungewöhnlichen Bildungsweg hinter sich. Er ist 1979 in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans, geboren. Im Alter von 13 Jahren floh er mit seinen Eltern. Nach einer Odyssee fanden sie in Deutschland eine neue Heimat. Nach dem Abitur und dem Studium promovierte Milad Karimi ausgerechnet über zwei der deutschesten deutschen Philosophen, über Hegel und Heidegger. Heute versteht er sich als Religionsphilosoph, als Islamwissenschaftler, als Koranübersetzer und Schriftsteller. Seit 2016 ist er ordentlicher Professor für islamische Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Bücher haben poetisch-ironische Titel wie "Osama bin Laden schläft bei den Fischen: Warum ich gerne Muslim bin und wieso Marlon Brando viel damit zu tun hat" oder "Warum es Gott nicht gibt und er doch ist".

Form und Inhalt

Andreas Main: Herr Karimi, steigen wir persönlich ein. Wie würden Sie sich beschreiben? Sind Sie ein Romantiker?
Milad Karimi: Ja, mit Nachdruck.
Main: Und zwar warum?
Karimi: Weil nur romantisch sich das Leben auch lohnt zu leben.
Main: Auf jeden Fall sind Sie kein Zyniker?
Karimi: Nein, gerade das Gegenteil davon. Und meine ganze Arbeit versteht sich gerade als eine Arbeit gegen jede zynische Aneignung der Welt.
Main: Und sicherlich sind Sie ein Ästhet?
Karimi: Würde gerne. Arbeite daran. Ästhetisch heißt eigentlich, Sinn für Sinnlichkeit zu haben. Und das ist eigentlich eine Übung, die wir Tag für Tag – ja – tun sollten.
Main: Sie tragen oft oder immer eine Fliege. Ich kann Sie jetzt nicht sehen in Münster. Welche Farbe hat Ihre Fliege heute?
Karimi: Meine Fliege, die ich heute nicht habe, hat die Farbe Bordeauxrot.
Main: Wie sieht Ihre Maske aus?
Karimi: Meine Maske ist weiß.
Main: Ganz schlicht weiß?
Karimi: Ja.
Main: Also, da kein ästhetischer Anspruch?
Karimi: Nein – nein.
Main: Als wir uns zuletzt getroffen haben, war Ihr Haar recht lang. Vermutlich heute auch. Es ist schwer in den Griff zu kriegen. Jetzt mal eine steile These und damit kommen wir zum eigentlichen Thema. Spiegelt Ihr Äußeres womöglich den Geist des Koran wider - also nicht zu bändigen?
Karimi: Ja. Ich habe darüber zwar nicht selbst nachgedacht. Aber wenn ich darüber reflektiere, würde das auf jeden Fall meine Grundthese unterstreichen, dass Form und Inhalt miteinander zusammenhängen.

Ein Gott jenseits der Beziehungen

Main: Herr Karimi, eigentlich sollte dieses Gespräch schon im Frühjahr stattfinden und Pfingsten gesendet werden. Dann wäre ich auch nach Münster gekommen. Dann kam uns die Corona-Pandemie dazwischen. Ich stelle dennoch meine Pfingstfrage. Ein Fest, das den Heiligen Geist feiert - für Sie ein schwieriger Gedanke? Da Muslime ja nun mal stark hervorheben, dass Gott einer sei. Schmerzt Sie der christliche Gedanke an einen dreieinigen Gott?
Karimi: Nein, eigentlich nicht, sondern vielmehr zeigt mir das, dass Glaube unterschiedlich sein kann, dass auch Gott in seiner Einheit und Einfachheit, die mir im Islam begegnet, auch selbst im Islam nicht verfügbar ist. Und warum soll ich den Anspruch erheben, dass meine Vorstellung von Gott über alle anderen Vorstellungen sich erheben darf? Insofern sehe ich die christliche Glaubenstradition, die eben nicht meine ist, die mir immer ein Stück weit fremd bleibt, dennoch mit Respekt und mit einer gewissen Wehmut, weil ich weiß, dass ich so nicht glauben kann.
Das Gemälde eines südschwäbischen Meisters um 1480 mit dem sakralen Thema: "Die Ausgießung des Heiligen Geistes". Die Gläubigen werden durch eine Taube mit dem heiligen Geist erfüllt. 
"Ausgießung des Heiligen Geistes" (dpa / Schnoerrer)
Main: Ohne Sie jetzt auf häretisches Glatteis führen zu wollen. Was können Sie der theologischen Konstruktion einer Beziehung in Gott abgewinnen?
Karimi: Eigentlich ziemlich wenig, weil mir der Gedanke von einer Beziehung, jeder Beziehung zu einem überschrittenen, transzendenten, absoluten Gott völlig fremd ist. Also, Redeweisen, Modelle, die ich in meiner eigenen bescheidenen Raumzeit, Ideen habe - diese auf Gott zu überführen und vom Leben Gottes zu sprechen, von Beziehung in Gott, Dreieiner-Gott, der in sich differenziert ist, all das scheint mir doch eine Modellvorstellung zu sein.

