Archiv


Militärische Aufklärung und Briefe aus Stalingrad

Militärhistoriker Magnus Pahl ergründet, ob und inwiefern falsche Lageeinschätzungen der Militärs zur Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad beitrugen. Christoph Birnbaum hat Feldpostbriefe gesammelt, die deutsche Soldaten während der Schlacht vor 70 Jahren in die Heimat schickten.

Vor Robert Baag |
    Spätsommer 1942. Die "Deutsche Wochenschau" – siegesgewiss:

    "Weiter geht es dem geschlagenen Feinde nach, dem Kaukasus entgegen."

    "Führer befiehl, wir folgen Dir!"

    Stalingrad lautet das Etappenziel der 6. deutschen Armee. Sie trifft auf den erbitterten Widerstand der Roten Armee. Gnadenloser Nahkampf, verbissener Häuserkampf um Kellerräume, Stockwerke, sogar um einzelne Zimmer.

    "Ihr könnt euch nicht vorstellen, was sich hier in Stalingrad tut."

    ... schreibt schon am 1. Oktober der Gefreite Matthias B. von der 100. Jäger-Division nach Hause ...

    "... ich liege fast dauernd im Artilleriebeschuss."

    "Stalingrad ist scheinbar nicht anders zu nehmen, als dass alles zusammengeschossen wird. Die meisten Häuser sind kaputt."

    "Die Erde ist umgewühlt durch Trichter und Einschläge. Die Soldaten graben sich meist nachts in die Erde ein."

    " Ich sag Euch, es ist keine Übertreibung, wenn man sagt: ‘Die Hölle von Stalingrad’. Fürchterlich, ein Gräuel der Verwüstung."


    Auszüge aus einem von geschätzt rund fünf Millionen Soldatenbriefen, die zwischen August 1942 bis Januar 1943 allein aus dem Raum Stalingrad verschickt worden sein sollen.

    "Feldpost-Briefe aus Stalingrad 1942 – 1943": Christoph Birnbaum konzentriert sich in seiner pünktlich zum 70. Jahrestag erschienenen gleichnamigen Arbeit auf ganz spezifische Innensichten einzelner Absender. Ihre Briefe bilden gesamthaft individuelle, psychologische Prozesse ab, wie sie unter extremen, über einen langen Zeitraum lebensbedrohenden Verhältnissen verlaufen. Gewiss: Dieser Forschungsansatz ist nicht grundlegend neu. Birnbaums nicht zuletzt optisch sehr ansprechend aufbereitete Briefe- und Faksimile-Sammlung ordnet aber exemplarisch ergänzend die individuellen Erlebniswelten einiger Stalingrad-Kriegsteilnehmer ein – eingebettet in allgemeine, chronologische, übergeordnete Abläufe. So korrelieren etwa die Bombennächte an der sogenannten "Heimatfront" und die Sorgen der Soldaten um ihre Familien mit dem allmählichen Aus- und Verbluten der im Kessel eingeschlossenen sechsten Armee. Das siegesgewisse, nicht selten überhebliche Pathos in so manchem Soldaten-Brief nur wenige Wochen zuvor ist bald verschwunden:

    "Liebe Eltern und Hilde!
    Steckt Herbert Hochschild eigentlich noch in Stalingrad?
    Wenn ja, so zweifle ich, dass wir ihn noch mal wiedersehen.
    Dieser ganze Kampf gegen Russland ist doch furchtbar."


    ... schreibt – Briefzensur hin oder her - desillusioniert der Infanterist Gerhard Limpach Anfang Februar 1943 von einem anderen Abschnitt der Ostfront. Die Stimmung in den Schützengräben und zu Hause in Deutschland kippt...

    "Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Der Kampf um Stalingrad ist zu Ende. Ihrem Fahneneid getreu ist die Sechste Armee der Übermacht des Feindes und der Ungunst der Verhältnisse erlegen."

    "Ungunst der Verhältnisse?" - "Übermacht des Feindes?" – Bis heute fragen sich viele, wie es zu dieser militärischen Katastrophe hatte kommen können.

    Immerhin: Zum Kerngeschäft jeder Kriegsführung gehört es, den potenziellen Gegner schon lange vor konkreten Kampfhandlungen einzuordnen, sein militärisches Potenzial, seine wirtschaftlichen Fähigkeiten, die Stimmung im Volk und in der Armee der Gegenseite zu erkunden, zu analysieren und zu bewerten, kurz: der eigenen Militärführung ein Lagebild zu liefern, um daraus die eigene Strategie und Taktik zu entwickeln. Im Alltagsdeutsch: "Spionage" und "Gegenspionage" zu betreiben.

    Hatte also im Fall Stalingrad die Feindaufklärung der deutschen Wehrmacht versagt? Trug die von Oberst Reinhard Gehlen geführte Generalstabs-"Abteilung Fremde Heere Ost" mindestens Mitschuld am Stalingrad-Desaster?

