Thielko Grieß: Vor 70 Jahren kapitulierte das, was von der 6. Armee der Deutschen Wehrmacht übrig geblieben war, der Angriffskrieg NS-Deutschlands gegen die Sowjetunion fand einen wichtigen Wendepunkt in Stalingrad. Der Roten Armee war es gelungen, diese 6. Armee einzukesseln, den Nachschub abzuschneiden und sie damit Zug um Zug aufzureiben. Daran ist heute erinnert worden in Wolgograd, so heißt die Stadt an der Wolga seit einigen Jahrzehnten, und sie hat sich heute wieder umbenannt, nur heute, zum 2. Februar, heißt sie wieder Stalingrad.
Stalingrad ist ein feststehender Begriff, auch in der kollektiven Erinnerung hier in Deutschland, und das wollen wir jetzt noch ein wenig vertiefen aus deutscher Perspektive. Darüber habe ich kurz vor der Sendung mit Wolfram Wette gesprochen, Militärhistoriker und Autor eines Buches zum sogenannten Mythos Stalingrad. Guten Tag, Herr Wette!
Wolfram Wette: Guten Tag!
Grieß: Wie konnte so ein schauriges Schlachten noch in der Kriegszeit und erst recht in der Nachkriegszeit zum Mythos werden?
Wette: Die Sache selbst, die sich im Winter 1942, 1943 an der fernen Wolga abgespielt hatte, war so schlimm, dass die nationalsozialistische Regierung und ihre Propagandaleute sich nicht getraut haben, die Wahrheit zu sagen. Sie mussten sich etwas ausdenken, um das Massensterben von mehreren Hunderttausend Soldaten irgendwie verständlich zu machen, und dazu wurde der Weg gewählt, einen regelrechten Mythos in die Welt zu setzen. Unter anderem wurde auf das Nibelungenlied zurückgegriffen, es wurde auf die Schlacht an den Thermopylen in Griechenland zurückgegriffen, und man hat gesagt, die deutschen Soldaten seien dort gestorben, damit Deutschland lebe. Also, es ist ein heroischer Mythos gebastelt worden, der davon abgelenkt hat, dass die Soldaten dort an Kälte und Hunger massenhaft krepiert sind. Und diese ...
Grieß: Und dieser Mythos, der hatte auch in der Nachkriegszeit, der hat dort weiter fortgelebt. Wem hat das politisch genützt?
Wette: Der Mythos hat fortgelebt zum Beispiel in den Stalingradverbänden, die es sowohl in Deutschland als auch in Österreich gegeben hat. Die wenigen überlebenden Soldaten hatten wohl den Drang, dieser Schlacht von Stalingrad, die ja nach allen heutigen Maßstäben vollständig sinnlos ist, dem doch noch etwas Sinnvolles abzugewinnen. Und dann haben sie natürlich gerne auf diesen Mythos zurückgegriffen, dass sie etwas Heroisch-Großes gemacht hätten, damit Deutschland leben könnte. In Wirklichkeit war das eine reine propagandistische Konstruktion.
Grieß: Hat diese Konstruktion auch in der frühen DDR eine Rolle gespielt, in der staatlich gelenkten Erinnerungspolitik in der DDR?
Wette: Es ist interessant zu sehen, dass die Erinnerung an Stalingrad in der DDR ganz andere Wege eingeschlagen hat. Man hat gar nicht so sehr an die Schlacht selbst erinnert, hat gar nicht so sehr geschildert. Das war ja die erste deutsche Armee, die besiegt worden ist von der Roten Armee. Das war sicher ein wichtiger Punkt, aber eigentlich hat man eingesetzt in der Kriegsgefangenschaft. Es waren ja ungefähr 90.000 deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft gegangen, darunter auch viele Offiziere und alle Generäle, bis auf einen, der sich in Stalingrad hatte erschießen lassen, und in der Kriegsgefangenschaft hat sich allmählich ein widerständiges Potenzial herausgebildet, das heißt, eine ganze Reihe von Offizieren haben innerlich mit Hitler gebrochen und haben sich auszudenken versucht, wie ein Deutschland ohne Hitler aussehen könnte. Diese Menschen haben sich zusammengeschlossen im Nationalkomitee Freies Deutschland und im Bund deutscher Offiziere.
Und in der DDR ist man nun den Weg gegangen, diese zum Widerständigen hin gewandelten Wehrmachtoffiziere sozusagen als den ideellen Nukleus der DDR anzusehen, praktisch in den Köpfen dieser Männer sei die Idee eines neuen Deutschland, eines antifaschistischen Deutschland entstanden.