"Spiritualität ist ein Leben im und aus dem Geist"

Main: Gehen wir vom Heiligen Geist – ich gebe es zu, es ist eine etwas plumpe Überleitung – zum Spirit, zur Spiritualität. Die ist Ihnen definitiv wichtig in Ihren Büchern, in Ihrem Werk. Wie definieren Sie Spiritualität, diesen schillernden Begriff?
Karimi: Spiritualität ist ein Leben im Geist und aus dem Geist heraus. Insofern ist Ihre Überleitung eigentlich sehr, sehr wichtig, vom Heiligen Geist zur Spiritualität überzugehen. Im islamischen Kontext eben, der mein Kontext ist, würde ich sagen, dass der Geist aus dem und in dem ich mein Leben entwerfen will, eben etwas ist, das eine innere Haltung zu meinem Leben auch stiftet und nicht einfach … wir können ja sagen, wir können einfach leben. Also, darauf los leben, wie wir auch darauf los lieben können, darauf los arbeiten können, studieren können. Oder wir können auch eine innere Haltung zu unserem Studium, zu unserem Leben, zu unserem Frühstück, zu unserer Liebe entwickeln.
100. Geburtstag von Paul Celan - Der Dichter und der ferne Gott
"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", schrieb der Dichter Paul Celan. Die Schoah prägt Celans Nachdenken über Gott. Er lästert ihn und sucht den "fernen Gott".
Diese innere Haltung ist, wenn Sie so wollen, ein Ich in meinem Ich, eine Art Beobachterinstanz, die einfach mein Leben begleitet. Und dass ich immer wieder Perspektivwechsel auch übernehmen kann, um einmal zu tun, was ich tue, und einmal mich bei diesem Tun zu beobachten.

"Uns fehlt der Abstand zu uns selbst"

Main: Um auch einen in gewisser Weise Abstand zu sich selbst zu bekommen? Verstehe ich Sie da richtig?
Karimi: Ja, genau. Abstand zu uns selbst. Das ist das, was uns am meisten eigentlich fehlt. Wir sind durch den Alltag, durch den Stress, durch die Anforderungen, Herausforderungen so sehr verstrickt in Beziehungen, vielleicht auch in komplexen, schmerzhaften Verknüpfungen, dass wir die Distanz zu uns selbst und zu der Sache in gewisser Weise manchmal verlieren.
Es ist wichtig, immer wieder sich dabei zu beobachten, auch eine korrektive Instanz in seinem eigenen Leben zu sein, auch zu schauen, ob das, was wir tun, auch so in Ordnung ist.

"Die Bejahung der Vielfalt des Lebens"