    Eine Debatte, die der Dresdner Militärhistoriker Magnus Pahl in seiner jüngst erschienen Monografie "Fremde Heere Ost – Hitlers militärische Feindaufklärung" pointiert zuspitzt:

    "(Gehlen) behauptete (in seinen Memoiren), dass ‘Fremde Heere Ost’ die Absicht der zangenartigen Einkreisung der in Stalingrad stehenden sechsten Armee rechtzeitig erkannt habe. Aber seine Prognose war nicht eindeutig, denn die Abteilung nahm nur allmählich die sowjetischen Angriffsvorbereitungen gegen die rumänischen Verbündeten wahr, welche die südliche Flanke der sechsten Armee verteidigten."

    "57 Grad – Erste Gegenstelle 349 Grad gepeilt ... 341 Grad gepeilt – Verkehrskreis A nicht mehr zu hören ..."

    Erkenntnisse von Fernmeldeaufklärern der deutschen Nachrichtentruppen, die der Gehlen-Abteilung für dessen Feindlage-Bild regelmäßig Inhalte und Aufmarsch-Peilungen abgehörter russischer Funksprüche zugeliefert hatten, waren von den Auswertern Mitte November 1942 offenbar fahrlässig fehlinterpretiert worden. Nicht nur bei der operativen, der Gefechtsfeld-Aufklärung, leistete sich "Fremde Heere Ost" Fehldeutungen. Auch für den Bereich "Strategische Fähigkeiten und Absichten der sowjetischen Streitkräfte" desillusioniert Magnus Pahls Mängelanalyse:

    "Die sowjetischen Verbände tarnten sich meisterhaft.
    Die seit dem Sommer 1941 in zahlreichen gewaltigen ‘Kesselschlachten’ geschlagene und vielfach ausgeblutete Rote Armee hatte sich nicht nur regeneriert, sondern auch strategische Reserven geschaffen, die mit den neuesten Waffen aus den sowjetischen Rüstungsschmieden im Osten der Sowjetunion ausgerüstet wurden."


    Ähnliche Beispiele führt Pahl bis zum Kriegsende 1945 auch für den weiteren Kampfverlauf im Osten an. Spätestens seit dem Fall "Stalingrad" gelte: Ein maßgeblicher Faktor der sich nun häufenden militärischen Misserfolge beruhe auf dem Prinzip des "Teile-und-herrsche", mit dem Hitler eine künstliche Konkurrenz innerhalb der ihn umgebenden Machtstrukturen provozierte, um so echte und vermeintliche Gegner innerhalb der Armee wie auch im Partei- und Sicherheitsapparat zu neutralisieren. Die bewusst geschürten Spannungen und Rivalitäten zwischen Gehlens "Fremde Heere Ost" sowie der "Abwehr", der Militärspionage unter Admiral Canaris, einerseits und dem SD andererseits, dem ebenfalls mit Spionage- und Sabotage befassten Geheimdienst der SS, liefern dafür eindrucksvolle Beispiele:

    "Hitler forderte zwar die umfassende strategische Aufklärung, gab Fremde Heere Ost aber nicht die erforderlichen Mittel an die Hand. Obwohl die Abteilung das Herzstück der Feindaufklärung bildete, gestand die Führung ihr nicht einmal eine eigene Nachrichtenbeschaffung, also Spionage zu. Zu groß war das ideologisch begründete Misstrauen."

    Magnus Pahl beschäftigt sich ausführlich mit der Person des "Fremde Heere Ost"-Chefs Reinhard Gehlen und fügt zu dessen biografischem Hintergrund, dessen militärischer Sozialisation, Vorstellungswelt und Handlungsmotivationen informative, aufschlussreiche Details hinzu:

    "Gehlen vollbrachte das Kunststück, seine Abteilung quasi als letzte intakte Einheit des preußisch-deutschen Generalstabs in die Nachkriegszeit zu überführen. Eine ‘Stunde Null’ gab es für sie nicht. Bereits wenige Wochen nach der Kapitulation klärten sie wieder gegen die Sowjetunion auf, diesmal jedoch für die Amerikaner."

    1956 schließlich hat Gehlen sein Ziel erreicht: Er wird der erste Präsident des Bundesnachrichtendienstes BND, damit Chef der gesamten deutschen Auslandsaufklärung. Doch politisch, menschlich und für nicht wenige auch in fachlicher Hinsicht bleibt Reinhard Gehlen weiterhin umstritten.

    "Fremde Heere Ost" von Magnus Pahl schließt erstaunlich lange bestehende Forschungslücken. Auch wenn die über 450 Seiten zählende Monografie zuweilen auf ein paar redundante Passagen hätte verzichten können und der manchmal trockene, militärterminologische Sprachduktus auf ein beharrliches Publikum vertrauen muss, bleibt festzuhalten: Wer sich für den Spezialaspekt "Militärisches Nachrichtenwesen" interessiert, der wird auch als interessierter Laie in dieser Arbeit viel Neues erfahren und wertvolle weiterführende Hinweise erhalten.

    Magnus Pahl: Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung
    Ch. Links Verlag
    464 Seiten, 49,90 Euro
    ISBN 978-3-86153-694-9

    Christoph Birnbaum: Es ist wie ein Wunder, dass ich noch lebe. Feldpostbriefe aus Stalingrad 1942 - 43
    Edition Lempertz
    224 Seiten, 14,99 Euro
    ISBN: 978-3-93928-438-3