Grieß: Diese Instrumentalisierung, die Sie schildern von beiden Seiten, jenseits und diesseits der geteilten deutschen Grenze, ist das heute zum Ende gekommen, ist diese Instrumentalisierung verblasst?
Wette: Also, nicht verblasst ist, worüber wir noch nicht gesprochen haben, die sowjetische Sicht der Dinge. Denn die ist ja noch mal ganz anders. Die sowjetische Sicht war und ist die, dass die Rote Armee einen großen Sieg über eine ganze deutsche Armee errungen hat, dass die Menschen von Stalingrad ihre Heimatstadt und ihr Vaterland im Großen Vaterländischen Krieg verteidigt haben. Das war die russische Propaganda damals und das ist sie im Grunde bis zum heutigen Tage geblieben. Und die hat ja ihren wahren Kern darin, dass tatsächlich die Deutschen ja die Angreifer waren und die Russen waren die Verteidiger ihrer Heimaterde. Und daher heißt das Denkmal in Wolgograd ja auch Mutter Heimat.
Grieß: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie die Chancen als eher klein einschätzen, dass sich die Erinnerung zum Beispiel der in Russland der Erinnerung in Deutschland annähert?
Wette: Doch, ich sehe da durchaus, ich sehe durchaus einen gemeinsamen Trend. Ungefähr seit Mitte der 90er-Jahre bemühen sich die russischen Kollegen und eine ganze Reihe deutscher Kollegen, sich nicht mehr mit den Generalstabsspielchen herumzuplagen, sondern das Schicksal des einfachen Mannes diesseits und jenseits der Frontlinie zu betrachten. Also, die Feldpostbriefe von Rotarmisten zu studieren und die Feldpostbriefe deutscher Soldaten zu studieren, um kennenzulernen, was in den Köpfen und in den Gefühlen dieser Menschen vorgegangen ist. Also sozusagen Stalingrad von unten betrachtet. Das ist ein neuer Trend in beiden Ländern, und der hält bis zum heutigen Tage an. Man muss ja auch wissen, allein in den letzten 20 Jahren sind noch einmal 170 Bücher über diese Schlacht von Stalingrad entstanden, es bleibt also ein großes Faszinosum des Zweiten Weltkrieges.
Grieß: Wolfram Wette, Militärhistoriker, früher am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg. Wir haben gesprochen über das Erinnern an Stalingrad, Herr Wette, vielen Dank für Ihre Zeit heute!
Wette: Ja, bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stalingrad ist ein feststehender Begriff, auch in der kollektiven Erinnerung hier in Deutschland, und das wollen wir jetzt noch ein wenig vertiefen aus deutscher Perspektive. Darüber habe ich kurz vor der Sendung mit Wolfram Wette gesprochen, Militärhistoriker und Autor eines Buches zum sogenannten Mythos Stalingrad. Guten Tag, Herr Wette!
Wolfram Wette: Guten Tag!
Grieß: Wie konnte so ein schauriges Schlachten noch in der Kriegszeit und erst recht in der Nachkriegszeit zum Mythos werden?
Wette: Die Sache selbst, die sich im Winter 1942, 1943 an der fernen Wolga abgespielt hatte, war so schlimm, dass die nationalsozialistische Regierung und ihre Propagandaleute sich nicht getraut haben, die Wahrheit zu sagen. Sie mussten sich etwas ausdenken, um das Massensterben von mehreren Hunderttausend Soldaten irgendwie verständlich zu machen, und dazu wurde der Weg gewählt, einen regelrechten Mythos in die Welt zu setzen. Unter anderem wurde auf das Nibelungenlied zurückgegriffen, es wurde auf die Schlacht an den Thermopylen in Griechenland zurückgegriffen, und man hat gesagt, die deutschen Soldaten seien dort gestorben, damit Deutschland lebe. Also, es ist ein heroischer Mythos gebastelt worden, der davon abgelenkt hat, dass die Soldaten dort an Kälte und Hunger massenhaft krepiert sind. Und diese ...
Grieß: Und dieser Mythos, der hatte auch in der Nachkriegszeit, der hat dort weiter fortgelebt. Wem hat das politisch genützt?