Main: Was unterscheidet Spiritualität in Ihrem Sinne von einem weltabgewandten Hokuspokus oder einem Rückzug in Innerlichkeit? Wo verläuft da für Sie die Grenze?
Karimi: Die Grenze verläuft eigentlich da, wo wir … für mich ist ein Kriterium die Bejahung des Lebens, die Bejahung der Vielfalt des Lebens, das Vergnügen, dass wir unser Leben auch leben und genießen dürfen, dass Leben lebenswert ist, dass alles, was in dieser Welt ist, nicht einfach ist, damit es vergeht, sondern es ist in dieser Welt, weil es auch wert ist, dass es da ist.
Insofern ist eine Spiritualität, die das Leben nicht bejaht, nicht für das Leben da ist, nicht die Begegnung mit dem anderen sucht, nicht die Gesellschaft mitgestaltet, eine verlorene Energie.
Main: Wo verläuft umgekehrt die Grenze, dass Religionsgemeinschaften in die Gefahr geraten, ihrer Spiritualität verlustig zu gehen?
Karimi: Indem sie sich eigentlich in Ritualitäten verlieren. Indem sie nur in einer starren, konservativen – im wörtlichen Sinne – in einer festhaltenden Idee und Geste ihre Religion, ihren Glauben vollziehen und nicht mehr darin Geist erkennen.
Wenn ich als Muslim zum Beispiel fünfmal am Tag das rituelle Gebet verrichte, dann kann ich das als eine Pflicht auf mich nehmen und sagen, ich habe das Gebet zu verrichten.
Oder ich gebe mir die Mühe, dass ich eine Haltung zu meinem Gebet entwickele, dass ich jedes Mal, wenn ich das rituelle Gebet verrichte, auch darin Sinn erkenne und mich sozusagen erfreue, das Gebet verrichten zu dürfen.
Main: Aber gerade in unseren verwirrenden Zeiten sind ja Rituale extrem hilfreich. Nicht zuletzt Anselm Grün, jener Ordensmann, mit dem Sie zusammen auch ein Buch geschrieben haben, empfiehlt uns gerade jetzt in dieser Krisenzeit, auf Rituale zurückzugreifen. Was haben Sie gegen Rituale?
Karimi: Eigentlich habe ich nichts gegen die Rituale, sondern gegen unreflektierte Ritualität. Das, was Pater Anselm ja betont, ist das, was ich auch sehr für richtig erachte, nämlich Rituale nicht einfach so übernehmen, sondern Rituale auch zu erkennen. Also, Ritualität als ein bindendes Element im Leben einzupflegen, aber eine Ritualität, die nicht vom Leben entfernt, sondern gerade das Leben für mich intensiviert.
Benediktinermönch Anselm Grün - "Wir brauchen wieder Wurzeln"
In der Coronakrise seien die Kirchen nicht kreativ genug gewesen, sagte der Benediktiner Anselm Grün im Dlf. Die Menschen bräuchten Stabilität und konkrete Weisungen.
Solch eine Form der Ritualität, der rituellen Aneignung der Welt und der Möglichkeit ist etwas ganz Bewusstes, Achtsames, Waches, was uns sozusagen mehr erkennen lässt als ein bewusstloser Durchgang und Vollzug des Lebens.

"Fundamentalismen aller Religionen sind antispiritualistisch"

Main: Welche Strömungen in den Religionsgemeinschaften haben etwas dagegen, dass Spiritualität stärker wird?
Karimi: Das sind eigentlich in allen Religionsgemeinschaften gerade die Extremistischen, die Literalistischen, die, die sich an Buchstaben hängen, die immer wissen, was richtig und was wahr ist, die keine Alternativen neben ihren eigenen Vorstellungen kennen, dulden und akzeptieren. Das sind die Fundamentalismen, würde ich sagen, aller Religionen, die sich darin vereinigen, antispiritualistisch, Anti-Geist zu sein, eben lebensfeindlich und pluralitätsfeindlich zu sein.
Mouhanad Khorchide - "Mohammed würde den Islam nicht wiedererkennen"
Im Buch "Gottes falsche Anwälte" kritisiert Mouhanad Khorchide das Islamverständnis vieler Muslime. Der Prophet Mohammed habe die Freiheit des Menschen gewollt, sagte Khorchide im Dlf.
Main: Und wo sehen Sie eher die Offenheit für Spirituelles? Nun, das ergibt sich letzten Endes aus Ihrer Antwort.
Karimi: Ja, im Grunde genommen dort, wo Religion sich nicht als ein Überheben über andere vollzieht, sondern wo Religion sich als Demut vollzieht.

"Dann kam Corona und die Flüchtlinge waren vergessen"

