Archiv

Militärdiktatur in Argentinien
Über das Verbrechen der Väter sprechen

Ihr Väter waren während des Militärregimes von 1976 bis 1983 mitverantwortlich für Folter, Mord, Verschleppung und Baby-Raub. Die Söhne und Töchter der Täter wollen nicht länger über die Verbrechen der Väter schweigen und fordern eine Gesetzesänderung.

Von Anne Herrberg |
    'Kinder von Völkermördern für Erinnern, Wahrheit und Gerechtigkeit' - Mitglieder des Kollektivs auf einer Demonstration.
    Mitglieder des Kollektivs "Kinder von Völkermördern für Erinnern, Wahrheit und Gerechtigkeit'" während einer Demonstration (Deutschlandradio / Anne Herrberg)
    Ein kühler Nachmittag Anfang Mai in Buenos Aires. Immer mehr Menschen strömen auf die Plaza de Mayo im Zentrum der argentinischen Hauptstadt. Tausende, Zehntausende, es werden eine halbe Million.
    Sie protestieren gegen das "2x1", ein Gesetzesvorhaben, das bereits verurteilten Diktaturverbrechen Strafnachlass ermöglicht hätte. Auch Liliana Furió ist dabei. Ihr Vater war während des Militärregimes von 1976 bis 1983 mitverantwortlich für Folter, Mord und das Verschwindenlassen von Menschen. Er wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt.
    "Es ist ein Schmerz, den du mit dir herumträgst: das Kind eines Völkermörders zu sein. Damit waren wir über Jahre allein. Mit der Demonstration gegen das '2x1'-Gesetz erschienen erstmals Artikel und Posts auf Facebook von Anderen, die sich offen dagegen aussprachen – denn es war ein Wendepunkt, erstmals seit Jahren gab es in Argentinien wieder Rückschritte in der Menschenrechtspolitik. Das war der Grund für viele, zu sagen: Wir tragen auch Verantwortung, wir müssen etwas tun. Wir begannen, Kontakt aufzunehmen, zuerst waren wir drei, dann sechs, dann 30."
    Und jeden Monat werden es mehr. Kinder von Militärs, Polizisten, Geheimdienstlern, die während der Diktatur Menschenrechts-Verbrechen begangen haben. "Historias Desobedientes" heißt ihr Kollektiv – "Geschichten des Ungehorsams".
    Porträt Liliana Furió, der Mitbegründerin des Kollektivs "Geschichten des Ungehorsams"
    Liliana Furió, Mitbegründerin des Kollektivs "Geschichten des Ungehorsams" (Deutschlandradio / Anne Herrberg)
    Erika Lederer sitzt in ihrem mit Bücherwänden zugestellten Wohnzimmer, zeigt Fotos aus ihrer Kindheit. Ihr Vater Ricardo Nicolas Lederer, Leutnant deutscher Abstammung, war Geburtshelfer in der Militärbasis Campo de Mayo, einem von Dutzend geheimen Folterlagern. Weiblichen Gefangenen, die frisch entbunden haben, wurden dort die Neugeborenen weggenommen, bevor sie selbst ermordet wurden. Erikas Vater war mitverantwortlich für den systematischen Baby-Raub während der Diktatur.
    "Ich erinnere mich an die Babystation im Campo de Mayo, an die schwarzen Stiefel der Militäraufmärsche, die Nachmittage im Klub. In dieser Welt der Militärs bin ich aufgewachsen. Eine Welt voller Autorität, Gehorsam, Machismo. Dort feierten sie sich als Helden, als mutige Soldaten, die einen Krieg gegen die sogenannte linke Subversion und zur Rettung des Vaterlands geführt hatten."
    Mit neun Jahren, 1985, fing sie an, die Dinge infrage zu stellen, der Name des Vaters taucht in Zeitungsartikeln über Diktaturverbrechen auf – später stoppen Amnestiegesetze die Aufarbeitung. Doch Erika lässt nicht locker, ihre kritischen Nachfragen führen zu Prügel, Streitereien, Bestrafungen, es gibt niemand, mit dem sie reden kann, in der Schule wird sie als Autistin abgestempelt. Erika stürzt sich in den Sport, deutschsprachige Philosophen wie Heidegger und Wittgenstein für sich, studiert Jura, sucht nach Antworten.
    "Es ist wie eine innere, schizophrene Spaltung, in der du lebst. Derjenige, der brutale Verbrechen begangen hat, ist dein Vater, du kannst ihn nicht einfach löschen oder ignorieren. Ich war zwischen Selbstvorwürfen und Wut, hatte jahrelang eine schwere Bulimie, ich habe ausgekotzt, was ich nicht sagen konnte. Das will ich nie wieder, es ist wichtig, das Schweigen zu durchbrechen."
    2005 werden Amnestiegesetze aufgehoben
    2005 werden die Amnestiegesetze aufgehoben, die Diktaturprozesse beginnen. 2012 wird Erikas Vater vor Gericht berufen – einen Tag später erschießt er sich. Seine Kameraden feiern ihn dafür. Erika dagegen gilt in ihrer Familie als Verräterin.
    7. November. Liliana Furió und andere Mitglieder des Kollektivs warten mit einem großen Banner vor dem steinernen Kongressgebäude.
    "Wir sind hier, um ein Gesetzesprojekt einzureichen, dass es uns Angehörigen ermöglicht, vor Gericht gegen unsere Väter aussagen zu können – bisher ist das in Argentinien nicht möglich, dabei haben einige Daten beizutragen."
    Der Autor des Projektes, Anwalt Pablo Verna zum Beispiel: Sein Vater bestätigte ihm, Gefangenen Narkosemittel gespritzt zu haben, bevor sie in so genannten Todesflügen über dem Meer abgeworfen wurden, bisher ist er nicht verurteilt.
    "Ich stand lange vor einem extremen Loyalitätskonflikt. Heute kann ich sagen, ich möchte gegen meinen Vater aussagen, weil ich loyal zu mir selbst und den Werten bin, an die ich glaube. Die Wahrheit kann man nicht unter den Teppich kehren, sie holt dich immer ein, wenn nicht mich, dann meine Kinder. Mit meinem Vater habe ich seitdem nie wieder gesprochen."
    Für den Vater wird der Sohn zum Feind
    Vor zwei Wochen allerdings bekam er eine Drohung – per WhatsApp. Du bist mein Feind, schrieb der Vater. Im Kollektiv und im Austausch mit den Anderen hat Pablo Halt gefunden. Es gibt viel Zuspruch, auch von Menschenrechtsgruppen – trotzdem ist Liliana Furió das aktuelle Medieninteresse auch suspekt.
    "Wir sind in den Medien, weil wir Kinder von Völkermördern sind. Deswegen glaube ich, ist es wichtig, Klartext zu sprechen. Wir sind keine Opfer, wir fordern keine Versöhnung, wie manche Medien behaupteten, sondern Wahrheit. Dafür tragen auch wir Verantwortung. Es gibt immer noch Familien, die nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist, immer noch Großmütter, die ihre Enkel suchen. Die Diktaturverbrechen prägen nach wie vor unsere Gegenwart. Ich möchte nicht Teil dieses Schweigepaktes sein, den sich unsere Väter aufgelegt haben. Denn die reden nicht - bis heute. Ich kann nicht verstehen, wie man solche Grausamkeiten mit ins Grab nehmen kann."