Christoph Heinemann: "Tragödie vor Damaskus" titelt die Süddeutsche Zeitung heute. Die "Bild"-Zeitung nennt es "Putins nächstes Kriegsverbrechen". Mindestens 350 Tote seit Wochenbeginn, die syrische Armee bombardiert einen Vorort von Damaskus, Waffenstillstandsverhandlungen seien gescheitert, heißt es, die Menschen sind von jedweder Hilfe abgeschnitten. Schweden und Kuwait haben zu einer Abstimmung über eine Resolution der Vereinten Nationen aufgerufen.
In Idlib und Ost-Ghuta wird weiter gekämpft, ebenso im Nordwesten Syriens. Dort führt der türkische Präsident Krieg. Viel Feind, viel Ehr – diesen Grundsatz hat Erdogan offenbar verinnerlicht. In kurzen Abständen stößt der Mann Verbündete vor den Kopf: Bruch mit der Gülen-Bewegung, mit der er einst verbündet war, Ende des Versöhnungskurses mit den Kurden, Kampf gegen das Regime in Damaskus, Eiszeit in den Beziehungen zur USA, Russland blickt irritiert auf den Krieg gegen die Truppen der YPG, die doch den gemeinsamen Feind IS bekämpft haben. Und dass die Freilassung des Journalisten Deniz Yücel das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara nachhaltig verbessert hätte, wird kaum jemand behaupten.
Eine ausgestreckte Hand ist in der türkischen Außenpolitik nicht erkennbar, sieht man ab von dem nationalistischen sogenannten Wolfsgruß, den Außenminister Cavusoglu gelegentlich zeigt. Der Krieg, den sich die türkische Armee im Nordwesten Syriens mit der YPG liefert, verstärkt das große Rätselraten über Erdogans Kurs, und wir versprechen uns jetzt Hilfe von Professor Hüseyin Bagci. Er lehrt Politikwissenschaft in Ankara und mit ihm sind wir am Telefon verbunden. Guten Morgen!
Hüseyin Bagci: Guten Morgen!
Heinemann: Professor Bagci, bedroht die YPG die Türkei?
Bagci: Eigentlich nicht. Aber die Türkei hat die Position, dass ihre Grenzen von einer Gruppe kontrolliert werden, die nicht vom Regime Assad kontrolliert wird. Deswegen betrachtet die Türkei die Kurden im Norden von Syrien als eine Gefahr für ihre eigene Sicherheit. Aber wir wissen, dass es militärisch gesehen nicht eine direkte Gefahr für die Türkei ist.
"Es kommt ja nicht nur auf die Türkei an, sondern auf Russland"
Heinemann: Ist die YPG der syrische Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, so wie die Regierung das behauptet?
Bagci: Ja, das stimmt. Die haben organische Verbindungen. Darüber habe ich auch Forschungen gemacht und geschrieben. Und die lehnen das auch nicht ab, weil diese Ablegung von der PKK als YPG in Syrien hat ja eine Geschichte, die bis zu 30 Jahre zurückgeht, und Abdullah Öcalan war ja in Syrien, bevor er ins Gefängnis kam. Das ist überhaupt keine Diskussion, dass die Verbindung besteht, und die Türkei erklärt, dass der Kampf gegen den Terrorismus in dem Sinne gegen PKK und YPG zusammenliegt.
Deswegen die Frage ist hier, wer wen bedroht. Aber hier unterstützen die Amerikaner vor allem die Kurden, die gegen Daesh den Amerikanern viel geholfen hatten und weiterhin als lokale Kräfte dabei sind, und die Amerikaner scheinen die Protektion von Kurden übernommen zu haben und das führt natürlich zur türkisch-amerikanischen Krise, wie wir vorige Woche auch gesehen haben. Der Besuch des amerikanischen Außenministers war nicht einfach. Es waren dreieinhalb Stunden Diskussion mit Präsident Erdogan und mit der Regierung. Die Türkei macht weiter die Operation in Afrin. Es ist mehr als ein Monat und das ist natürlich eine Sorge, wie lange die Türkei überhaupt da bleiben wird.