Main: Herr Karimi, lassen Sie uns doch mal das bisher Gesagte übersetzen in unseren konkreten Alltag. Der ist zurzeit immer noch und wieder massiv geprägt von einem unsichtbaren Virus. Viele Menschen fühlen sich orientierungslos, ratlos, deprimiert, ängstlich. Hat Ihnen Ihr spiritueller Ansatz geholfen?
Karimi: Ja. Also, ich lebe gerade damit. Das heißt: Was bedeutet Spiritualität? Gerade, wenn wir in einer Krise stecken, in der sozusagen eine totalitäre Virenwelt uns sozusagen zu vereinnahmen versucht, brauchen wir eine spirituelle Haltung der Wachheit, der Achtsamkeit, aber auch der Wahrnehmung dessen, was wesentlich und was wichtig ist.
Die Krise offenbart im Grunde genommen das, was ohnehin schon da ist. Zum Beispiel unsere Verwirrung, in dem, was wesentlich und was nicht wesentlich ist. Hier sind wir auf das Eigentliche zurückgeworfen. Wir können weniger konsumieren. Wir können nicht so sozusagen unser Leben durch Kaufen schöner machen. Wir können nicht einfach ausgehen. Wir können nicht in Restaurants und Cafés sitzen, was eigentlich sozial sehr wichtig und schön ist.
Aber, wenn all das fehlt, wo sind wir dann? Was ist dann überhaupt noch lebenswert? Kann ich mich alleine mit meiner Einsamkeit zufriedengeben? Was ist, wenn wir nur auf unseren engen Familienkreis zurückgeworfen sind? Können wir mit ihnen überhaupt noch lange leben? Kann ich den noch aushalten? Und dann ist auch wichtig zu sehen darin: Warum kann ich das nicht aushalten? Wovor fliehe ich eigentlich? Was ist lebenswert?
Und, wenn Sie einfach über die … gerade über die Corona-Krise wird fast ein Jahr gesprochen. Wenn Sie einfach die eine Stunde davor sich anschauen, womit wir dann beschäftigt waren in Europa: das waren die Flüchtlinge, die wir an den Grenzen von Griechenland und so weiter nicht hineinlassen wollten, weil diese fremden, ungewollten Gäste uns einfach lästig waren.
Dann kam Corona und all das war vergessen. Mir ist natürlich nichts entgangen. Und in der ganzen Zeit dieser Krise bin ich bei den Kindern, die an den Grenzen Europas nach Zukunft und nach Anerkennung, nach Bindung suchen und sehe eigentlich die ganze Pandemie als ein Spiegelbild dieser Kinder, die da stehen, mit denen wir uns eigentlich nicht berühren wollen. Wir wollten eine Grenze zu ihnen. Wir wollten nicht, dass sie hineinkommen, weil wir von ihnen nicht befallen werden wollen, weil es einfach genug ist, die fremdartigen, kriegsgeschädigten, traumatisch gefüllten Menschen hier aufzunehmen.
Und schon sind wir in einer ganz anderen abstrakteren, fast metaphysischen Form einer Welt hineingeworfen worden, in der wir nicht mal die Menschen, die wir gerne haben, die uns nicht fremd sind, berühren dürfen.

"Vor den Viren sind alle Menschen gleich"

Main: Aber als Advocatus diaboli und als Anwalt der Hörerinnen und Hörer halte ich jetzt mal dagegen, dass ein Virus wenig mit einer Flüchtlingssituation zu tun hat, und dass Sie womöglich das Virus jetzt umgekehrt nutzen, um Ihre grundsätzliche Bereitschaft Flüchtlinge aufzunehmen, durchzusetzen.
Karimi: Nein, gar nicht, zumal ich überhaupt nicht in der Lage bin, Flüchtlinge aufzunehmen. Mir geht es nur darum, dass gerade eine Krise uns vergegenwärtigt, in was für einer Welt wir eigentlich leben. Wir leben in einer Welt – und so waren auch die ganzen Diskurse - die so bestimmt war: Wir können nicht jeden aufnehmen. Sie können nicht einfach nach Europa. Sondern wir müssen schauen, wen wir überhaupt aufnehmen, wo wir sie aufnehmen. Sie wurden verprügelt. Sie sind ausgehungert.
Die Lage um das ehemalige Flüchtlingscamp in Bihac in Bosnien ist angespannt
Ob Moria oder Bihac - das Leid der Geflüchteten an Europas Außengrenzen gerate in der Corona-Zeit aus dem Blick, so Karimi. (dpa/picture alliance/AA/Amar Mehic )
Meine Wahrnehmung in so einer Krise entwickelt sich dadurch, dass ich sehe: Vor den Viren sind alle Menschen gleich. Die Viren entscheiden nicht darüber, wer legal und wer illegal ist. Die Viren entscheiden nicht darüber, wer aus Syrien, wer aus Deutschland stammt. Für Viren sind wir alle nur Organismen. Aber unsere Sicht der Welt ist nicht virologisch bestimmt. Für uns gibt es schon Menschen erster Klasse und zweiter Klasse, Menschen, die hineindürfen und nicht hineindürfen. Es gibt Grenzen für uns. Und diese Grenzen sind nicht einfach territoriale Grenzen, sondern Grenzen zwischen Menschen und Menschen.
Ich würde nicht sozusagen meine eigene Ideologie, die ich hoffentlich nicht habe, hier preisgeben, sondern viel mehr dafür plädieren, die Wachheit, die uns auch eine Pandemie schenkt, auch zu nutzen, über all die Probleme noch einmal nachzudenken, die uns ohnehin beschäftigen, wo wir leichtfertiger vielleicht damit umgehen.