Wette: Der Mythos hat fortgelebt zum Beispiel in den Stalingradverbänden, die es sowohl in Deutschland als auch in Österreich gegeben hat. Die wenigen überlebenden Soldaten hatten wohl den Drang, dieser Schlacht von Stalingrad, die ja nach allen heutigen Maßstäben vollständig sinnlos ist, dem doch noch etwas Sinnvolles abzugewinnen. Und dann haben sie natürlich gerne auf diesen Mythos zurückgegriffen, dass sie etwas Heroisch-Großes gemacht hätten, damit Deutschland leben könnte. In Wirklichkeit war das eine reine propagandistische Konstruktion.
Grieß: Hat diese Konstruktion auch in der frühen DDR eine Rolle gespielt, in der staatlich gelenkten Erinnerungspolitik in der DDR?
Wette: Es ist interessant zu sehen, dass die Erinnerung an Stalingrad in der DDR ganz andere Wege eingeschlagen hat. Man hat gar nicht so sehr an die Schlacht selbst erinnert, hat gar nicht so sehr geschildert. Das war ja die erste deutsche Armee, die besiegt worden ist von der Roten Armee. Das war sicher ein wichtiger Punkt, aber eigentlich hat man eingesetzt in der Kriegsgefangenschaft. Es waren ja ungefähr 90.000 deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft gegangen, darunter auch viele Offiziere und alle Generäle, bis auf einen, der sich in Stalingrad hatte erschießen lassen, und in der Kriegsgefangenschaft hat sich allmählich ein widerständiges Potenzial herausgebildet, das heißt, eine ganze Reihe von Offizieren haben innerlich mit Hitler gebrochen und haben sich auszudenken versucht, wie ein Deutschland ohne Hitler aussehen könnte. Diese Menschen haben sich zusammengeschlossen im Nationalkomitee Freies Deutschland und im Bund deutscher Offiziere.
Und in der DDR ist man nun den Weg gegangen, diese zum Widerständigen hin gewandelten Wehrmachtoffiziere sozusagen als den ideellen Nukleus der DDR anzusehen, praktisch in den Köpfen dieser Männer sei die Idee eines neuen Deutschland, eines antifaschistischen Deutschland entstanden.
Grieß: Diese Instrumentalisierung, die Sie schildern von beiden Seiten, jenseits und diesseits der geteilten deutschen Grenze, ist das heute zum Ende gekommen, ist diese Instrumentalisierung verblasst?
Wette: Also, nicht verblasst ist, worüber wir noch nicht gesprochen haben, die sowjetische Sicht der Dinge. Denn die ist ja noch mal ganz anders. Die sowjetische Sicht war und ist die, dass die Rote Armee einen großen Sieg über eine ganze deutsche Armee errungen hat, dass die Menschen von Stalingrad ihre Heimatstadt und ihr Vaterland im Großen Vaterländischen Krieg verteidigt haben. Das war die russische Propaganda damals und das ist sie im Grunde bis zum heutigen Tage geblieben. Und die hat ja ihren wahren Kern darin, dass tatsächlich die Deutschen ja die Angreifer waren und die Russen waren die Verteidiger ihrer Heimaterde. Und daher heißt das Denkmal in Wolgograd ja auch Mutter Heimat.
Grieß: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie die Chancen als eher klein einschätzen, dass sich die Erinnerung zum Beispiel der in Russland der Erinnerung in Deutschland annähert?
Wette: Doch, ich sehe da durchaus, ich sehe durchaus einen gemeinsamen Trend. Ungefähr seit Mitte der 90er-Jahre bemühen sich die russischen Kollegen und eine ganze Reihe deutscher Kollegen, sich nicht mehr mit den Generalstabsspielchen herumzuplagen, sondern das Schicksal des einfachen Mannes diesseits und jenseits der Frontlinie zu betrachten. Also, die Feldpostbriefe von Rotarmisten zu studieren und die Feldpostbriefe deutscher Soldaten zu studieren, um kennenzulernen, was in den Köpfen und in den Gefühlen dieser Menschen vorgegangen ist. Also sozusagen Stalingrad von unten betrachtet. Das ist ein neuer Trend in beiden Ländern, und der hält bis zum heutigen Tage an. Man muss ja auch wissen, allein in den letzten 20 Jahren sind noch einmal 170 Bücher über diese Schlacht von Stalingrad entstanden, es bleibt also ein großes Faszinosum des Zweiten Weltkrieges.
Grieß: Wolfram Wette, Militärhistoriker, früher am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg. Wir haben gesprochen über das Erinnern an Stalingrad, Herr Wette, vielen Dank für Ihre Zeit heute!
Wette: Ja, bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.