Heinemann: Kann man den Konflikt in Afrin militärisch lösen?
Bagci: Zumindest wird es so gedacht, dass es gelöst wird. Aber es kommt ja nicht nur auf die Türkei an, sondern auf Russland, auf Iran und auf die Kräfte von Baschar al-Assad. Die Türkei ist ein Teil des Astana-Abkommens. Das heißt, die Türkei, zusammen mit Russland und Iran, garantiert die territoriale und ethnische Integrität Syriens. Deswegen ist die Präsenz der Türkei in Syrien mit Erlaubnis der Regierung von Syrien und mit der Erlaubnis natürlich von Russland. Sonst könnte die Türkei diese Operation sehr schwer unternehmen.
Ohne dass die Russen erlauben, dass die türkischen Jet-Fighter einfach hingehen und bombardieren, wäre es nicht möglich. Die Türkei ist nicht eingeladen, die Russen sind eingeladen, und das ist ein Problem.
"Getötete türkische Soldaten werden als Märtyrer gesehen"
Heinemann: Türkische Soldaten sterben in diesem Krieg. Wird darüber in der Türkei in den Medien berichtet und auf den Straßen gesprochen?
Bagci: Aber natürlich! Jeden Tag werden die Soldaten, die da ihr Leben verlieren, mit großen, wenn Sie wollen, Demonstrationen zur Erde gebracht und tausende von Menschen gehen auf die Straßen. Und das Problem ist natürlich hier, dass diese Leute als Märtyrer gesehen werden, dass sie für die Sache des Landes, für die Sache der Türkei kämpfen. Deswegen macht natürlich auch die Regierung, also Präsident Erdogan davon Gebrauch, dass er in der Türkei so eine Atmosphäre entstehen lässt, dass die Türkei auf jeden Fall da sein sollte, weil von Syrien aus für die Türkei eine große Gefahr besteht, und die Türkei soll diese Gefahr eliminieren.
Die einzige, würde ich sagen, Idee ist nach der Regierung, diese Grenzen von den Terroristen, wie die Regierung das sagt, einfach zu säubern, und deswegen ist die Türkei mit aller Kraft, mit allen Waffen, Tankflugzeugen und auch Jet-Fightern und Soldaten dort. Da haben Sie recht, es wird viel diskutiert.
Heinemann: Herr Bagci, verfügt die türkische Regierung überhaupt noch über Freunde und Verbündete?
Bagci: Das ist eine sehr komplizierte Sache, wie Sie auch in Ihrem Bericht gesagt haben. Jeder hat Interessen, Amerikaner, Russen, Syrer, Iraner, Türken, und es kommt immer darauf an, welche Interessen mit wessen Interessen zusammenkommen. Deswegen sehen wir hier die türkisch-russische Zusammenarbeit mehr als die türkisch-amerikanische, da zwei NATO-Verbündete doch unterschiedliche Interpretationen haben, was die Kurden angeht, und die Russen, würde ich sagen, eigentlich der Gewinner des Tages zurzeit sind, und die Türkei versucht natürlich, mit Russland zusammen zu agieren.
Wie in Idlib wird jetzt auch in Afrin die Türkei höchst wahrscheinlich militärisch weiter vordringen. Nur die Frage ist natürlich, wenn man in die Stadt geht, nach Afrin oder in ähnliche Städte, dann wird es eine andere Dimension sein. Dann wird die Türkei natürlich große Reaktionen bekommen. Da denkt man auch daran, wie man das verhindern kann. Aber die Frage ist hier, werden die Kurden überhaupt gegenüber der Türkei eine Offensive irgendwie machen, und ich sage nein, das wird nicht der Fall sein.
Heinemann: Professor Hüseyin Bagci, Politikwissenschaftler an der Universität Ankara. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Bagci: Danke! Auf Wiederhören.
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