"Die Virologie darf nicht unser Leben bestimmen"

Main: Welche Gefahren sehen Sie darüber hinaus, die uns in dieser Pandemie, in der Krise entstehen könnten für diese Gesellschaft? Sehen Sie so etwas heraufziehen wie die Gefahr, dass wir uns irgendwann mit einer Welle von Schuldzuweisungen konfrontiert sehen?
Karimi: Ja, in der Tat. Ich meine, die Einschränkungen, die gerade hier vorgenommen werden, Freiheitsrechte werden eingeschränkt und so weiter, die sind gravierende – gravierende Elemente, wofür wir sonst stehen und womit wir uns auch definieren.
Wir leben gerade in einer Zeit, in der vor allem unsere Wirklichkeit durch die Ideen der Virologen maßgebend bestimmt wird. Und da sehen wir, dass die Virologie nicht aber unser Leben bestimmen darf. Denn die Lösungen, die wir von der Virologie bekommen, sind bloß Angebote, die wir aber moralisch auch bedenken müssen.
Denn es könnte auch eine Lösung sein, alle diejenigen, die corona-krank sind, zu verbrennen. Das kann eine gute Lösung sein, um diese Pandemie loszuwerden. Das ist durchaus eine Lösung, aber moralisch höchst verwerflich. Hier brauchen wir ein eigenes moralisches Überdenken dessen, was hier geschieht.
Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer - "Wir werden zu Diesseitskrüppeln"
Der Soziologe und evangelische Theologe Reimer Gronemeyer kritisiert eine "verbissene Eindimensionalität" in den Naturwissenschaften.
Wir merken, indem ich meinen eigenen Willen zurücknehme vor dem Willen der anderen, indem ich mich freiwillig einkerkere, indem ich mit Fieber nicht aus dem Haus gehe - das ist etwas, was zwar mir wehtun kann, aber zugleich sehe ich darin und entwerfe dort eine moralische Ordnung in dieser Gesellschaft.
Insofern können Schuldzuweisungen, Bewegungen wie "Querdenken" und AfD und Rechtspopulisten, die gegen all das sind und alles leugnen, gerade sich stark machen. Aber letztlich ist es wichtig, die ruhige Hand zu bewahren und diese wirklich diskursive Moralität auch wachzuhalten, nicht einfach die Werte, wofür wir stehen, wofür wir kämpfen, aus den Händen zu geben. Gerade in der Krise, in den Ausnahmestrukturen zeigt sich auch die Größe und Reife einer moralischen Ordnung.
Main: Aber haben Sie denn den Eindruck, dass wir hier in Deutschland den Virologen das Feld überlassen, dass Philosophen, dass Theologen, dass Soziologen, Psychologen und andere nicht gehört werden?
Karimi: Sie werden durchaus gehört, aber nicht in dem Maße, in dem sie gehört werden müssten meines Erachtens. Also, wenn Sie auch die Spitzenvirologen sich anschauen, wonach sie gefragt werden, dass sie wirklich Vorschläge haben, wie ich zu leben habe, das ist natürlich schwer nachvollziehbar. Denn die haben einfach das Studium nicht dafür.
Sie können mir nur sagen, was zu tun ist und wie man die Pandemie bekämpfen kann. Aber der Entwurf des Lebens, die Ordnung einer Gesellschaft muss gerade basierend auf wissenschaftlichen Daten, sehr wohl, aber dennoch bedacht werden. Und das ist das, was man von Politikern und Politikerinnen erwarten darf, dass sie ihre Entscheidungen nicht bloß auf den Daten basierend auch vollziehen, sondern auf Daten basierend im Dialog mit den Philosophen, Ethikern, Theologen und so weiter.
Main: Was würden Sie sich denn da wünschen, was sich an Corona-Maßnahmen ändern sollte aus einer islamischen Perspektive im Jahr 2021, das gerade begonnen hat?
Karimi: Im Grunde genommen kaum etwas. Eine islamische Perspektive ist - gerade religiös gesehen, dass ich mich zurücknehmen soll. Also, es soll nicht so sein, dass muslimische Religionsgemeinschaften das Recht fordern, sagen wir, ihr Freitagsgebet verrichten zu dürfen, so wie sie es immer getan haben.
Gerade, indem ich mich als eine religiöse Gemeinschaft für die Gestaltung einer offenen Gesellschaft auch starkmache, muss ich mich auch in Verzicht üben dürfen und können. Insofern können Religionsgemeinschaften, ob es Muslime sind oder Christen oder Juden, gerade in dieser Zeit auch zeigen, dass ihr Glaube stärker ist als die rituellen Vorschriften, die im Normalfall gelten.

"Mit Krisen leben"

Main: Was wäre denn eine hilfreiche islamische Botschaft für mich persönlich in diesen Zeiten, egal, ob ich nun Muslim, Jude oder Christ oder konfessionsfrei bin?
Karimi: Die muslimische Botschaft wäre eine Arbeit an Ihrer Haltung, an Ihrer inneren Einstellung zu dem, was mit uns geschieht. Das ist das, was ich aus meiner koranischen Lektüre entnehme, dass es nicht darum geht, sein Leben zu vollziehen, die Krise zu bekämpfen, sondern lernen, mit der Krise zu leben.
Die spirituelle Krise zum Beispiel ist etwas, was gläubige Menschen Zeit ihres Lebens begleitet. Ich bin nie fertig mit meinem Glauben. Ich bin nie zufrieden mit meinem Glauben. Jede Nacht, bevor ich meine Augen schließe, ist meine Unzufriedenheit mit mir viel stärker als meine Zufriedenheit. Und genau in dieser sozusagen nie endenden Krise zu leben, ist aber auch ein Spiegelbild dessen, was wir hier erkennen.
Arbeiter in Schutzanzügen vergraben einfache Holzsärge in einem Graben auf Hart Island in der New Yorker Bronx. Der Landstreifen auf der kleinen Insel soll als Lösung für vorübergehende Begräbnisse für Corona-Tote dienen.
Weltweit hat die Corona-Pandemie Millionen Opfer gefordert (dpa / AP / John Minchillo )
Impfstoffe können eine Lösung sein, aber sie sind sicherlich keine Erlösung für unsere Gesellschaft. Wenn wir meinen, genau so zu leben wie vor der Krise, dass nichts sich ändert, dann haben wir nichts gelernt.
Main: Was sollen wir lernen?
Karimi: Wir sollen lernen, unser Leben anders zu verwerten. Diese neoliberale, auf Konsum orientierte, umweltverschmutzende Weise zu leben und weiterzuleben, darf nicht so weitergehen.
Eine Pandemie betrifft uns alle. Und wir wissen, dass, wenn wir nicht darauf achtgeben oder auch wenn wir darauf achtgeben: Täglich sterben Menschen.
Aber wir sind, wenn wir nicht darauf achten, Mörder dieser Menschen. Wir sind auch Mörder der nächsten Generationen, wenn wir die Zeichen der Zerstörung unserer Umwelt nicht wahrnehmen. Was tun wir denn mit welchen Maßnahmen, damit alles nicht so weitergeht?

"Die Pandemie ist ein Zeichen Gottes - auf jeden Fall"

Main: Wäre dann sozusagen die Pandemie zwar nicht Strafe Gottes, aber Zeichen Gottes?
Karimi: Ein Zeichen Gottes auf jeden Fall. Ich bin weit davon entfernt, das sozusagen als Strafe oder Segen zu sehen, sondern vielmehr weiterhin als eine Möglichkeit der Belehrung, als eine Möglichkeit der Wachsamkeit, des Erkennens.
Da sehe ich an jedem Punkt und in der Krise auch die Möglichkeit und die Chance – und daher kommt auch das Wort –, dass ich merke, hier kann ich etwas lernen, hier wird mir etwas klar, hier sehe ich etwas Wesentliches. Im Grunde genommen ist eine Pandemie, eine Krise zugleich auch ein Spiegelbild für meine Wahrnehmung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.